A 2286 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 46|
19. November 2010DIALOGFORUM PLURALISMUS IN DER MEDIZIN
Politische Absicherung des Erreichten
Nach dem Selbstfindungsprozess der vergangenen zehn Jahre soll
nun die Gesundheitspolitik vom Wert der integrativen Medizin überzeugt werden.
A
nlässlich des zehnjährigen Bestehens des „Dialogforums Pluralismus in der Medizin“ sprach sich der Präsident der Bundesärzte- kammer, Prof. Dr. med. Jörg-Diet - rich Hoppe, am 4. November in Berlin für eine bessere Verknüp- fung von schul- und komplementär- medizinischen Ansätzen aus. Medi- zin sei keine reine Naturwissenschaft, sondern „eine Erfahrungswissen- schaft, die sich vieler anderer Wis- senschaften bedient“, führte Hoppe aus. Er kritisierte die „staatliche Veradministrierung von Behand- lungsprozessen“, beispielsweise bei Disease-Management-Programmen (DMP) oder Diagnosis Related Groups (DRGs). Dies sei Folge ei- ner mechanistischen Sichtweise auf das Behandlungsgeschehen mit ei- ner Überbewertung der evidenz - basierten Medizin. Nur etwa 30 bis 35 Prozent der ärztlichen Leistun- gen könnten evidenzbasiert und leitliniengerecht erbracht werden.Beim weitaus größten Teil der ärzt- lichen Leistungen komme es vor allem auf die Expertise des Arztes, auf seine Persönlichkeit, Erfahrung, aber auch auf die Nutzung komple- mentärmedizinischer Verfahren an.
Kritische Überprüfung nötig
„Die Abgrenzung unseriöser und fragwürdiger Therapien ist aber ei- ne Aufgabe, die nur von der Ärzte- schaft geleistet werden kann“, be- tonte Hoppe. Den Vertretern der komplementären Medizin sei be- wusst, dass sie sich einer Überprü- fung zu unterziehen hätten, auch wenn die Methodik nicht immer derjenigen der naturwissenschaft- lich orientierten Universitätsmedi- zin entsprechen müsse.
Nun habe man eine gemeinsame Basis gefunden, sagte Hoppe und will auch in die gesundheitspoliti- sche Diskussion einsteigen. „Wir
müssen die Politik überzeugen, dass die integrative Medizin eine wertvolle Angelegenheit ist“, sagte der Präsident der Bundesärztekam- mer. Noch schwieriger werde es sein, die Krankenkassen dahin zu bringen, entsprechende Leistungen in ihren Leistungskatalog aufzu- nehmen.
„In der Gesundheitspolitik wer- den wir jetzt sicher aktiver werden müssen“, pflichtete ihm Prof. Dr.
med. Stefan N. Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epide- miologie und Gesundheitsökonomie der Charité – Universitätsmedizin Berlin, bei. Vor zehn Jahren habe man bewusst darauf verzichtet. „Wir wollten zunächst den interprofessio- nellen Austausch.“ Nun gehe es aber auch um eine gesundheitspolitische Absicherung des Erreichten, von der Anerkennung des Pluralismus bei den Therapieverfahren bis hin kon- kret zu Erstattungsfragen, Qualitäts- sicherung, europäischer Harmoni- sierung et cetera.
„Als wir vor zehn Jahren mit dem Dialogforum anfingen, hat es an den Hochschulen so gut wie kei- ne Komplementärmedizin gegeben, ganz im Gegenteil – es wurde durchaus sanktioniert, es war ein Tabuthema“, erinnerte Willich. Die medizinischen Fakultäten hätten über viele Jahre ignoriert, dass ver- mutlich circa 50 Prozent aller Pa- tienten komplementärmedizinische Leistungen in Anspruch nehmen würden.
Empathische Zuwendung Hier sei man inzwischen deutlich weiter. An der Charité gebe es nun beispielsweise die Möglichkeit, im Rahmen des neuen Modellstudien- gangs Kenntnisse zur integrativen Medizin zu verankern. Die Medi- zinstudierenden sollten zumindest mit den Argumenten, die dafür und dagegen sprechen, vertraut ge- macht werden. Damit einhergehen müsse eine stärkere Berücksichti- gung der empathischen Zuwen- dung; die Studierenden müssten in der Ausbildung wieder mehr lernen, die Bedürfnisse der Patienten zu erkennen.
„Wir können stolz sein, in den vergangenen zehn Jahren bereits so viel bewirkt zu haben“, bilanzierte Robert Jütte, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert- Bosch-Stiftung in Stuttgart. Er plä- dierte für eine verstärkte Förderung der Forschung zur integrativen Me- dizin. Bedauerlicherweise habe sich der Bund nach einigen hoffnungs- vollen Ansätzen in den 90er Jahren seit langem wieder aus der For- schungsförderung in der Komple- mentärmedizin zurückgezogen. Es gebe kein Interesse der pharmazeu- tischen Industrie, in diesen alterna- tiven Forschungsbereich zu inves-
tieren. ■
Thomas Gerst Seit zehn Jahren bemüht sich das „Dialogforum Pluralis-
mus in der Medizin“, die Kooperation zwischen konventio- neller Medizin und komplementären medizinischen Rich- tungen zu fördern. Das Dialogforum ist ein Zusammen- schluss von ausgewiesenen Ärzten und Wissenschaftlern, die unter Mitwirkung des Präsidenten der Bundesärzte- kammer statt des traditionellen Gegeneinanders ein ver- nünftiges Miteinander unterschiedlicher medizinischer Denk- und Handlungsansätze verfolgen. Die Grabenkämp- fe zwischen der sogenannten Schulmedizin und der soge- nannten Komplementärmedizin sollen zugunsten einer in- tegrativen Medizin überwunden werden.
Dass Pluralismus in der Medizin nicht mit Beliebigkeit im Umgang mit Patienten gleichzusetzen ist, haben die Mitglieder des Dialogforums mit dem kürzlich im Deut- schen Ärzteblatt erschienenen Beitrag „Was ist seriöses Therapieren“ (DÄ, Heft 12/2010) deutlich gemacht.