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Archiv "Gesundheitspolitik: Vom Symptom zur Diagnose" (29.11.2002)

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etzt nach der Wahl vom 22. September 2002 darf man wohl sagen, was vor der Wahl als Panikmache zurückgewiesen worden ist: Das System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ist existen- ziell bedroht; mit den tatsächlich zur Ver- fügung stehenden finanziellen Mitteln sind die notwendigen Leistungen nicht mehr zu erbringen. Das deutsche Ge- sundheitswesen ist in Lebensgefahr – so muss heute die ehrliche Diagnose lauten.

Dieses deutsche Gesundheitswesen zeichnet sich bisher aus durch Subsi- diarität und Solidarität, durch eine gleich- wertige und gleichmäßige Versorgung, durch freie Arztwahl,Therapiefreiheit für Ärzte und Patienten und – am wichtig- sten – durch ein einklagbares Recht der Krankenversicherten auf medizinisch notwendige Leistungen. Und im Gegen- satz zu Systemen der Staatsmedizin gibt es in Deutschland keinen Tod infolge von Wartelisten.

Doch haben sich die Prämissen, unter denen eine solche gesetzliche Kranken- versicherung nach dem Zweiten Welt- krieg aufgebaut worden ist, erheblich ver- ändert. Unter den gegenwärtigen wirt- schaftlichen und demographischen Be- dingungen sowie angesichts der Möglich- keiten des medizinischen Fortschritts al- lerdings gefährden die zunächst sehr er- folgreichen Strukturelemente aus der Aufbauphase der GKV das System an sich. Dazu gehören:

>die starre Anbindung der Kranken- versicherungsbeiträge an die Entwick- lung der Löhne und Gehälter trotz stetig abnehmender Lohnquote;

>die demographische Entwicklung hin zu einer Gesellschaft des langen Le- bens bei einer sinkenden Anzahl von Er- werbstätigen, die auch im Gesundheits- wesen den Generationenvertrag nachhal- tig infrage stellen wird;

>das nach wie vor unbegrenzte Lei- stungsversprechen von Krankenversiche- rung und Politik trotz offensichtlicher Ressourcenknappheit;

>die enorme Dynamik des medizini- schen und medizinisch-technischen Fort- schritts mit einem stetig wachsenden An- gebot innovativer Leistungen;

>die zunächst durchaus erfolgreiche sektorale Differenzierung in einen ambu-

lanten und stationären Leistungsbereich in der kurativen Medizin, die aufgrund der Komplexität des Leistungsgeschehens längst hätte in eine sektorübergreifende Versorgung überführt werden müssen.

>Hinsichtlich dieser Diagnose besteht unter den Mitspielern von Politik und Selbstverwaltung, Patienten und Indu- strie weitgehend Übereinstimmung.

Rot-Grün präferiert die staatliche Steuerung

Die therapeutischen Optionen werden allerdings heftig diskutiert. Es werden ausländische Vorbilder zitiert, die auf ei- ne weitgehend staatliche Steuerung aller Ebenen abzielt und mittelbar bis in die di- rekte Patient-Arzt-(Leistungserbringer-) Beziehung reicht. Aber auch das diame- trale Gegenteil – die rein wettbewerblich orientierte, marktwirtschaftliche, durch Konkurrenz der Versicherer und der Leistungserbringer gekennzeichnete Va- riante – erfährt viel Zuspruch. Und dann gibt es noch die dritte, wohl differen- zierteste Option, nämlich die erneuerte, das heißt sektorübergreifende Selbstver- waltung als Weiterentwicklung eines bürgernahen und solidarischen Gesund- heitswesens.

Eine klares Votum für eine dieser Op- tionen hat die Bundesregierung noch nicht gefällt, mit ihren aktuellen Gesetz- entwürfen (11. SGB V – Änderungsgesetz und Beitragssatzsicherungsgesetz) je- doch erkennen lassen, dass eine staatliche Steuerung präferiert wird.

Eine Vielzahl von Symptomen deutet darauf hin, dass die Regierung zwar ge- willt ist, unser Gesundheitssystem weiter- hin durch Beiträge zu finanzieren, die Ausgabenseite aber wie bei steuerfinan- zierten Systemen dirigistisch zu gestalten gedenkt. Patienten würden Leistungen dann nur noch zugeteilt werden, das heißt, eigene, einklagbare Anspruchs- rechte auf medizinische Leistungen wür- den aufgehoben. Vor dem Hintergrund dieser Zuteilungsphilosophie wird die tatsächliche Bedeutung der angekün- digten Patientenschutzgesetze deutlich – politische Makulatur.

Die Einführung der Listenmedizin über Disease-Management-Programme (wörtlich übersetzt: Krankheitshandha- bungsvorschriften) für chronisch Er- krankte soll im Endausbau etwa 80 Pro- zent des gesamten Leistungsgeschehens in der Gesetzlichen Krankenversiche- rung umfassen, was trotz aller gegenteili- gen Beteuerungen de facto die subtotale Einschränkung der tradierten Thera- piefreiheit für Patienten und Ärzte be- deutet.

Die Kombination dieser Disease-Man- agement-Programme mit dem Risiko- strukturausgleich wird eine weitgehende Äquilibrierung der finanziellen Aus- stattung und des Leistungsgeschehens zwischen den verschiedenen gesetzlichen Krankenkassen nach sich ziehen und führt damit de facto zu einer Einheits- krankenversicherung.

Die Aufstellung eines (bisher nicht existierenden) Leistungskataloges setzt die derzeit geltende Vorgabe, dass Not- wendiges in ausreichendem Maße, wirt- schaftlich und zweckmäßig dargeboten werden muss, in Wirklichkeit außer Kraft.

Die Selbstverwaltung wird zum Vollzugsorgan

Die beabsichtigte gesetzliche Etablie- rung so genannter „unabhängiger“ natio- naler Institute, zum Beispiel für Qualität in der Gesundheitsversorgung, Arznei- mittelversorgung oder Finanzierungsfra- gen, führt die gemeinsame Selbstverwal- tung von Krankenkassen und Leistungs- erbringern ad absurdum und bedeutet letztlich eine Bankrotterklärung der Ge- sundheitspolitik.

Durch die Etablierung eines Koordi- nierungsausschusses wird die bisherige gestaltende Selbstverwaltung umgeformt in eine reine Vollzugsverwaltung gesetz- lich vorgegebener Inhalte, etwa über die Implementierung von Disease-Manage- ment-Programmen.

Entsprechend werden die Kassenärzt- lichen Vereinigungen aus ihrer bisherigen in der Selbstverwaltung mitgestaltenden Funktion entlassen und in eine Auftrags- P O L I T I K

A

A3228 Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 4829. November 2002

Gesundheitspolitik

Vom Symptom zur Diagnose

Wohin geht die Reise im deutschen Gesundheitswesen?

Jörg-Dietrich Hoppe

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administration mit der wesentlichen Funktion der Mitgliederdisziplinierung überführt.

Es besteht die starke Tendenz, die spe- zialärztliche Versorgung durch eine Ver- lagerung an Krankenhäuser oder so ge- nannte Gesundheitszentren zu institutio- nalisieren, hier also eine Institution-Pati- enten-Beziehung zu schaffen mit Ärztin- nen und Ärzten als Erfüllungsgehilfen.

Dazu passt die Absicht, für die hausärztli- che Versorgung Kopfpauschalen und für die spezialärztliche Versorgung Fallpau- schalen (analog zu den Diagnosis Related Groups in den Krankenhäusern) einzu- führen.

Der klar erkennbare Wille der Politik, keineswegs von einem Griff in die bei- tragsfinanzierten Kassen der GKV zur Subventionierung des Staatshaushaltes abzulassen, lässt erkennen, dass zwischen Steuern und Sozialversicherungsabgaben keine nennenswerten Unterschiede mehr gesehen werden. (Allein durch die Ab- senkung der Krankenkassenbeiträge für Arbeitslosenhilfebezieher und durch weitere so genannte Verschiebebahnhöfe wird die GKV jährlich mit rund fünf Mil- liarden Euro belastet.)

Öffentliche Stimmungsmache mit unlauteren Mitteln

Die Gesamtsymptomatik kann nur als Paradigmenwechsel von einem freiheit- lichen Gesundheitswesen mit politischer Rahmengesetzgebung und Ausgestal- tung durch die Selbstverwaltung zu ei- nem stark staatlich gesteuerten und durchökonomisierten Gesundheitswe- sen mit erheblicher Reduzierung von Freiheiten für alle Akteure interpretiert werden.

Begleitet werden diese politischen Ab- sichten durch öffentliche Stimmungsma- che, so etwa durch die unlautere Wieder- holung, dass das deutsche Gesundheits- wesen zwar eines der teuersten, qualitativ aber nur mittelmäßig im internationalen Vergleich sei. Dabei wird gerne ver- schwiegen, dass der Anteil der Gesund- heitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) von etwa 10,8 Prozent im Wesentli- chen durch die deutsche Wiedervereini- gung bedingt ist. Denn vor der Deutschen Einheit 1990 lag der Anteil am BIP gleichmäßig bei etwa 8,3 Prozent. Seit der Wiedervereinigung ist er kontinuierlich gestiegen und liegt seit 1997 bei etwa 10,8 Prozent. Durch die geringere Wirt- schaftskraft im Osten Deutschlands erst hat sich die Relation von BIP und Ge- samtausgaben für Gesundheit erheblich verändert.

Ebenso falsch ist auch die immer wie- derkehrende Behauptung, die Ärzte wür- den sich nicht ausreichend fortbilden.

Und es gibt auch nicht, wie einige Exper- ten immer behaupten, eine Vielzahl inter- nationaler Vorbilder für eine Rezertifi- zierung mit drohendem Verlust der Fach- arztberechtigung (Ausnahmen sind Slo- wenien und Kroatien, wo eine aufwendi- ge und kostenintensive Teilrezertifizie- rung erprobt wird).

Verunglimpfung von Ärzten – ein Ablenkungsmanöver

Auch ist die Diskussion um Unter-, Über- und Fehlversorgung eine vor allem poli- tisch geführte. Es soll offensichtlich der Eindruck erweckt werden, eine Regel- versorgung, mit der das Notwendige aus- reichend, zweckmäßig und wirtschaftlich erbracht werden kann, sei in Deutschland mit der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen nicht möglich.

Nicht mehr als politische Ablenkungs- manöver sind auch die pauschalen Verun- glimpfungen der Ärzte durch breit ange- legte Kampagnen zu ärztlichen Behand- lungsfehlern oder etwa zu Todesfällen in- folge von Krankenhausinfektionen oder verfehlter Arzneimitteltherapie. Miss- trauen verbreiten und Neidkomplexe durch so genannte Abrechnungsskandale schüren – das sind Strategien, mit denen die Therapiefreiheit in der medizinischen Behandlung durch das staatsmedizini- sche Prinzip ersetzt werden soll.

Ärzte und Pflegekräfte arbeiten be- reits jetzt bis zu 30 Stunden und mehr am Stück. Es wird erwartet, dass sie gegen das Arbeitszeitgesetz verstoßen, und es wird vorausgesetzt, dass sie Millionen un- bezahlter Überstunden erbringen, aber kein Wort des Dankes, im Gegenteil.

Denn was bedeutet die geplante Nullrun- de für Krankenhäuser? Personalabbau, noch mehr Überstunden, noch weniger Zuwendung für Patienten. Die, die sich ohnehin schon solidarisch gezeigt haben, werden nun weiter zur Ader gelassen.

Und wenn Ärzte nicht mehr wollen, weil sie nicht mehr können, kommt der immer gleiche, flammende Appell an die ärztli- che Selbstverpflichtung zur Ethik.

Was bedeutet diese politische Ent- wicklung für die Leistungserbringer, für Ärztinnen und Ärzte, was bedeutet sie für die Versicherten der GKV und besonders für die Patientinnen und Patienten?

Angesichts der totalen Durchökono- misierung des Gesundheitswesens wer- den Ärztinnen und Ärzte, Schwestern und Pfleger und andere Angehörige von

Gesundheitsberufen die letzten Reste von karitativer und mildtätiger Einstel- lung verlieren, womit auch die Ethikfalle wirkungslos werden dürfte.

Bei der Neurekrutierung von An- gehörigen dieser Berufe werden andere, stark ökonomisch orientierte Persönlich- keitstypen überwiegen.

Die Ableistung von Programmmedizin wird den Ruf nach verschuldensunabhän- giger Haftung, insbesondere bei ausblei- bendem Behandlungserfolg trotz fehler- freier Behandlung, zur Folge haben.

Die Mentalität vom Dienstleistungs- vertrag zwischen Patient und Leistungs- erbringer zum werksvertragsartigen Zu- stand wird weiter wachsen. Auch die be- reits exorbitante Bürokratie in Arztpra- xen und Krankenhäusern wird dann wei- ter zunehmen. Noch mehr werden Schwe- stern, Pfleger, Ärztinnen und Ärzte mit diesen Dokumentations- und Schreibar- beiten von ihrer eigentlichen Tätigkeit, der pflegerischen und ärztlichen Betreu- ung der Kranken, abgehalten.

Therapiefreiheit wird nahezu vollständig aufgehoben

Die in Deutschland traditionell hoch be- wertete Therapiefreiheit von Patient und Arzt wird nahezu vollständig aufgeho- ben, die Patienten haben keine An- sprüche mehr, sie müssen sich mit dem Zugeteilten zufrieden geben. Der in den letzten Jahrzehnten insbesondere durch die Rechtsprechung entstandene Para- digmenwechsel von „Salus aegroti – su- prema lex“ zu „voluntas aegroti – supre- ma lex“ wird auf diesem Wege erheblich relativiert, da bei Zuteilungsmedizin von

„voluntas“ nur eingeschränkt die Rede sein kann.

Besonders für spezialärztliche Leistun- gen werden Wartelisten entstehen, da nur Unterversorgung Gewinne verspricht.

Wie in vielen ähnlich staatsmedizinisch strukturierten Ländern wird sich ein

„grauer Markt“ im Gesundheitswesen entwickeln, der für die Besserverdienen- den eher zugänglich sein wird als für Schlechterverdienende. Menschlichkeit und medizinischer Fortschritt werden zum Luxus einer Zweiklassenmedizin.

Wir stehen in Deutschland somit nicht nur vor einer Systemänderung, sondern vor einem Kulturwandel im Gesundheits- wesen.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages Herbert-Lewin-Straße 1, 50931 Köln P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 99Heft 4829. November 2002 AA3229

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