Ordnungspolitischer Gesprächskreis
Das „Kölner Kolloquium" ist ein interdisziplinär zusammen- gesetzter Gesprächskreis. Es geht auf Initiativen von Prof. Dr.
Philipp Herder-Dorneich (For- schungsinstitut für Einkom- menspolitik an der Universität Köln) und Prof. Alexander Schuller (Institut für Sozialme- dizin an der FU Berlin) zurück und wird vom Bundesverband der Deutschen Zahnärzte e. V.
und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung gespon- sert. Die Förderung durch die Zahnärzte ist um so bemer- kenswerter, als das „Kölner Kolloquium" keineswegs spezi- fisch zahnärztliche Probleme aufgreift. Der Gesprächskreis beschäftigt sich vielmehr
grundsätzlich mit dem Gesund- heitswesen als einem Objekt gesellschaftlicher Verände- rungsversuche. Die wissen- schaftliche Behandlung der Thematik ist, das legen schon die Initiatoren nahe, eindeutig ordnungspolitisch orientiert.
Die beiden bisher stattgehab- ten Kolloquien waren fachlich sehr gut besetzt. Die Themen:
„Von der Vorsorge zum Versor- gungsstaat — Prävention und die Grenzen der Planbarkeit"
(am 29. und 30. Januar 1981) sowie „Spontaneität oder Ord- nung — Laienmedizin als Sy- stemveränderung?" (am 26.
und 27. November 1981).
Der Berichtsband über das er- ste Kolloquium ist soeben er- schienen, der über das zweite kommt in Kürze heraus.
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Laienmedizin
West) und — historisch bahnbre- chend — der Bildungspolitik (Stu- dentenbewegung)."
Es wäre allerdings falsch, Laien- medizin mit einer aus der Protest- bewegung entstandenen Alterna- tivmedizin einfach gleichzusetzen.
Die „Protestmedizin" ist nur eine besonders augenfällige Variante.
Laienmedizin umfaßt indes mehr:
Selbstmedikation im herkömmli- chen Sinn, Selbsthilfegruppen neuer Art (etwa die Frauen-Krebs- Gruppen) und alter Art (zum Bei- spiel Anonyme Alkoholiker) und, oft vergessen, aber dennoch exi- stent, die familiäre Hilfe — alles in allem ein großer Kreis, der auch Politiker mit Sinn für gesellschaft- liche Bewegungen zu interessie- ren beginnt. Der Berliner Gesund- heitssenator Ulf Fink beschäftigt die Gesundheitsministerkonfe- renz, deren Vorsitzender er zur Zeit ist, in diesen Wochen damit.
Fink schätzt, daß zwischen 70 000 und 100 000 Bürger in diesem Be- reich tätig sind. Er denkt dabei vornehmlich an die Selbst-
hilfegruppen, die ja nur ein Teil,
wenn auch ein wesentlicher, der Laienbewegung sind. Der Medi- zin-Soziologe Prof. Dr. Christian von Ferber (Düsseldorf) schätzt, daß 3 bis 4 Prozent der Bevölke- rung zur Laienbewegung im wei- ten Sinne zu rechnen sind.
Das Potential dürfte sogar noch größer sein. Darauf läßt das erheb- liche Interesse an der Selbstmedi- kation schließen. In einer Marke- ting-Untersuchung (der „Brigitte"- Frauen-Typologie 5 aus dem Jahre 1981) werden rund 19 Prozent der Frauen dem „Selbstmedikations- typ" zugerechnet. Dieser Typ ver- meide den Arztbesuch, definiert die „Brigitte-Typologie"; er fühle sich durch Zeitschriften, eigene Erfahrungen oder den Apotheker hinreichend informiert, um selbst das richtige rezeptfreie Medika- ment zu bestimmen.
Warum der „Medizinbetrieb"
zur Laienmedizin provoziert Die Laienbewegung ist zum Teil von der praktizierten Medizin, dem
sogenannten Medizinbetrieb, mit verursacht worden. Der Kölner So- zialwissenschaftler Prof. Dr. Phil- ipp Herder-Dorneich sieht in der zunehmenden Bürokratisierung des Medizinbetriebes eine wesent- liche Ursache. Alternativen müß- ten da notwendigerweise entste- hen. Oder von Ferber: Laienmedi- zin komme eine „Ventilfunktion"
zu. Ähnlich der Konstanzer Medi- zinsoziologe Prof. Dr. Horst Baier sowie Alexander Schuller: mit der Laienmedizin werde, wie über- haupt in der „großangelegten Laienbewegung" (Baier), der Aus- bruch aus einem festgefügten Rahmen versucht. Der Ausbruch aus dem Rahmen der Medizin und allgemein der herrschenden Ord- nung hat politisches Gewicht, selbst die „Alternativen", die sich bewußt „unpolitisch" geben, han- deln somit tatsächlich politisch.
Über politische Konsequenzen, die aus der Laienbewegung für die Medizin gezogen werden müssen, dachten die Sozialwissenschaftler des „Kölner Kolloquiums" tief nach, ohne freilich zu einem end- gültigen Ergebnis zu kommen. Die Medizin sei im Augenblick aus zwei Richtungen bedroht, erklärte Herder-Dorneich: von oben, von der auf egalitäre medizinische Dienstleistungen erpichten Staats- bürokratie; von unten, von der ba- sisdemokratischen, hier laienme- dizinischen Bewegung. Beide, ob- wohl einander gegengesetzt, könnten zu Partnern werden, de- ren gemeinsames Opfer die Medi- zin in der gegenwärtigen Form werden könne. Herder-Dorneich plädierte dafür, einem solchen Bündnis entgegenzuwirken und die Laienbewegung zu integrie- ren. Eine Förderung der Laienme- dizin liege geradezu im Interesse der Medizin, denn:
In der Zwickmühle zwischen stei- genden Kosten und der gesamt- staatlichen Unfähigkeit, diese Ko- sten zu finanzieren, werde der Ärz- teschaft schnell die Rolle des Sün- denbocks zugeschoben. Laienme- dizin könne Entlastungsfunktio- nen übernehmen und Aufgaben,
64 Heft 35 vom 3. September 1982 79. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe B