Deutsches Ärzteblatt
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25. März 2011 A 643STUDIEN IM FOKUS
Antibiotika nahmen der akuten Oti- tis media (AOM) ihren Schrecken und wurden rasch Therapiestan- dard. In den Jahren nach 1980 ver- breitete sich jedoch zunehmend die Ansicht, dass Kinder mit AOM zu- nächst nur beobachtet werden oder initial mit Analgetika und Nasen- tropfen behandelt werden können.
Für die abwartende Strategie liegen andererseits nur wenig überzeugen- de Daten vor (3).
Deshalb wurden in zwei rando- misierten Studien in Finnland und in den USA bei Kindern mit sicher diagnostizierter AOM Wirksamkeit und Verträglichkeit einer sofortigen Behandlung mit Amoxicillin plus Clavulansäure (Co-Amoxiclav) oder Placebo verglichen. In der finni- schen Studie wurden die nach strik- ten Diagnosekriterien ausgewählten Kinder im Alter von 6 bis 35 Mona- ten von Beginn an mit Antibiotika (n = 161) oder Placebo (n = 158) über sieben Tage therapiert. Der primäre Endpunkt Therapieversa- gen trat in der Antibiotikagruppe bei 18,6 % der Kinder und damit signifikant seltener als in der Place- bogruppe mit 44,9 % (p < 0,001) auf. Dieser Unterschied war bereits bei der ersten Nachuntersuchung an Tag 3 (25,3 vs. 13,7 %) deutlich.
Die Antibiotikabehandlung senkte das Risiko eines Therapieversagens um 62 % (Hazard Ratio 0,38;
95-%-KI 0,25 bis 0,59). Die Not- wendigkeit einer Notfalltherapie wurde um 81 % verringert (von 33,5 auf 6,8 %) (1).
Ähnlich waren die Ergebnisse in der amerikanischen Studie, in der ebenfalls nach strikten Diagnose- kriterien ausgewählte Kinder im Al- ter von 6 bis 23 Monaten über 10 Tage mit Co-Amoxiclav (n = 144) oder Placebo (n = 147) behandelt wurden. Ein Therapieversagen war am Ende der Behandlung mit 16 % in der Antibiotikagruppe signifikant seltener als mit 51 % in der Place-
bogruppe (p < 0,001). Schon am Tag 2 besserten sich bei 35 % der Kinder durch die Antibiotikagabe die Symptome, am Tag 7 waren die Symptome bei 80 % gebessert (2).
Wie erwartet, waren in beiden Stu- dien Nebenwirkungen bei den mit Antibiotika behandelten Kindern häufiger, und zwar vor allem Durchfälle und Hautsymptome.
Kinderärzte in Deutschland wa- ren nach Aussage von Prof. Dr.
med. Dr. rer. nat. Dieter Adam, München, mit dem „Wait and see“-Verfahren bei AOM eher zu- rückhaltend. So hat beispielsweise auch die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (DGPI) bei Kindern < 2 Jahren mit einer AOM grundsätzlich eine Antibioti- kagabe empfohlen.
Fazit: Die zitierten Studien belegen nach Meinung von Adam eindeutig, dass bei einer akuten AOM im Kin- desalter die Gabe eines Antibioti- kums wie Co-Amoxiclav gerecht- fertigt ist. „Voraussetzung ist aller- dings, dass sich der behandelnde
Arzt auch ohne mikrobiologischen Erregernachweis diagnostisch vom klinischen Bild her weitgehend si- cher ist, dass es sich höchstwahr- scheinlich um eine AOM mit bakte- rieller Beteiligung handelt.“
Dr. rer. nat. Susanne Heinzl
1. Tähtinen PA et al.: A placebo-controlled trial of antimicrobial treatment for acute otitis media. NEJM 2011; 364: 116–26.
2. Hoberman A et al.: Treatment of acute otitis media in children under 2 years of age.
NEJM 2011; 364: 105–15.
3. Klein JO: Is acute otitis media a treatable disease? NEJM 2011; 364: 168–9.
OTITIS MEDIA
Profitieren Kinder von einer Antibiotikatherapie?
Könnte eine Vitamin-D-Supple- mentierung in jungen Jahren der Entwicklung einer Osteoporose vorbeugen? Die Frage nach dem potenziellen Nutzen der Strategie ist in einer Metaanalyse untersucht worden. Sechs Studien mit insge- samt 884 Teilnehmern (8 bis 17 Jahre), von denen 343 Placebo und 541 Vitamin D (132 IU täglich bis 14 000 IU pro Woche für ein bis zwei Jahre) erhielten, erfüllten die Einschlusskriterien der Metaanaly- se. Die Vitamin-D-Spiegel lagen bei Studienbeginn zwischen 17,7 und 49,5 mmol/l.
Prüfparameter waren die prozentua- le Änderung der Knochenmineral- dichte im gesamten Körper sowie im Unterarm, der Hüfte und der Lendenwirbelsäule. In der Untersu- chung war kein statistisch signifi- kanter Effekt der Vitamin-D-Gabe auf die gesamte Knochenmineral- dichte sowie die Knochenmineral- dichte in Unterarm und Hüfte zu verifizieren. Lediglich im Bereich der Lendenwirbelsäule fand man ei- ne Zunahme.
Die Erhöhung war allerdings sta- tistisch nicht signifikant, sondern bestand nur als Trend (standardi- VITAMIN-D-SUPPLEMENTIERUNG BEI KINDERN
Kaum Einfluss auf die Knochendichte
GRAFIK
Kaplan-Meier-Kurve für die Zeit bis zum Therapieversagen
Patienten mit Therapieversagen (in %)
Studientag
Amoxicillin/Clavulansäure Placebo
modifiziert nach: NEJM 2011; 364: 116–26
M E D I Z I N R E P O R T
A 644 Deutsches Ärzteblatt
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25. März 2011 sierter mittlerer Unterschied 0,15,95-%-KI –0,01 bis 0,31, p = 0,07).
Etwas anders stellte sich die Situa - tion bei Kindern und Jugendlichen mit niedrigem Vitamin-D-Serum- spiegel dar. Bei ihnen war ein si - gnifikanter Effekt auf die gesamte Knochenmineraldichte (p = 0,04) und auch auf die Knochenmineral- dichte in der Hüfte und der Lenden- wirbelsäule festzustellen mit einem Zuwachs von insgesamt 2,6 Prozent sowie 1,7 Prozent in der Lenden- wirbelsäule (p = 0,05).
Fazit: Die Supplementierung von Vitamin D beeinflusst die Knochen- dichte nur bei Kindern und Jugend- lichen mit Vitamin-D-Mangel posi- tiv, vor allem im Bereich der Len-
denwirbelsäule, nicht aber mit nor- malen Vitaminserumwerten, so das Ergebnis der Metaanalyse. Sie trägt nach Meinung von Prof. Dr. med.
Johannes Pfeilschifter (Essen) aller- dings wenig zur Klärung der Frage bei, wann eine Vitamin-D-Supple- mentierung im Kindesalter klinisch relevant ist: Die Vitamindosierun- gen seien so gering, dass die klini- sche Relevanz der erzielten Ände- rung der 25-Hydroxy-Vitamin-D- Konzentration unklar bleibe. Auch wurde nicht das 25-Hydroxy-Vit - amin-D
3 bestimmt, das zur Beurtei- lung der Effektivität wichtig wäre, kommentiert Pfeilschifter. Schließ- lich sei die Fallzahl gering, das Kollektiv in Geschlecht und Stadi- um der Pubertät heterogen. Die Art
der Knochendichtemessung und der Calciumzufuhr hätten sich deshalb in den Studien unterschieden. Diese Faktoren limitierten, erklärte Pfeil- schifter, die Aussagekraft der Stu- die, und es bleibe offen, welche klinische Relevanz geringen Ver - änderungen der Knochendichte bei Vitamin-D-Gabe im Kindesalter zu- komme. Der Mediziner fordert stattdessen großangelegte placebo- kontrollierte Studien im Kindes- wie auch im Erwachsenenalter, bei denen auch Stürze, Frakturen und andere klinisch relevante Endpunk- te erfasst werden. Christine Vetter Winzenberg T et al., „Effects of vitamin D sup- plementation on bone density in healthy chil- dren: systematic review and meta-analysis“.
NEJM 2010, 362; 1575–1585
Bei Patienten, die aufgrund eines Vorhofflimmerns ein erhöhtes Schlaganfallrisiko haben, war bis- lang eine orale Antikoagulation mit Vitamin-K-Antagonisten indiziert, bei Kontraindikationen dagegen Acetylsalicylsäure (ASS). Erstere ist kompliziert, Letztere weniger wirksam. Der direkte und kompeti- tive orale Faktor-Xa-Inhibitor Api- xaban, der nach orthopädischen Operationen venöse Thromboem- bolien verhindern kann, wurde nun in der AVERROES-Studie in einer Dosierung von zweimal täglich
5 mg bei Patienten mit Vorhofflim- mern, bei denen Vitamin-K-Ant - agonisten nicht infrage kamen, ge- gen ASS (81–324 mg/d) getestet. In 522 Zentren in 36 Ländern wurden insgesamt 5 599 Patienten im Alter von mindestens 50 Jahren rando - misiert. Primärer Endpunkt der Stu- die, die von den beiden Herstellern Bristol-Myers-Squibb und Pfizer fi- nanziert wurde, waren Schlaganfäl- le oder systemische Embolien.
Nach einer mittleren Beobach- tungszeit von 1,1 Jahren wurde die Studie vorzeitig beendet, weil sich eine deutliche Überlegenheit von Apixaban abzeichnete: Damit gab es 51 primäre Endpunkte (1,6 % pro Jahr), unter ASS 113 (3,7 % pro Jahr; Hazard Ratio 0,45; 95-%-KI 0,32 bis 0,62; p < 0,001).
Eine Erniedrigung der Mortalität unter Apixaban verfehlte knapp die statistische Signifikanz (3,5 % vs.
4,4 % pro Jahr, HR 0,79, 95-%-KI 0,62 bis 1,02; p = 0,07). Bei größe- ren Blutungskomplikationen (1,4 % vs. 1,2 % pro Jahr, HR 1,13;
p = 0,57) unterschieden sich beide Arme ebenso wenig wie bei intra - kraniellen Blutungen (11 vs. 13 Fäl- le). Stationäre Aufnahmen wegen kardiovaskulärer Ereignisse waren
unter Apixaban seltener (12,6 % vs.
15,9 % pro Jahr; p < 0,001). Für alle relevanten Subgruppen ergaben sich im Wesentlichen ähnliche Re- sultate.
Fazit: Bei Patienten mit Vorhofflim- mern, die sich nicht für die Einnah- me von Vitamin-K-Antagonisten eignen, ist das Risiko für Schlagan- fälle und systemische Embolien un- ter Apixaban gegenüber ASS mehr als halbiert, ohne dass man dafür mehr schwere Blutungskomplika- tionen oder Hirnblutungen in Kauf nehmen muss. Prof. Dr. med. Gün- ter Breithardt (Münster) sieht die Thromboembolieprophylaxe gene- rell an einem Wendepunkt ange- kommen – auch wegen der Studien zu Dabigatran und Rivaroxaban.
Speziell die AVERROES-Resultate sollten seiner Meinung nach ASS bei jenen Patienten, die keinen Vit amin -K-Antagonisten vertragen oder solche Substanzen nicht ein- nehmen wollen, obsolet machen.
Sobald Apixaban zur Verfügung stehe, müsse man diesen Patienten im Rahmen eines Aufklärungs - gesprächs die Überlegenheit der Substanz gegenüber ASS erläutern.
Kostenaspekte sollten im Einzelfall keine Rolle spielen. Josef Gulden Connolly SJ et al.: Apixaban in patients with atrial fibrillation. NEJM 2011; vorab online doi:
10.1056/NEJMMoa1007432.
KARDIOEMBOLISCHER SCHLAGANFALL
Faktor-Xa-Inhibitor reduziert Risiko stärker als Aspirin
GRAFIK
Kumulatives Risiko
Schlaganfall oder systemische Embolie während Therapie mit ASS oder Apixaban
Studienzeit (in Monaten) Hazard Ratio mit Apixaban 0,45 (95-%-KI 0,32 bis 0,62)
modifiziert nach: NEJM 2011; vorab online doi: 10.1056/NEJMMoa1007432