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Neue Perspektiven des E-Learning für Blinde und hochgradig Sehbehinderte

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Academic year: 2022

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Neue Perspektiven des E-Learning für Blinde und hochgradig Sehbehinderte

New perspectives on e-learning for the blind and severely visually impaired

• Roland Linder1• Frank Weichert2• Andreas Streng2• Andreas Groh3• Werner Liese4

• Tereza Richards5• Martin Diefenbach2• Ali Shamaa6,7• Clare J. Menzel-Dowling8

• Mathias Wagner7

Ende der 90er Jahre etablierten sich unterschiedliche Möglichkeiten des medienun- terstützten Lernens, das so genannte E-Learning. Die hierbei zugrunde liegenden Mechanismen bieten eine geeignete Plattform im Hinblick auf eine neuartige Lernum- gebung für Blinde und hochgradig Sehbehinderte, bei der visuelle Informationen durch taktile Analoga repräsentiert werden. Zur Anwendung kommt hierbei ein Haptic Device, eine Hardware-Einrichtung zur „Darstellung“ der taktilen Information. Zum einen kann das Haptic Device dazu dienen, parallel und in Ergänzung zu den visuellen Informationen eine taktile Darstellung geometrischer Objekte und physikalischer Körper zu erzeugen. Zum anderen kann das Haptic Device als Ersatz für nicht zu- gängliche visuelle Darstellungen verwendet werden und so etwa im Schulunterricht für Blinde und hochgradig Sehbehinderte zum Einsatz kommen. Mit der prototypischen Software make2Dhaptic wurden die diesbezüglichen Voraussetzungen geschaffen.

Die Verwendungsmöglichkeiten von Haptic Device und make2Dhaptic für das letzt- genannte Verwendungsszenario werden am Beispiel der Darstellung histologischer Schnittpräparate erörtert und diskutiert; erste Pretests verliefen viel versprechend.

Schlüsselwörter: Haptic device, Blinde, Sehbehinderte, Haptisches Rendering In the late 90s different options has been established for media supported learning, so-called e-learning. The underlying mechanisms provide an appropriate platform for a novel learning environment that might help the blind and severely visually impaired.

The options represent visual information provided by tactile analogies. A haptic device

1Institut für Medizinische Informatik, Universität zu Lübeck, Lübeck, Deutschland

2Fachbereich Informatik VII, Universität Dortmund, Dortmund, Deutschland

3Institut für Angewandte Mathematik, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland

4Deutsche Blindenstudienanstalt e.V., Marburg, Deutschland

5The Main Library, University of the West Indies, Mona, Kingston, Jamaica, West Indies

6Department of Oral Biology, Minia University, Minia, Ägypten

7Institut für Allgemeine und Spezielle Pathologie, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland

8Anatomisches Institut, Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland

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is used, i.e., a hardware device that helps present tactile information. The haptic de- vice can generate a tactile representation of geometric objects and physical bodies.

This can be provided with or without visual information and/or a teacher’s instructions.

Respective requirements have been met by developing the prototypical software make2Dhaptic. In this paper applications of the haptic device and make2Dhaptic in combination with histological slides are discussed. The results of initial tests are promising.

Keywords: haptic device, blind, visually impaired, haptic rendering

Einleitung und Fragestellung

Die Prävalenz von hochgradiger Sehbehinderung (Vi- sus <0,1) bis hin zur Blindheit (Visus <0,05) liegt in Industrieländern bei ca. 0,2%, d.h. allein in Deutsch- land leiden ca. 160.000 Menschen unter schweren vi- suellen Defiziten. 30% der Betroffenen (ca. 50.000) sind jünger als 60 Jahre (http://www.dbsv.org/info thek/Statistik.html #Anzahl, http://www.woche-des- sehens.de/presse/zahlen-und-fakten/). Zumindest bei dieser Gruppe kann davon ausgegangen werden, dass sie regen Anteil am Alltagsleben nimmt und aufge- schlossen ist für elektronische Hilfsmittel, die den Zu- gang zu visueller Information erleichtern. Im Bereich des E-Learning werden Studierende mit elektronischen Texten und Bildern konfrontiert. Textuelle Bildschirmin- halte können von Vorlesesystemen (Screenreader) in synthetische Sprache umgesetzt werden. Diese Soft- ware ermöglicht es zusätzlich noch, ein so genanntes Braille-Display anzusteuern, mit dem der Bildschirmtext in Brailleschrift Zeile für Zeile ertastbar wird. Trotz ei- niger Bemühungen [1] existieren für eine "Echtzeit- Übersetzung" von digitalen Bilddateien (Fotos, Land- karten) in haptisch erfahrbare Reliefs bislang keine praktikablen Lösungen. Am Beispiel der Überführung (visueller) histologischer Schnittpräparate in taktile Informationen wird ein erster prototypischer Ansatz vorgestellt.

Bisherige Ansätze zur didaktischen Vermittlung von Bildinformation

Für blinde und hochgradig sehbehinderte Schüler und Schülerinnen sind üblicherweise mit Mikroskopiertätig- keit verbundene Unterrichtsinhalte seit jeher keine einfache Materie, da die Wissensvermittlung vielfach durch buchstäbliche Anschauung erfolgt. Daher bedarf es besonderer Hilfsmittel. Mithilfe einer Digitalkamera am Lehrer-Mikroskop lassen sich Abbildungen histolo- gischer Schnittpräparate auf Großmonitore übertragen.

Sehbehinderte Schüler betrachten und interpretieren diese Bildinformationen gemeinsam mit ihren Lehrern.

Neuerdings gibt es auch die Möglichkeit, das mikrosko- pische Bild am Schülerarbeitsplatz mit einer aufgesetz-

ten Kamera direkt auf den Bildschirm eines Schüler- Laptops zu übertragen. Für blinde Schüler (Visus

<0,05) sind diese Verfahren jedoch nicht geeignet.

Daher wurden Techniken zur Herstellung haptisch er- fahrbarer Elemente entwickelt.

So arbeitete man vor etwas mehr als 20 Jahren mit einem optisch-taktilen Kopierer (OTAC), bei dem Quarzsand unter Druck und Hitze auf die Linien von nicht ganz ausgehärtetem Toner eines umgebauten Kopiergerätes aufgebracht wurde [2]. Technische Unzulänglichkeiten bestimmten das Schicksal dieses Ansatzes. Die taktilen Bilder verloren relativ schnell den Sand-Belag und wurden dadurch unbrauchbar.

Auch Fixiermethoden brachten keine wirksame Abhilfe, sodass diese Technik nach einigen Jahren vollständig verlassen wurde. Weiterentwicklungen mit taktilen Tinten, an denen noch vor wenigen Jahren deutsche und französische Arbeitsgruppen beteiligt waren, ha- ben sich aufgrund technischer Probleme bis heute nicht durchsetzen können.

Die OTAC-Technologie wurde durch die Anfertigung von so genannten Schwellpapierkopien abgelöst, bei der das mikroskopische Bild per Kamera erfasst und zunächst auf einen Computer übertragen wird. Das von einem Tintenstrahl- oder Laserdrucker ausgege- bene Schwarz-Weiss-Bild wird dann anschließend mit einem Kopiergerät [3] auf ein einseitig kunststoffbe- schichtetes wärmeempfindliches Papier, das Schwellpapier, kopiert. Die kunststoffbeschichtete Oberfläche dieses Spezialpapiers besitzt mikroverkap- selte Bestandteile, die unter Hitzeeinwirkung aufquel- len. Je mehr Graphitpulver aus dem Toner des Foto- kopierers aufgebracht wird, desto mehr Wärme kann eine solch geschwärzte Stelle auf dem Papier aufneh- men. Nach seiner Bedruckung wird das vorgeschwärz- te Schwellpapier auf eine Drahttrommel aufgespannt, die im nächsten Arbeitsschritt gemeinsam mit dem Papier unter einer Wärme abstrahlenden Lichtquelle rotiert. Auf einer derart beheizten Rotationstrommel erhitzt, quellen schwarze Linien und Flächen in Abhän- gigkeit von der kopierten Bildinformation wechselnd stark auf. Die Qualitäten des so entstandenen Reliefs sind bei einer Mindestbreite der Linien von 0,1 cm bis

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0,2 cm als zufriedenstellend einzustufen. Der Nachteil dieses Verfahrens besteht darin, dass sich hierdurch nur einige wenige, sehr kontrastreiche mikroskopische Bilder in haptisch erfahrbare Information umwandeln lassen bzw. eine manuelle computergestützte Bearbei- tung der Rohdaten erfolgen muss, um die gewünsch- ten Strukturen mit geeigneten Kontrastwerten zu ver- sehen. Wegen ihrer kurzen Produktionszeit hat diese Technik für Blinde und hochgradig Sehbehinderte einen hohen Stellenwert im naturwissenschaftlichen Unterricht. Für die Erstellung kleinerer Stückzahlen ist daher auch der recht hohe Preis für das Papier zu rechtfertigen.

Alternativ können von speziell geschulten Fachkräften qualitativ hochwertige taktile Abbildungen, so genannte Typhlographien, von einer vorgefertigten dreidimensio- nalen Matrize im Tiefzug-Vakuum-Verfahren auf Poly- vinylchlorid-Folien vervielfältigt werden. Die Matrizen können entweder in Handarbeit oder auch mit CAD- Frässystemen hergestellt werden. Im Bedarfsfall kön- nen auf einer speziellen Tiefzuganlage auch wesentlich größere Formate als das übliche DIN A3 Format her- gestellt werden. Da die taktilen Informationen hierfür aus unterschiedlichen Materialien, wie zum Beispiel Papier, Pappe, Kunststoffen, Metallbändern oder Holz zusammengestellt und auf eine luftdurchlässige, feste Unterlage aufgebracht werden müssen, kann die An- fertigung komplexer Abbildungen manchmal mehrere Arbeitstage erfordern. Der Einsatz von grafikfähigen, hochauflösenden Punktschriftdruckern bei sehr kon- trastreichen Präparaten ist grundsätzlich neuerdings möglich (zum Beispiel ViewPlus Braille Printer; View- plus Technologies, Inc; Corvallis, OR, USA). Bei mi- kroskopischen Präparaten liegen derzeit aber noch keine Erkenntnisse vor.

Bilder realer histologischer Präparate können also prinzipiell bereits heute durch Schwellpapierkopien oder Typhlographien taktil wahrnehmbar gemacht werden. Die Herstellung einer typhlographischen Re- präsentation realer histologischer Schnittpräparate ist jedoch zeit- und kostenintensiv und daher nur in Aus- nahmefällen sinnvoll. Eine Umsetzung mit Hilfe von Schwellpapier ist weniger aufwendig Da aber die Farbbilder nur mit schwer steuerbarem Informations- verlust in kontrastreiche haptisch erfassbare Schwarz- Weiß-Bilder umgewandelt werden können (Abbildung 1), darf auch dieser Ansatz nicht überbewertet werden.

In der Dokumentation eines Pilotprojekts wurde über die Möglichkeit der pädagogischen Nutzung eines Haptic Device im Kontext mit Blinden berichtet [4].

Zytologische oder histologische Präparate kamen hierbei nicht zum Einsatz. Somit existierten bislang nur wenige Möglichkeiten, teilweise kontrastarme aber zugleich detailreiche zytologische oder histologische

Präparate Blinden oder hochgradig Sehbehinderten schnell und kostengünstig taktil zugänglich zu machen.

Dies ist die Motivation für den nachfolgend vorzustel- lenden neuen Ansatz.

Material und Methoden

Als haptisches Gerät mit sechs Freiheitsgraden (Rota- tionsachsen) wird das PHANTOM®DesktopTMHaptic Device (SensAble Technologies, Inc., Woburn, MA, USA) eingesetzt. Das Haptic Device berücksichtigt Kinästhetik und Taktilität, wobei Kinästhetik die Kraft- rückkopplung an den Benutzer bei Kollision mit virtuel- len Reliefstrukturen bezeichnet, Taktilität hingegen den Tastsinn, der zum Erfühlen von Oberflächenstruk- turen notwendig ist [5]. Die Berechnung der Kräfte ist für die Erzeugung der Rückkopplung essenziell. Dieser Vorgang wird als haptisches Rendering [6] bezeichnet und wurde im vorliegenden Fall unter Verwendung der OpenHaptics™ Library (SensAble Technologies, Inc., Woburn, MA, USA) realisiert.

Aufgrund der Gerätemodalität wird zu einem gegebe- nen Zeitpunkt immer nur ein Punkt des virtuellen (taktilen) Raumes erfasst und diesem eine Kraft zuge- ordnet, die nach Betrag und Richtung durch die steu- ernde Software bestimmt und mittels des Haptic Device physikalisch erzeugt wird. Durch die Wahrneh- mung dieser Kraft kann dem Anwender eine entspre- chende Tastempfindung vermittelt werden. Um ein geometrisches Ensemble in seiner Gesamtheit zu er- fassen, muss dieses „Punkt für Punkt“ abgetastet werden.

Bei der taktilen Darstellung visueller Informationen durch das Haptic Device kommen wegen derpunkt- weisenAbtastung zunächst nur Konfigurationen von begrenzter Komplexität in Betracht. Als besonders geeignet wurden in einer initialen Phase mathemati- sche Funktionsdarstellungen und Messkurven, die aus naturwissenschaftlichen Experimenten resultieren, erachtet. Bei dieser Art von Darstellung werden die vom Haptic Device erzeugten Kräfte einerseits zur räumlichen Lokalisation der betrachteten Objekte, andererseits aber zur Unterstützung und Führung des Benutzers genutzt, indem die abzutastenden Objekte mit einemMagnetismusversehen werden. Dies erleich- tert das Verfolgen von Strukturen, beispielsweise Funktionskurven.

Sollen strukturell komplexere geometrische Konfigura- tionen dargestellt werden, so erscheint es sinnvoll, diese zunächst in einige wenige Strukturelemente zu zerlegen, die der Benutzer als einzelne, voneinander abgegrenzte und nach außen abgeschlossene Einhei- ten erfährt. Um die inneren Strukturen dieser Einheiten abzutasten,dringtder Benutzer in diese ein, indem er

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Abbildung 1: Verwendung von Schwellpapier: [A] Reales histologisches Schnittpräparat; [B] Kopiergerät beim Transfer der Bildinformation auf Schwellpapier; [C] Schwellpapierrepräsentation des realen histologischen

Schnittpräparates.

eine gewisse Kraftbarriere überwindet. Der Innenbe- reich der betreffenden Einheit erscheint wiederum in einzelne Strukturelemente gegliedert, die als vonein- ander abgegrenzte Teile erfasst werden können. Auf diese Weise bleibt die Komplexität zu jedem Zeitpunkt begrenzt und der Benutzer kann, nachdem er sich einen Überblick über die Gesamtstruktur verschafft hat, sich den einzelnen Einheiten zuwenden.

Für einen zweiten, komplexeren Anwendungskontext wurden histologische Schnittpräparate als geeignete Struktur herangezogen. Bei entsprechender Aufberei- tung der Unterrichtsmaterialien können auf diese Weise auch feiner strukturierte Objekte, etwa histolo- gische Schnittbilder, blinden und sehbehinderten Schülern (erstmalig) unterrichtskonform zugänglich gemacht werden. Zudem eignen sich histologische Schnittpräparate sowohl durch ihren hierarchischen Aufbau als auch durch ihren Detailreichtum als poten- zielle Limitierung der Umsetzung. Am Beispiel der histologischen Schnittpräparate soll das Prozedere der Umsetzung näher erläutert werden.

Ausgangspunkt waren histologische Schnittpräparate der Leber, die mit einer auf einem BX41 Lichtmikro- skop befestigten OLYMPUS CAMEDIA C-3030 Zoom Digitalkamera (beides OLYMPUS OPTICAL CO Euro- pa GmbH, Hamburg) digitalisiert, segmentiert und anschließend mittels der prototypischen C++ Software make2Dhaptic in taktile Informationen überführt wer- den. Die Gradienten der Farb- und Texturinformationen werden dabei primär als 3D-Informationen interpretiert und durch Triangulierung in ein 3D-Mesh für das taktile Relief überführt. Auf Basis der Segmentierungsinfor- mationen kann ergänzend ein Materialkoeffizient defi- niert werden, der eine modulierte Kollisionsbehandlung ermöglicht (Tensegrity [7], [8], [9], [10]). Die derart generierte Szene ermöglicht hochgradig sehbehinder- ten Probanden mittels des Haptic Device, histologische Schnittpräparate zu ertasten (Abbildung 2).

Neben der Bereitstellung einer optionalen Tensegrity wird mit der Segmentierung ein zweiter wesentlicher Aspekt verfolgt. Visuelle Daten, wie auch die hier vor- liegenden histologischen Schnittbilder, sind in ihrer Gesamtheit vielfach zu kompliziert. Speziell in einer für hochgradig Sehbehinderte didaktisch korrekten (E-)Lernumgebung ist es notwendig, die Granularität auf ein geeignetes Maß zu reduzieren bzw. sie selektiv einstellen zu können. Beispielsweise könnten nur die Konturen einzelner Zellen innerhalb der taktilen Szene repräsentiert werden.

Ergebnisse

Im Anschluss an die Überführung der virtuellen Schnitte in taktile Informationen stehen unterschiedli- che Szenarien bereit. Neben der Basisfunktionalität, die Graustufengradienten als 3D-Relief bereitzustellen, können auch einzelne Farbkanäle separiert präsentiert werden. Die Granularität (Auflösung) der 3D-Szene ist parametrisierbar, um den unterschiedlichen taktilen Fähigkeiten der sehbehinderten Anwender gerecht zu werden. Durch eine Zoomfunktionalität ist die Region of Interest frei wählbar. Wird bei dieser Gradienten- basierten Repräsentierung der virtuelle Schnitt in sei- ner gesamten Komplexität und nur auf Basis der Farb- und Textureigenschaften analysiert, erlauben die Segmentierungsinformationen eine Zuweisung spezi- fischer Materialeigenschaften (Tensegrity) und selek- tiver „Betrachtungsweisen“. Neben einzelnen Objekten (anatomische Primitive) können auch Hierarchien tastbar gemacht werden - anatomische Objekte (Bei- spiel: Cytoplasma, Zellkern, Nucleus) werden konform zu ihrer Hierarchieebene durchdrungen. Navigierte in den bisher genannten Modi der Sehbehinderte durch die Szene, kann die Aktivität auch invertiert werden und das Haptic Device führt den Sehbehinderten aktiv um ein Objekt herum. Hierdurch kann das Vorstellungs- vermögen für einzelne Objekte verbessert werden, da die Konzentration entfällt, das Objekt in der Szene nicht zu „verlieren“.

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Abbildung 2: Die make2Dhaptic Software generiert zu einem Bild (hier: histologisches Schnittpräparat) ein 3D-Relief, das mit dem Haptic Device ertastet wird.

In Anbetracht der Tatsache, dass sich das System noch in einer prototypischen Entwicklungsphase befin- det, wurde die Evaluierung mit einer Gruppe ausge- suchter Testpersonen vollzogen. Diese setzte sich aus Blinden bzw. Sehbehinderten und in dem Kontext erfahrenen Lehrkräften zusammen, wobei auch ein blinder Lehrer zur Gruppe der Testpersonen gehörte.

Allen Tests war gemeinsam, dass nicht eine quantita- tive statistische Bewertung im Fokus des Interesses stand, sondern eine Beurteilung der pädagogischen Verwendbarkeit – die Tests waren dementsprechend stärker an das Prozedere eines Interviews angelehnt.

Da von den Probanden nicht verlangt werden sollte, dass sie die medizinischen Fachtermini kennen oder histologische Schnitte einer anatomischen Struktur zuordnen können, erfolgte eine angepasste, qualitative Evaluierung. Hierbei waren einzelne Kompartimente in den takilen Exponaten durch einfache geometrische Primitive zu beschreiben – beispielsweise konnte ein Zellkern als kreisförmig deklariert werden. Diese inhä- rente Informationsreduktion reflektierte die Fähigkeiten der Testpersonen bei komplexeren Strukturen. So er- folgte auch ohne die Vorgabe, Objekte durch geome- trische Primitive zu charakterisieren, vielfach eine auf einfache Strukturen reduzierte Beschreibung. Um eine Verifikation mit der etablierten Methodik in der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik zu ermöglichen, ertas- teten ausgesuchte Probanden einfache biologische Strukturen (z.B. Amöben) abwechselnd an Typhlogra- phien und digitalen, takilen Repräsentationen. Es manifestierte sich hierbei, dass die Reihenfolge der Exploration für die Wiedererkennung essenziell war.

Wurde das Exponat primär anhand einer Typhlogra- phie ertastet, konnte das digitale Analogon vielfach ebenfalls bestimmt werden. In umgekehrter Reihenfol- ge war die Zuordnung nur eingeschränkt gegeben.

Für den Anwendungsfall des taktilen Funktionsplotters wurde im Hinblick auf eine an den Mathematikunter- richt fokussierte Umsetzung die Anbindung an die mathematische Software MATLAB®(The MathWorks, Inc., Novi, MI, USA) realisiert. Hierdurch ist es möglich, eine Kurvendiskussion taktil zu repräsentieren. Die

Software MATLAB®liefert zu einer definierten Funktion die zweidimensionalen Koordinaten der diskreten Funktionspunkte zurück, welche nachfolgend als Kontrollpunkte für eine NURBS-Kurve (Non-Uniform Rational B-Spline) genutzt werden [11]. Mittels dieser Repräsentierung kann die Funktionskurve als dreidi- mensionale taktile Information präsentiert werden.

Werden mehrere Kurven innerhalb einer Darstellung benötigt, kann die Separierung auf unterschiedlichen Materialeigenschaften (Reibung/Rauheit) beruhen.

Optional besteht die Möglichkeit, die taktilen mit audi- tiven Informationen zu kombinieren. So können Funktionswerte gemäß ihrer y-Koordinate durch unter- schiedlich hohe Töne vermittelt oder einzelne Funkti- onswerte (Beispiel: Schnittpunkte) vorgelesen werden.

Ein Vergleich zwischen Typhlographien und dem tak- tilen Funktionsplotter zeigte insgesamt nur marginale Unterschiede.

Diskussion

Als ein Hauptproblem in der Realisierung einer Soft- ware für Blinde und hochgradig Sehbehinderte stellt sich vielfach die Tatsache heraus, dass die Implemen- tierung von Sehenden erfolgt, welche die genauen Bedürfnisse von nicht Sehenden nur schwer einschät- zen können. Um diesem Aspekt nicht angehörig zu werden, erfolgte die Entwicklung in enger Zusammen- arbeit mit der Deutschen Blindenstudienanstalt e.V.

in Marburg. Zudem stand der Mitautor, Herr Diefen- bach, selbst hochgradig sehbehindert, für verschiede- ne Tests zur Verfügung. Da eine umfangreiche Evalu- ierung noch aussteht, soll im Folgenden eine erste qualitative Beurteilung erfolgen.

Ziel der Aufbereitung histologischer Schnitte war die taktile Repräsentierung komplexer zweidimensionaler Strukturen, welche sich aus Datenkompartimenten zusammensetzen. Initialer Part ist eine zweidimensio- nale hochaufgelöste Fotoaufnahme eines histologi- schen Schnittpräparates und ergänzende segmentierte Daten, die den Ort und die Eigenschaften der Zellbe- standteile dokumentieren. Für das menschliche Auge ist es ein Leichtes zu erkennen, dass die Zelle von

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außen nach innen mehrere Bestandteile besitzt, die teilweise ineinander geschachtelt sind. Des Weiteren lassen sich Anzahl und relative Größe und Lage leicht vermitteln. Um diese Strukturen begreifbar zu machen, werden die Teile der Zelle in einem dreidimensionalen Konstrukt, ähnlich dem Aufbau einer Matroschka dar- gestellt. Die softwaretechnische Implementierung der taktilen Benutzerführung erlaubt es, Gegenstände virtuell zu durchdringen. Mit einer einzustellenden Kraft kann dann die äußerste Schicht durchdrungen werden, um den darunter liegenden Raum zu erkunden.

Obwohl die hierarchische Unterscheidbarkeit anhand der Materialeigenschaften möglich ist und auch von Probanden als fühlbar erkannt wurde, orientieren sie sich eher an der Größe der Elemente, um zu realisie- ren, auf welcher Ebene sie sich befinden. Eine weitere relevante Fragestellung war, ob es besser sei, die re- levanten Objekte als Erhöhung oder als Vertiefung umzusetzen. Allgemein ist zu bemerken, dass kleine Objekte besser als Erhöhung darzustellen sind, damit diese bei der Abtastung nicht „übersehen“ werden – vergleichbar zur Braille-Schrift. Größere Objekte lassen sich hingegen leichter als Vertiefung erfassen, da die Wände der Vertiefung intuitiv verfolgt werden können.

make2Dhaptic kann die Vorteile von beiden Verfahren kombinieren.

Speziell für derart komplexe Strukturen wie histologi- sche Schnittpräparate ist es wichtig zu vermitteln, ob eine Vertiefung oder eine Erhöhung gegeben ist. Da - im Gegensatz zu einer gesamtheitlichen Abtastung mit der ganzen Hand - die Relation der Objekte zuein- ander fehlt - es wird immer nur ein Punkt abgetastet - dient ein Kontrollton zur ergänzenden Orientierung.

Dieser vermittelt, ob etwa gerade eine Vertiefung er- tastet wird, um so auf den inversen Aufbau der Szene hinzuweisen.

Betrachtet ein Sehender eine derart komplexe Szene wie einen Histoschnitt, wird er sich zuerst einen Überblick verschaffen und erst danach auf Details achten. Zur Umsetzung dieser Herangehensweise erfolgte eine Maskierung aller Elemente einer Szene durch Bounding-Boxen. Zudem stellte sich in den Tests immer wieder heraus, dass nur relativ wenig Elemente gleichzeitig „dargestellt“ werden sollten, da sonst die Übersicht der Probanden sehr schnell verloren geht.

Es eignen sich auch von sich aus nicht alle Segmente zur Darstellung, da die Anzahl der einzelnen Polygone bis zu mehreren hundert reichen kann, die auch von sehenden Personen nur als undifferenzierte Menge von Elementen erfasst werden können.

Ergänzend zu den aufgezeigten Erfahrungen bei den histologischen Schnittpräparaten, wurde die taktile mathematische Darstellung als sehr angenehm emp-

funden. Das Auffinden der (meist auf dem Definitions- bereich stetigen) Funktionen stellte kein Problem dar.

Die Funktionen konnten mittels der vorhandenen Zoomfunktionalität bzw. Anpassung des dargestellten Definitions- und Wertebereiches optimal auf den ge- wünschten Ausschnitt eingestellt werden. Durch das Abfragen (auditive Information) der aktuellen Position konnten z.B. lokale Extrema einfach bestimmt werden.

Da es im Schulalltag eine gängige Methode ist, Gra- phen durch Tonfolgen akustisch darzustellen, wurde auch diese integriert. Hiermit wurde nicht das primäre Ziel verfolgt, das bekannte Lernprinzip nachzuahmen, sondern das bekannte Lernprinzip mit dem Unbekann- ten zu kombinieren, um auf diese Weise ein neuartiges Lernprinzip leichter annehmen zu können.

Der vorbeschriebene prototypisch realisierte Ansatz wurde kürzlich Schülern der Carl-Strehl-Schule, Gymnasium für Blinde und Sehbehinderte (Deutsche Blindenstudienanstalt e.V.) in Marburg zur Testung überlassen. Die dort durchgeführten ersten Tests mit dem Haptic Device verliefen sehr erfolgreich. Über einen Zeitraum von einer Woche konnte das Gerät von einem blinden Informatiklehrer sowie von drei blinden Schülern außerhalb des regulären Unterrichts getestet werden. Diese ersten Erfahrungen können als sehr positiv eingestuft werden, da offenbar taktile Erfahrungen gesammelt werden konnten, die bisher auf andere Weise nicht zugänglich waren.

Ausblick

Die bisher aufgezeigten Anwendungsszenarien fokus- sierten sich auf den Mathematik- und Biologieunter- richt, respektive auf eine optionale Anwendung in der Medizin. Dieses sind sicherlich nur initiale Anwendun- gen. Auch in weiteren Fächern kann der Einsatz des Haptic-Devices eine wichtige Unterstützung im Unter- richt erbringen. Daher plant die Carl-Strehl-Schule noch für dieses Jahr den Kauf eines ersten Haptic- Device. Die Nachhaltigkeit des vorgestellten Ansatzes zeigt sich auch in der Tatsache, dass die aktuellen Versuche, den Einsatz des Systems auf die Messda- tenerfassung im Chemieunterricht zu erweitern, sehr positiv verlaufen. Dabei sollen die Informationen, die Sehende beim Aufbau der Grafik am Bildschirm haben, direkt (in Echtzeit) in taktile Signale für Blinde übersetzt werden. Die Unterstützung und Führung des Benutzers durch das Haptic-Device mittels entsprechend zu ge- nerierender Kräfte, welche die Verfolgbarkeit von Lini- en und den Verbleib des Abtastpunktes in bestimmten Bereichen erleichtern und darüber hinaus das Eindrin- gen in Substrukturen vermitteln, hat nach den gemach- ten Erfahrungen einen hohen Stellenwert für die praktische Anwendung. Einschränkend muss einge- räumt werden, dass der Arm eines Haptic-Device die

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taktilen Informationen nicht in der hohen Qualität übertragen kann, wie sie ein "Datenhandschuh" liefern kann. Der momentan noch sehr hohe Preis von ca.

50.000 € ist für eine Schule derzeit jedoch nicht bezahl- bar.

Insgesamt wird der vorgestellte Ansatz von blinden und hochgradig sehbehinderten Probanden als viel versprechend betrachtet. Diese Einschätzung wird systematisch an größeren Kollektiven von Sehbehin- derten zu verifizieren sein. Sollte sich dabei die Nütz- lichkeit von make2Dhaptic bestätigen, wird ein breiter Einsatz dieser Lösung angestrebt, der die Möglichkei- ten des E-Learning für Sehbehinderte und Blinde be- reichern wird.

Korrespondenzadresse:

• Roland Linder, Institut für Medizinische Informatik, Universität zu Lübeck, Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck, Deutschland

linder@imi.uni-luebeck.de

Literatur:

[1] Liese W. Moderne elektronische Hilfsmittel im naturwissenschaftlichen Unterricht blinder und sehbehinderter Schüler. In: Verein zur Förderung der Blindenbildung e.V. Bleekstr. 26, 30559 Hannover-Kirchrode.

Kongressbericht: XXX Kongress für

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[2] Liese W, Fassbender R. Neue Möglichkeiten im Chemieunterricht für sehbehinderte und blinde Schüler im

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Addison-Wesley; 1997.

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Abbildung

Abbildung 1: Verwendung von Schwellpapier: [A] Reales histologisches Schnittpräparat; [B] Kopiergerät beim Transfer der Bildinformation auf Schwellpapier; [C] Schwellpapierrepräsentation des realen histologischen
Abbildung 2: Die make2Dhaptic Software generiert zu einem Bild (hier: histologisches Schnittpräparat) ein 3D-Relief, das mit dem Haptic Device ertastet wird.

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