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Archiv "Internate: In der Schule der vier Sinne" (29.01.1999)

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S

tefan kann jetzt sitzen.

Der Elfjährige, blind, geistig und körperlich schwerbehindert, hockt auf dem Knie seiner Lehrerin, der Sonderpädagogin Andrea Mählmann, und balanciert sein Eigengewicht weitgehend von selbst aus. „Seit er das ge- lernt hat, ist er viel zufriedener geworden“, sagt die junge Frau. Seit zwei Jahren betreut sie Stefan und hat dabei ge- lernt, die kleinen Zeichen zu interpretieren, durch die er Kontakt mit seiner Umwelt aufnimmt. Er hat jetzt nicht mehr so oft die Hand im Mund wie zu Beginn, statt dessen be- arbeitet er gerade kräftig den

„Massageschlauch“, mit dem die Pädagogin seinen Tastsinn aktivieren möchte. Und er ist in diesen zwei Jahren neu- gieriger geworden auf die Welt. Stefan hat zwei Freunde in derselben Lerngruppe der

„Westfälischen Schule für Blinde“ in Paderborn. Auch mit denen unterhält der Junge, der aufgrund seiner Hirnschäden nie die Chance hatte, eine artikulierte Spra- che zu entwickeln, sich ta- stend. Von den vier verbliebe- nen Sinnen ist dies für viele der mehrfach behinderten Schüler der wichtigste.

Während Andrea Mähl- mann im fröhlich bunt deko-

rierten Klassenzimmer erklärt, daß man hier Erfolg in ande- ren Dimensionen messen lernt als auf „normalen“ Schulen, schaut dem Reporter plötzlich von hinten ein grünes Stoff- Krokodil über die Schulter:

„Hallo, bist du auch Besuch?“

Das Krokodil ist eine Hand- puppe am Arm der zwölfjähri- gen Karin, Stefans Klassen- kameradin. Karin läuft im Raum umher wie eine Sehen- de, obwohl sie nur Reste von Sehfähigkeit hat. Ihre Förde- rung – fünf Lehrer und Thera- peuten kümmern sich um die zehn Schüler der Klasse – ist ebenso individuell zugeschnit- ten wie Stefans, nur auf einem

anderen Niveau: Karin kann sogar schon ein wenig rechnen.

Das Rechnen gehört zu Ka- rins „Inselbegabungen“, die in Paderborn entdeckt und nach Kräften gefördert werden.

„Ein normal intelligentes blin- des Kind“, sagt Schulleite- rin Schwester Maria Ancilla,

„kann seine Blindheit ein Stück weit intellektuell kom- pensieren. Umgekehrt kann ein geistig behindertes, aber sehfähiges Kind sich vieles von den Nichtbehinderten ab- schauen. Bei uns fällt beides weg.“

Um so wichtiger ist die ge- duldige Förderung, die in Pa- derborn auch nach Ende des Ganztags-Schulbetriebs wei- tergeht: 96 der rund 130 Schü- lerinnen und Schüler leben un- ter der Woche im Internat der Schule. Während ein Großteil von ihnen die Wochenenden und Ferien in ihren Familien verbringt, bleiben 20 „Heim- schüler“ bis zum Eintritt in ei- ne Behindertenwerkstatt stän- dig im Internat. Für alle steht zum Ausbalancieren ihres Ge- fühlslebens und zur Entspan- nung eine Reihe von För-

A-216 (64) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 4, 29. Januar 1999

V A R I A BILDUNG UND ERZIEHUNG

Internate

In der Schule der vier Sinne

Fast hundert blinde oder hochgradig sehgeschädigte Kinder, die zudem schwer geistig behindert sind,

verleben eine dreizehnjährige Schullaufbahn im Internat der „Westfälischen Schule für Blinde“. Die von

einer Ordensschwester geführten Pädagogen und Therapeuten vermitteln ihnen neben Grundfähigkeiten

der Motorik und Kommunikation vor allem eines: das Gefühl, als Mensch wertvoll zu sein. Bei allem

notwendigen Aufwand ist umstritten, wieweit die Pflegeversicherung für die Betreuung aufkommen muß.

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derräumen zur Verfügung – mit seltsam anmutenden Na- men wie „Pränatalraum“ oder

„Snoezelzimmer“. Das Snoe- zeln, ein aus dem Nieder- ländischen entlehntes Kon- zept, grob übersetzt etwa mit „Schnuffeln“ oder „Ku- scheln“, meint die emotionale Erholung und Selbsterfahrung in Einzelbetreuung und Ge- borgenheit: Der Boden ist mit Matratzen ausgelegt, an den Wänden Seidentücher, aus Lautsprechern rieselt beruhi- gende Musik. Im Pränatal- raum gibt es ein Wasserbett, in dem erwärmtes Wasser gluckert, dazu Plexiglassäulen

mit aufsteigenden „Blubber- blasen“ und Lichteffektgeräte, mit denen die Restsehfähig- keit trainiert werden soll. Das ständige Reizen und Trainie- ren der Sinne ist ein Kernbe- standteil der Förderung im Pa- derborner Blindeninternat. Es erleichtert auch die Mobilität auf dem weitläufigen Inter- nats- und Schulgelände, auf dem sich viele in ihrer drei- zehnjährigen Laufbahn er- staunlich selbständig zu bewe- gen lernen. Für die meisten stehen vollkommen individu- ell angefertigte Rollstühle zur Verfügung, die wie ein bunter Fahrzeugpark vor den Klas- senzimmern und Gruppenräu- men geparkt sind.

Schwester Maria Ancilla, die Schulleiterin, ist vom Or- den der Schwestern der Christlichen Liebe – Gründe- rin Pauline von Mallinckrodt hatte 1842 die Blindenbildung in Paderborn begonnen. Heu- te gehören Schule und Inter-

nat zum Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Den Ver- band als Sozialhilfeträger ko- stet die aufwendige Betreu- ung jedes der 20 Heimkinder im Schnitt 8 400 DM pro Mo- nat, die der anderen 76 Inter- natskinder je 4 300 DM – so- fern nicht Angehörige finan- ziell herangezogen werden können. Doch umstritten ist, ob und wieweit der Verband sich dieses Geld teilweise an- derswo zurückholen kann:

Bislang erhält er maximal 500 DM pro Monat und Kind von der Pflegeversicherung. Wür- de der Landschaftsverband ein laufendes Gerichtsverfah- ren gegen die Pflegekassen ge- winnen, könnte dieser Betrag auf immerhin bis zu 2 800 DM steigen. Bedin- gung: Anerken- nung des Inter- nats als Pflege- einrichtung statt als Ausbildungs- stätte. Gerade das sorgte bei El- tern der Inter- natsschüler für Aufruhr: Man- che fürchten ei- ne „Verwahrpflege“ ihrer Kinder statt der gewohn- ten qualifizierten Förderung.

Auch sehen sie ihre Zuwen- dungen für häusliche ambu- lante Pflege während der Wo- chenenden und Ferien gefähr- det. „Wir können diese Eltern völlig beruhigen“, sagt Land- schaftsverbands-Mitarbeiter Thomas Profazi: „Am För- derungskonzept würde sich nichts ändern, und finanzielle Nachteile würden den Betrof- fenen nicht entstehen.“

Doch die Finanzierungs- querelen werden für je- den Besucher des Internats schnell zweitrangig, wenn er kleine Erfolge wie die des elfjährigen Stefan zu erken- nen lernt. „Wichtig ist“, sagt Schwester Maria Ancilla,

„daß die Kinder und Jugend- lichen hier eines erfahren:

Nicht weil sie etwas leisten oder darstellen, sind sie etwas wert, sondern weil sie Men- schen sind.“ Oliver Driesen

A-217 Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 4, 29. Januar 1999 (65)

Im Internat der „Westfälischen Schule für Blinde“ ver- mitteln die Lehrer und Therapeuten den oft mehrfach behinderten Kindern das Gefühl, als Mensch wertvoll zu sein. Foto: Landschaftsverband Westfalen-Lippe

V A R I A BILDUNG UND ERZIEHUNG

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