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Archiv "Memorandum: Genetisches Screening" (22.06.1992)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Memorandum:

Genetisches Screening

Erstes Beratungsergebnis des Ständigen Arbeitskreises

„Biomedizinische Ethik und Technologiefolgenabschätzung" beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer

Vorwort

Genetische Beratung ist ein spezielles, indivi- duelles Untersuchungs- und Informationsangebot für Personen, die eine genetisch bedingte Erkran- kung, Behinderung oder ein genetisch bedingtes Risiko befürchten. Dieses traditionelle Bera- tungskonzept kann auf Grund der Zunahme des Bedarfes — insbesondere im Bereich der pränata- len Diagnostik für Frauen über 35 Jahre — infol- ge der zu geringen Zahl medizinischer Genetiker kaum noch gewährleistet werden. Eine Verschär- fung dieser Situation zeichnet sich durch die Ein- führung molekulargenetischer Verfahren für den Nachweis genetischer Risikofaktoren ab.

Auf Empfehlung der Zentralen Kommission be- fürwortete der Vorstand der Bundesärztekammer die Bearbeitung dieser drängenden Probleme durch eine Expertenkommission.

Neben der Beschreibung der aktuellen Situati- on im Bereich der genetischen Beratung, werden Vorschläge zur Sicherstellung der aus den oben- genannten Gründen zunehmend benötigten hu- mangenetischen Untersuchungs- und Beratungs- kapazität vorgelegt.

(Dr. med. Karsten Vilmar)

Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages

Auch zukünftig ist es Aufgabe der Ärzteschaft, den wissenschaftlichen und biotechnischen Fort- schritt auf dem Gebiet der Medizin, insbesondere aber die sich daraus entwickelnden diagnosti- schen und therapeutischen Möglichkeiten beob- achtend zu begleiten, um die damit verknüpften sachlichen und ethischen Fragen oder Folgela- sten abzuklären und Empfehlungen oder Rege- lungsvorschläge zu formulieren.

Nachdem sich die „Zentrale Kommission der Bundesärztekammer zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Reproduktionsmedizin, For- schung an menschlichen Embryonen und Genthe- rapie" im Juni 1991 aufgelöst hat, da mit dem In- krafttreten des Embryonenschutzgesetzes am 1.

Januar 1991 die Mehrzahl ihrer Aufgaben als In- strument einer berufsständischen Selbstkontrolle auf dem Gebiet der Reproduktionsmedizin entfal- len sind, hat der Vorstand der Bundesärztekam- mer die Einsetzung eines Ständigen Arbeitskrei- ses „Biomedizinische Ethik und Technologiefol- genabschätzung" beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer beschlossen, der sich Anfang März 1992 konstituierte und seine Bera- tungen aufnahm

/

(Prof. Dr. med. Hanns P. Wolff) Vorsitzender des

Ständigen Arbeitskreises

1. Begriffsbestimmung

Unter genetischem Screening ver- steht man Untersuchungen auf krank- heitsbedingende Erbanlagen auf Be- völkerungsebene beziehungsweise in bestimmten Bevölkerungsgruppen.

2. Personenkreis

Der Kreis der zu untersuchenden Personen unterscheidet sich von der Klientel traditioneller humangene-

tischer Diagnostik. Bei letzterer han- delt es sich um Menschen, die wegen einer spezifischen, meist familien- oder eigenanamnestisch aufgetretenen Erb- krankheit von einem erhöhten Risiko für sich oder ihre Nachkommen ausge- hen. Die Klientel genetischen Scree- nings trägt hingegen durchschnittliche Risiken für das zu untersuchende Merkmal. Während also die Klientel traditioneller genetischer Beratung zu- meist Vorwissen und Vorerfahrungen mit einer spezifischen Erkrankung hat, muß die Klientel genetischen Scree-

nings solche Informationen erst durch Dritte erhalten.

Unterschieden werden muß ferner zwischen einem Genträger-Screening (zum Beispiel in der Erwachsenenbe- völkerung) und einem pränatalen Screening. Im ersten Fall könnte es sich sowohl um Erbanlagen handeln, die sich bei der betroffenen Person noch nicht manifestiert haben (zum Beispiel atherosklerose-disponierende Anlagen) oder gar nicht manifestieren (zum Beispiel weil der Träger nur hete- rozygot für die einem rezessiven Erb-

Dt. Ärztebl. 89, Heft 25/26, 22. Juni 1992 (77) Al-2317

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gang folgende Zystische Fibrose ist), je- doch zu Erkrankungen bei den Nach- kommen führen können. Beim pränata- len Screening untersucht man gezielt, ob das erwartete Kind von einer bestimm- ten Krankheit betroffen sein wird. Anzu- merken ist hier, daß Screening-Verfah- ren mit der Zielsetzung, genetisch be- dingte Störungen zu erkennen, auch auf Phänotyp-Ebene möglich sind und sich zum Teil bereits „eingebürgert" haben (zum Beispiel Blutfettbestimmungen, pränatale Sonographie).

3. Epidemiologie

Zwischen zwei und vier Prozent al- ler Neugeborenen kommen mit einer an- geborenen gesundheitlichen Störung zur Welt. Etwa 0,5 Prozent aller Neu- geborenen haben ein chromasomal, 1,3 Prozent ein monogen (durch ein Einzel- gen) bedingtes Erbleiden, der Rest ver- teilt sich auf polygen beziehungsweise multifaktoriell (durch das Zusammen- wirken mehrerer Gene oder durch Erbe und Umwelt) entstandene Krankheiten und solche, bei denen erbliche Faktoren nicht zu ermitteln sind.

Viele erbliche Krankheiten äußern sich erst im Erwachsenenalter; das gilt sowohl für monogen bedingte (zum Bei- spiel Chorea Huntington) als auch für in der Regel polygen und multifaktoriell bedingte (zum Beispiel Atherosklerose, Krebs, Schizophrenie) Störungen.

Man kennt heute rund 5000 Erb- krankheiten, für deren Zustandekom- men spezifische Veränderungen (Mu- tationen) in Einzelgenen als ursächlich anzunehmen sind. Bei derzeit rund 150 Krankheiten können diese Mutationen mit direkten Methoden in der DNA der Probanden nachgewiesen werden.

Nur solche Erbveränderungen sind ei- nem Screening zugänglich. Die Zahl von Erbkrankheiten, die mit direkten Methoden nachweisbar sind, wächst je- doch stetig. Gerade in letzter Zeit ha- ben methodische Entwicklungen (Poly- merase-Ketten-Reaktion, automati- sches DNA-Sequenzieren) Grundla- genforschung und medizinische An- wendung erheblich vereinfacht. Schon heute sind die häufigsten rezessiven Erbleiden direkt auf der Stufe der DNA diagnostizierbar: Zystische Fi- brose, a-1-Antitrypsin-Mangel, Phenyl- ketonurie, Hämoglobinopathien, Hä- mophilie sowie bestimmte Formen der Muskeldystrophie, der Osteogenesis imperfecta, der Fettstoffwechselstö- rungen und andere. Es ist aber eher die Regel als die Ausnahme, daß monogen bedingte Erkrankungen bei Patienten

auf unterschiedlichen Mutationen be- ruhen (molekulare Heterogenität). Bei den genannten Erkrankungen sind aber noch nicht alle derartigen Muta- tionen bekannt beziehungsweise direkt untersuchbar (Anteil je nach Erkran- kung etwa 10 bis 80 Prozent). Deshalb ist in manchen Fällen eine Genträger- schaft nicht sicher auszuschließen;

„falsch positive" Ergebnisse sind hinge- gen praktisch nicht zu befürchten. Es ist damit zu rechnen, daß der Anteil der diagnostizierbaren Mutationen ste- tig zunehmen wird. Insbesondere kann davon ausgegangen werden, daß sich die durch molekulare Heterogenität bedingten „logistischen" Probleme mit automatischen DNA-Sequenzierungs- Techniken, die in naher Zukunft einen festen Platz im Diagnoselabor einneh- men werden, praktisch auch in größe- rem Maßstab lösen lassen werden.

Diagnostizierbare Mutationen sind im Prinzip sowohl pränatal als auch postnatal, das heißt präklinisch im Rahmen einer sogenannten prädikti- ven Diagnostik sowie bei klinisch

„stummen" Erbträgern erfaßbar. Die Gesamthäufigkeit aller heute direkt nachweisbaren Mutationen und damit auch der für ein genetisches pränatales Screening grundsätzlich geeigneten Erbkrankheiten entspricht etwa der Wahrscheinlichkeit für eine 35jährige Frau, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen, dessentwegen schon seit Jahren de facto ein genetisches Scree- ning stattfindet (gegenwärtig beteiligen sich in Deutschland etwa 50 Prozent al- ler Schwangeren im Alter ab 35 Jahren an diesem Screening). Diskutiert wird zur Zeit ein Genträger-Screening für das CF-Gen (Zystische Fibrose, Muko- viszidose, eine autosomal-rezessiv ver- erbte Krankheit mit einer Häufigkeit heterozygoter Genträger von etwa fünf Prozent). Weltweit sind bereits Pilot- projekte im Gange, die Akzeptanz, So- zialverträglichkeit und Durchführbar- keit einschließlich „flankierender", das heißt insbesondere beraterischer Maß- nahmen erforschen sollen.

4. Prinzipien

Genetischer Beratung

Nach einhelliger Meinung human- genetisch tätiger Ärzte sollte jede me- dizinisch-genetische Diagnostik mit ei- ner angemessenen genetischen Bera- tung verbunden sein. Diese Auffassung hat sich aus den Erfahrungen heraus entwickelt, die im traditionellen Set- ting „humangenetischer Arzt — Klient

mit erhöhtem genetischen Risiko" ge- wonnen wurden. Dieses Memorandum tritt dafür ein, daß diese Konzeption auch bei einem etwaigen Angebot für genetische Untersuchungen bei Perso- nen mit durchschnittlichen Risiken für die zu testende Krankheitsanlage gel- ten und weiterentwickelt werden muß.

Genetische Beratung wird definiert als ein ärztliches Angebot an alle, die eine genetisch bedingte Erkrankung, Behinderung oder ein genetisch be- dingtes Risiko für sich oder ihre Nach- kommen befürchten. Sie ist also ein spezielles, individuelles Beratungs-, Untersuchungs- und Informationsange- bot für bestimmte Problemsituationen, das auf eigene Initiative oder Anre- gung des betreuenden Arztes als kas- senärztliche Leistung — erbracht durch einen speziell qualifizierten Arzt

— in Anspruch genommen werden kann. Die mit dem Tendenzbeschluß des 94. Deutschen Ärztetages in Aus- sicht gestellte Einführung einer Ge- bietsbezeichnung „Humangenetik"

könnte diese Qualifikation sichern.

Durch den Einsatz gezielter Anamnese und Diagnostik versucht der Arzt, zu einer möglichst genauen Aussage über eine Diagnose, die Ätiologie einer Er- krankung und eventuelle Erkrankungs- risiken zu kommen, auf deren Grundla- ge die Ratsuchenden weitere Entschei- dungen treffen können.

Das traditionelle Setting ist also das eines fachlich kompetenten Arztes, der nach Überweisung durch einen Kolle- gen mit einer ratsuchenden Person, ei- nem Paar oder einer Familie zusam- menkommt, um deren anstehende Fra- gen und Probleme zu klären. Zentraler Bestandteil genetischer Beratung ist deshalb das Beratungsgespräch. Dieser Umstand hat im Laufe der Zeit zu ei- ner immer stärkeren Betonung der kommunikativen Aspekte genetischer Beratung und deren Bedeutung für Ausbildung und Praxis geführt und macht sie deshalb zu einer außeror- dentlich zeit- und personalaufwendi- gen ärztlichen Tätigkeit (in der Regel wird ein etwa einstündiges Gespräch geführt; oft sind mehrere Sitzungen er- forderlich). Der untrennbare Zusam- menhang mit spezifisch medizinischen Leistungen und deren Interpretation erlaubt jedoch keine Ausgliederung aus dem Verantwortungsbereich des Arztes, so daß die in der Vergangen- heit erfolgte, konsequente Medikalisie- rung der angewandten Humangenetik auch als sinnvoll angesehen werden kann. Das schloß und schließt jedoch nicht aus, daß Ärzte und Nicht-Ärzte in diesem Bereich zusammenarbeiten.

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5. Aktuelle Kapazitäts- probleme in der Genetischen Beratung

Die weitaus meisten genetischen Beratungen werden gegenwärtig in hu- mangenetischen Instituten sowie eini- gen Kliniken und nur in wenigen Pra- xen niedergelassener Ärzte durchge- führt. So kann also in der Regel ein umfassendes Konzept genetischer Be- ratung verwirklicht werden, welches nur unter geringem wirtschaftlichen oder Kapazitätsdruck steht. In vielen genetischen Beratungsstellen gilt dies jedoch heute nur für genetische Bera- tung ohne unmittelbaren Zusammen- hang mit „pränataler Diagnostik aus Altersgründen". Im letzteren Bereich hat sich der traditionelle Ablauf von genetischer Beratung und Diagnostik nicht durchgesetzt. Die zentrale Be- deutung von Beratung vor Diagnostik ist hier von vornherein nicht erkannt worden, sondern es haben sich Labora- torien entwickelt, die Diagnostik ohne Beratung anbieten. Heute ist der Arzt (Gynäkologe) rechtlich gezwungen, ei- nen bestimmten Personenkreis über die Möglichkeit genetischer Beratung und Diagnostik zu informieren (siehe auch Richtlinien der Bundesärztekam-

6. Verschärfung von Kapazitätsproblemen in der Genetischen Beratung durch Neueinführung genetischer Tests

Es ist zu befürchten, daß sich diese Mängel in allen Bereichen fortsetzen, in denen Testverfahren zur Abklärung genetischer Risiken zur Verfügung ste- hen, und das um so eher, je leichter und breiter sie eingesetzt werden kön- nen. Dies gilt in besonderer Weise für molekulargenetische Diagnoseverfah- ren. Eine solche Praxis zuzulassen, wä- re insofern unärztlich, als zu erwarten ist, daß die Testpersonen dann in der Regel uninformiert sind, aber unter Entscheidungsdruck gesetzt werden und sich bereits ohne die unter Um- ständen weitreichenden Konsequenzen bedenken zu können, für die Durch- führung einer genetischer Diagnostik aussprechen. Die Erfahrungen mit dem sogenannten Alpha-Feto-Protein-S- creening oder dem Screening bei Neu- geborenen auf Muskeldystrophie Du- chenne lehren, daß derartige Untersu- chungen, sobald labortechnisch die Möglichkeit dazu gegeben ist, von den behandelnden Ärzten den Patienten

mer Dt. Ärztebl. 84 (1987) A-572-574);

insbesonders ist für die älteren Frauen (über 35 Jahre) jetzt eine Screeningsi- tuation gegeben. Der Arzt muß mit ei- nem bestimmten Angebot medizini- scher Beratung und Diagnostik auf sie zukommen, die Schwangeren können sich der Information über dieses Ange- bot nicht mehr entziehen. Die hier- durch bedingte zwangsläufige Zunah- me des Bedarfs an Diagnostik und kon- sequenterweise auch an genetischer Beratung läßt infolge Mangels an aus- gebildeten medizinischen Genetikern die konsequente Entwicklung des tra- ditionellen Beratungskonzeptes auch für diese Personengruppe utopisch er- scheinen. Darüber hinaus lehrt die Pra- xis, daß schon jetzt, trotz vielfältiger Bemühungen und Verlautbarungen (Stellungnahme des Berufsverbandes

„Medizinische Genetik", Abschlußbe- richt des Arbeitskreises „Ethische und soziale Aspekte" usw., Kommission

„Genomanalyse" — alle nach der En- quete-Kommission des Bundestages 1987), die meisten Pränataldiagnosen bei erhöhtem Alter der Schwangeren ohne kompetente genetische Beratung im Sinne der geforderten Trias Beratung

— Diagnostik — Beratung durchgeführt werden (69 Prozent im Jahr 1988).

angeboten und von ihnen auch dann angenommen werden, wenn die Kosten der Untersuchung selbst getragen wer- den müssen. Es ist zu erwarten, daß sich das Angebot genetischer, insbe- sondere molekulargenetischer Unter- suchungen ausweiten wird, ohne daß der notwendige Rahmen gesichert ist.

Der zu fordernde Minimalrahmen muß humangenetisches Fachwissen sowohl in der Beratung als auch in der Labor- diagnostik sicherstellen.

Ein angesichts dieser Situation zu erwägendes Verbot derartiger Unter- suchungen erscheint insofern illuso- risch, als sich die entsprechenden Fest- legungen — auf welcher Ebene auch immer (Regelung durch Ärztekam- mern, Gebührenordnungen, Gesetze)

— nur auf die Bundesrepublik Deutschland erstrecken können, die Untersuchungen aber ohne Schwierig- keiten über Laboratorien nicht nur im benachbarten Ausland, sondern auch in den USA abzuwickeln wären. Da es außer der Frage nach der Ressourcen- verteilung (für deren Diskussion inner- halb dieses Memorandums nicht aus- reichend Platz eingeräumt werden konnte) keine Argumente gibt, mit de- nen man einer Person nach ausreichen- der Information und Beratung die frei-

willige Untersuchung der eigenen ge- netischen Konstitution verweigern könnte, kann der einzelne Arzt die Durchführung eines solchen Tests im Einzelfall nicht ablehnen. Es steht zu er- warten, daß die Zahl gewünschter Un- tersuchungen in den nächsten Jahren dramatisch ansteigt. Parallel zur Aus- weitung der technischen Möglichkeiten für molekulargenetische Diagnostik breitet sich die Kenntnis hiervon in der Bevölkerung aus. Weiterhin könnten diejenigen Arzte, die Schwangere be- treuen, durch die Jurisdiktion dazu ge- zwungen werden, über die Möglichkei- ten molekulargenetischer Diagnostik auch dann aufzuklären, wenn ein spezi- fisches Risiko nicht besteht.

7. Präkonzeptionelles versus postkonzeptionelles Screening

Präkonzeptionelles Screening be- deutet, daß ein generelles Beratungs- und Untersuchungsangebot an jede Person, unabhängig vom Bestehen ei- ner Schwangerschaft ergeht, während beim postkonzeptionellen Screening dieses Angebot erstmalig einer schwan- geren Frau gemacht wird. Die Vorteile eines präkonzeptionellen gegenüber ei- nem postkonzeptionellen Screening bestehen darin, daß die Entscheidung über Inanspruchnahme oder Nichtin- anspruchnahme unbelastet von zeitli- chem oder emotionalem Druck und ge- gebenenfalls ohne unmittelbaren Zu- sammenhang mit der Familienplanung getroffen werden kann, daß nach ei- nem Untersuchungsergebnis eine grö- ßere Auswahl von Handlungsoptionen und mehr Zeit für eine Entscheidung zur Verfügung stehen, daß ein struktu- reller Nichtzusammenhang mit der Pränataldiagnostik geschaffen wird, und daß die Entscheidungslast gerech- ter verteilt und nicht (wieder einmal) in erster Linie der weiblichen Bevölke- rung auferlegt wird.

Der Nachteil des präkonzeptionel- len gegenüber dem postkonzeptionel- len Screening besteht darin, daß das in Frage kommende Klientel sehr groß (potentiell die gesamte erwachsene Be- völkerung) und eine gerechte Informa- tions- und Beratungsstruktur schwieri- ger zu etablieren sind. Wollte man da- gegen eine möglichst vollständige Er- fassung aller Schwangerschaften mit ei- nem erhöhten genetischen Risiko an- streben, um im Sinne einer „sekundä- ren Prävention" mittels Schwanger- schaftsabbruch die Geburt von Kin-

Dt. Ärztebl. 89, Heft 25/26, 22. Juni 1992 (81) A1-2321

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dern mit genetisch bedingten Erkran- kungen zu verhindern, so müßte man als weiteren Nachteil des präkonzep- tionellen Screenings die sehr wahr- scheinlich unvollständigere Erfassung benennen. In diesem Zusammenhang stellt sich jedoch die Frage, ob sich die Ärzteschaft eine solche möglichst voll- ständige Erfassung überhaupt als Ziel setzen soll, und ob nicht vielmehr ein dann eventuell einsetzender Automa- tismus: Information über genetische Risiken — Inanspruchnahme von Dia- gnostik — Pränatale Diagnostik — Schwangerschaftsabbruch zu befürch- ten ist. Die Frage nach der Zielsetzung beim Einsatz genetischer Diagnostik muß im allgemeinen wie im besonde- ren Fall diskutiert und beantwortet werden.

8. Lösungsmöglichkeiten

Da jede prädiktive molekulargeneti- sche Diagnostik nicht ohne eine ange- messene Beratung angeboten werden sollte, würde eine solche Entwicklung al- so zwangsläufig einen Bedarf nicht nur an Labor-, sondern auch an Beratungs- kapazität nach sich ziehen, wie er heute bei weitem nicht verfügbar ist. Verschie- dene Konzepte sind denkbar, um einer solchen Situation zu begegnen.

8.1 (Molekular) genetische Diagnostik wird auf Personen und Familien beschränkt, die mit einer bestimm- ten Erkrankung oder Behinderung belastet sind.

Dieses Konzept beinhaltet, daß ge- netische Beratung und Diagnostik nur Personen und Familien angeboten wird, die mit einer bestimmten erbli- chen Erkrankung oder dem entspre- chenden genetischen Risiko — be- kannt durch das ein- oder mehrmalige Auftreten der Erkrankung bei einem nahen Angehörigen — belastet sind.

„Normale" Risiken, („Basisrisiken"), wie sie für den Großteil der Bevölke- rung zutreffen, werden nicht weiter ab- geklärt. Ohne eine entsprechende Be- lastung bestünde dann weder für den Arzt eine Verpflichtung, genetische Beratung beziehungsweise Diagnostik anzubieten oder durchzuführen, noch für potentielle Ratsuchende oder Test- personen ein Anspruch auf diese Lei- stungen. Die Durchführung molekular- genetischer „Screeninguntersuchun- gen" wäre bei diesem Konzept ausge- schlossen. Unter dieser Voraussetzung ließe sich zwar das bisherige Paradigma

und Konzept genetischer Beratung auf- rechterhalten, angesichts der oben an- geführten Überlegungen ist dieses Konzept aber als unrealistisch zu be- werten; es dürfte auch juristischer Kri- tik nicht standhalten.

8.2 (Molekular) genetische Diagnostik steht allen Personen oder Familien aus Gruppen mit erhöhten geneti- schen Risiken zur Verfügung.

Bei diesem Konzept definieren Pa- rameter, wie zum Beispiel Alter, Ver- wandtschaft mit dem Partner oder eth- nische Zugehörigkeit zu Bevölkerungs- gruppen, die — bedingt durch die ge- nannten Besonderheiten — ein erhöh- tes genetisches Risiko haben und des- halb das Recht auf Hilfeleistung im Sinne des ärztlichen Heilauftrages und damit auch auf Zugang zur genetischen Beratung und Diagnostik erhalten.

Dieses Konzept wird gegenwärtig schon mit der sogenannten „Altersindi- kation" für die pränatale Diagnostik von Chromosomenaberrationen prakti- ziert. Daß eine Begrenzung der präna- talen Chromosomenaberrationen auf ältere Frauen sich nicht strikt aufrecht- erhalten läßt, sollen einige Schlagworte erhellen: Jedes (Informations-)angebot führt zu einer Spirale aus Forderun- gen, Kapazitätenerweiterung und da- mit größerem Angebot; durch Einfüh- rung zusätzlicher diagnostischer Para- meter (zum Beispiel MSAFP = Mater- nal Serum Alpha-Feto-Protein) wird ein neues, nicht altersbegrenztes Klien- tel rekrutiert; die Patientenautonomie würde durch Ausschluß der Gruppe jüngerer Frauen eingeschränkt. Das verhältnismäßig große Klientel und die Unmöglichkeit, es strikt zu begrenzen, haben dazu geführt, daß das klassische Konzept genetischer Beratung, welches eine autonome „qualifizierte Zustim- mung oder Ablehnung" durch die Kli- enten ermöglichen soll, nicht eingehal- ten wird.

Eine solche Praxis, die letztlich die Last der genetischen Beratung auf hierfür in der Regel nicht vorbereitete Ärzte und die Last der Entscheidungen mit ihren weitreichenden Konsequen- zen auf die in gleicher Weise nicht vor- bereiteten Patienten und Klienten ver- teilt, würde vielleicht formalen „infor- med consent"-Kriterien genügen kön- nen, jedoch einer ungehinderten Aus- breitung gegebenenfalls unqualifiziert angewandter Testverfahren Vorschub leisten, voraussichtlich lediglich gelei- tet durch ökonomische Überlegungen.

Ein solches Konzept würde die Proble- me allerdings nur auf die Zeit nach

breiter Einführung von Testverfahren verschieben, Probleme, die dann sicht- bar werden, wenn sich deren soziale Sprengkraft erwiesen hat und wenn der Bedarf an individueller, fachlich kom- petenter Beratung sprunghaft ansteigt.

Die anderen oben genannten Para- meter, die ein überdurchschnittliches Erkrankungsrisiko für Nachkommen bedingen, wie Verwandtschaft von Partnern oder eine bestimmte ethni- sche oder geographische Herkunft mit bekanntermaßen erhöhter Häufigkeit von Krankheitsgenen, sind für die mo- lekulargenetische Diagnostik relevant.

Auch hier läßt sich jedoch eine Be- grenzung nicht strikt einhalten, zumal es keine Kriterien gibt, nach denen Ri- sikogrenzen definiert werden können.

8.3 (Molekular) genetische Diagnostik steht allen Personen nach qualifi- zierter Beratung auf der Grundla- ge einer individuellen Entschei- dung zur Verfügung.

Dieses Konzept betont die Autonomie des Klienten. Sie erkennt an, daß Ent- scheidungen, die in diesem Bereich ge- fällt werden, multifaktoriell determi- niert sind, wenn auch die medizini- schen Anteile überwiegen. Sie ent- spricht einem Trend, der sich derzeit auch in anderen europäischen Ländern entwickelt. Das Konzept erfordert je- doch eine beträchtliche Ausweitung der Beratungskapazitäten und macht neue Überlegungen im Hinblick auf die Aufgaben des Arztes und die Koopera- tion mit nichtärztlichen Fachleuten er- forderlich.

Kompetent für die Durchführung genetischer Beratungen sind derzeit die genetischen Beratungsstellen an humangenetischen Instituten, geneti- sche Beratungsstellen in anderer Trä- gerschaft sowie niedergelassene Ärzte mit der Zusatzbezeichnung „Medizini- sche Genetik". Diese Gesamtkapazität ist mit den laufenden Anforderungen genetischer Beratung voll ausgelastet.

Die Niederlassung von Ärzten mit ent- sprechender Weiterbildung („Medizi- nische Genetik", gegebenenfalls Ge- bietsbezeichnung „Humangenetik") ist in der notwendigen Zahl auf absehbare Zeit nicht zu erwarten, da sich nicht ge- nügend Kollegen in der Weiterbildung befinden und zu wenig Weiterbildungs- stellen an den hierzu ermächtigten In- stitutionen eingerichtet sind. Hierzu hätte eine Gebietsbezeichnung „Hu- mangenetik" sehr viel früher einge- führt werden müssen. Ein Ausbau ge- netischer Beratungsstellen auf ein Viel- faches der gegenwärtigen Kapazität wä-

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re deshalb notwendig, erscheint aber we- der kurz- noch langfristig möglich.

Die Einbeziehung anderer niederge- lassener Ärzte in Teilbereiche der gene- tischen Beratung ist ein Konzept, wel- ches sorgfältig geprüft werden muß und durch verstärkte Fort- und Weiterbil- dung gefördert werden sollte. Es steht je- doch zu befürchten, daß sich angesichts der zunehmenden Spezialisierung, der Aufwendigkeit der erforderlichen Bera- tungen sowie des geringen Kenntnis- standes infolge unzureichender Veran- kerung des Faches Humangenetik im Medizinunterricht dieses Konzept allein nicht ausreichen wird.

Es ergibt sich die Notwendigkeit für neue Überlegungen hinsichtlich der Art und Weise der Informationsver- mittlung und Beratung in diesem Be- reich, wobei eine optimale Ausweitung der Kapazität bestehender genetischer Beratungsstellen nur ein erster Schritt sein könnte.

Schon im klassischen Konzept gene- tischer Beratung zeigte sich, daß Teile der Beratung durchaus an Psychologen oder Sozialarbeiter delegierbar sind.

Darüber hinaus wäre es denkbar, die Kooperation mit nichtmedizinischen Berufsgruppen zu verstärken und aus diesen Gruppen genetische Berater(in- nen) zu gewinnen, die unter ärztlicher Leitung einen Teil der Informations- und Beratungsarbeit leisten könnten.

Voraussetzung wäre eine entsprechen- de Aus- und Weiterbildungsstruktur für potentielle Interessenten, die sich aus dem Kreis der Absolventen biologi- scher oder humanwissenschaftlicher Studiengänge an (Fach)hochschulen zusammensetzen könnten. Es ist jetzt schon gut vorstellbar, daß entsprechen- de multidisziplinäre Arbeitsgruppen an den existierenden genetischen Bera- tungsstellen gebildet werden. Deren Hauptaufgabengebiet läge zunächst bei den Beratungen im Zusammenhang mit sowohl der Heterozygotendiagno- stik als auch der pränatalen Diagno- stik. Ob sich ein solches Modell auch in der Praxis niedergelassener medizini- scher Genetiker bewähren würde, muß vorläufig offenbleiben.

9. Laborsituation

Die Laborkapazität für molekular- genetische Untersuchungen auf dem Gebiet der medizinischen Genetik ist derzeit noch deutlicher als die Bera- tungskapazität auf humangenetische Institute an Universitäten beschränkt.

Dies liegt zum einen daran, daß die molekulargenetische Diagnostik relativ

jung ist im Vergleich zur zytogeneti- schen Diagnostik, für die es bereits eine größere Anzahl Labors niedergelasse- ner Ärzte gibt. Zum anderen sind es in vielen humangenetischen Instituten Na- turwissenschaftler (Biologen), die das molekulargenetische Labor leiten und wegen ihrer Ausbildung (als Nicht-Ärz- te) an die Universität gebunden bleiben.

Bei steigender Nachfrage droht deshalb die Etablierung derartiger Laboratorien ohne humangenetisches Fachwissen, ge- gebenenfalls auch durch Nicht-Ärzte und im Ausland.

Wie schnell sich aus den humange- netischen Instituten heraus Ärzte mit den notwendigen humangenetischen Fachkenntnissen niederlassen und die entsprechenden Leistungen anbieten könnten, läßt sich derzeit noch sehr schwer abschätzen. Technisch sind die Leistungen der molekulargenetischen Diagnostik in der Humangenetik nicht grundsätzlich verschieden von den mo- lekulargenetischen Leistungen anderer Gebiete, wie etwa der Mikrobiologie.

Der völlig andere Interpretationszu- sammenhang in der Humangenetik macht jedoch ein spezifisches Fachwis- sen auch bereits bei der Befunderhe- bung unerläßlich. Mit zunehmender Automatisierung molekulargenetisch- diagnostischer Verfahren, insbesonde- re der automatisierten DNA-Sequenz- analyse wird sich das Problem man- gelnder personeller Kapazitäten lang- fristig wieder entschärfen, jedoch ver- mutlich allein in Bezug auf das techni- sche Personal. Humangenetische Fach- kompetenz in der Bewertung der Da- ten wird angesichts ihrer zu erwarten- den Komplexität eher noch stärker vonnöten sein.

10. Ausblick

Die abzusehende Entwicklung in der molekulargenetischen Grundlagen- forschung, ihre rasche medizintechni- sche Umsetzung, die zu erwartende Ei- gendynamik des Laborindustrie-Mark- tes und der nicht zuletzt dadurch wach- sende Nachfragedruck lassen es als dringend geboten erscheinen, Art und Umfang humangenetischer Tätigkeit neu zu strukturieren. Aus ärztlicher Sicht gilt es, vier zentrale Forderungen zu realisieren:

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Jede genetische Diagnostik muß in eine genetische Beratung eingebet- tet sein. Dieses Junktim bedarf einer standesrechtlichen Verankerung.

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Die Ausweitung von Beratungs- kapazitäten ist dringend erforderlich.

Dabei soll die Einbeziehung nichtärzt-

lichen Personals ausdrücklich geför- dert werden, jedoch immer unter ärztli- cher Anleitung und Verantwortung.

• Jeder direkte oder auch nur in- direkte Zwang zur Inanspruchnahme genetischer Diagnostik muß vermieden werden. Die Ärzteschaft ist gehalten, sich für ein Verbot einer Nachfrage Dritter nach Durchführung und Ergeb- nis genetischer Tests einzusetzen.

• Prädiktive genetische Untersu- chungen sollen nicht als Regelleistung festgeschrieben werden, vielmehr sollte Aufklärung über Testmöglichkeiten dem individuellen humangenetischen Beratungsgespräch überlassen bleiben.

In einem solchen Kontext kann eine autonome Entscheidung für oder ge- gen Inanspruchnahme eines Tests am ehesten entwickelt werden. Da eine solche Verfahrensweise zunächst Per- sonen begünstigt, die von sich aus be- reits über Vorwissen verfügen und so- mit ein Element sozialer Ungerechtig- keit beinhaltet, ist eine verstärkte Be- teiligung der Ärzteschaft an der Infor- mation der Öffentlichkeit über geneti- sche Testverfahren anzustreben. Deren Wert für den einzelnen wird sicher nach wie vor kontrovers diskutiert wer- den. Gerade in dieser Kontroverse ist aber eine Chance für die Stärkung der individuellen Entscheidungsautonomie zu sehen.

Mitglieder der Arbeitsgruppe:

Prof. Dr. med. J. Schmidtke (federführend), Direktor des Instituts für Humangenetik der Medizinischen Hochschule Hannover Frau Prof. Dr. med. T. Schroeder-Kurth, Direktorin der Abteilung Zytogentik, Institut für Humangenetik und Anthropologie, der Universität Heidelberg

Prof. Dr. med. W. Vogel,

Ärztlicher Direktor der Abteilung Klinische Genetik der Universität Ulm

PD Dr. med. G. Wolff,

Leiter der Genetischen Beratungsstelle, Institut für Humangenetik und Anthropologie der Universität Freiburg

Prof. Dr. med. H. P. Wolff,

Vorsitzender des Ständigen Arbeitskreises

„Biomedizinische Ethik und Technologie- folgenabschätzung" beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer, Köln Frau Ass. U. Wollersheim,

Rechtsabteilung der Bundesärztekammer, Köln (beratend)

Korrespondenzanschrift:

Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer Herbert-Lewin-Straße 1 W-5000 Köln 41

Dt. Ärztebl. 89, Heft 25/26, 22. Juni 1992 (85) A1-2325

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