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Archiv "Humangenetische Beratung – Keine Eugenik unter neuem Namen!" (27.04.1989)

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IE ÜBERSICHT

Humangenetische Beratung

Keine Eugenik unter neuem Namen!

Eine Begriffsklärung

Humangenetische Beratung ver- folgt heute keine eugenischen Zie- le. In vielfältiger Hinsicht stehen sich humangenetische und euge- nische Zielsetzung sogar konträr gegenüber. Humangenetischen Beratern geht es heute auch nicht darum, behindertes Leben zu ver- hindern, sondern allein darum, ei- ne individuelle Entscheidung der Ratsuchenden zu ermöglichen. Da- her ist auch der Begriff „eugeni- sche Indikation" zum Schwanger- schaftsabbruch inhaltlich falsch.

Da man häufig einer unscharfen Verwendung des Begriffs „Euge- nik" begegnet, scheint eine Be- griffsklärung geboten.

Hans-Jürgen Pander und Eberhard Schwinger

H

umangenetische Bera-

tung wird häufig mit falschen Vorstellun- gen über ihre Inhalte, ihre Ziele und Motiva- tionen verknüpft. Dabei wird auch unterstellt, daß unter anderem euge- nische Ziele verwirklicht werden sol- ten. Diese Zielsetzung würde sogar indirekt dadurch erreicht, daß ein behindertenfeindliches Umfeld in der Gesellschaft geschaffen sei, wel- ches eine individuelle Entscheidung, zum Beispiel zur Akzeptanz einer kindlichen Behinderung, sehr er- schwere beziehungsweise gar nicht ermögliche (van den Daele 1985).

Die Diskussion um diese Problema- tik wird dadurch erschwert, daß der Begriff „Eugenik" von Juristen und Medizinern, etwa im Zusammen- hang mit der Formulierung „eugeni- sche Indikation" zum Schwanger- schaftsabbruch, sachlich falsch und irreführend verwendet wird. Aus diesen Gründen erscheinen klarstel- lende und Begriffe definierende Aussagen dringend geboten. Diese Aussagen gelten unabhängig davon, ob überhaupt, streng wissenschaft- lich betrachtet, Grundlagen für eu- genisches Handeln existieren oder nicht (Schwinger et al. 1988).

Was versteht man unter Eugenik?

Francis Galton prägte 1883 den Begriff „Eugenik" und definierte ihn als „. . kurzes Wort, welches die Wissenschaft von der Verbesserung der Rasse beschreibt, die sich kei- neswegs auf Fragen einer wohlüber-

legten Partnerwahl beschränkt, son- dern die, besonders im Falle des Menschen, alle Einflüsse berücksich- tigt, die in noch so geringem Grade dazu tendieren, den geeigneten Ras- sen oder Abstammungslinien eine bessere Chance zu geben, sich schnell gegenüber den weniger ge- eigneten durchzusetzen, als sie es ohne eine solche Chance getan hät- ten" (Galton 1907). In Deutschland wurde häufiger der 1895 von Ploetz eingeführte Begriff „Rassenhygiene"

als Synonym gebraucht, mit dem Lenz 1932 „. . eine Betrachtung der gesamten Lebensbedingungen, die auf die Gestaltung der erblichen Veranlagung der Bevölkerung von Einfluß sind" bezeichnete (Baur, Fi- scher, Lenz 1932). In diesen Defini- tionen zeigen sich die drei Säulen eugenischer Vorstellungen und Ziel- setzungen:

0 Es geht in der Eugenik vor- rangig um die Erbanlagen, die „ge- sund" erhalten werden sollen, und nicht so sehr um die Manifestation der Erbanlagen im Erscheinungs- bild, dem Phänotyp: Primat des Ge- notyps.

49 Nicht der einzelne Mensch steht im Mittelpunkt eugenischen Denkens, sondern eine Fortpflan- zungsgemeinschaft (Begriffe dafür wechseln je nach Zeit und Autor, zum Beispiel „Rasse", „Volkskör- per", „Volk" und „Population"), de- ren Genbestand verbessert werden soll: Primat des Genpools einer Ge- meinschaft.

Institut für Humangenetik (Direktor:

Professor Dr. med. Eberhard Schwinger) der Medizinischen Universität zu Lübeck Dt. Ärztebl. 86, Heft 17, 27. April 1989 (45) A-1205

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• Eugenisches Handeln erfor- dert immer eine Verständigung über gemeinschaftlich anzustrebende Zie- le und somit eine allgemein verbind- liche Wertsetzung bestimmter Ei- genschaften entweder als wün- schenswert oder als nicht wün- schenswert. Erst im Licht einer sol- chen Wertung kämen Untersu- chungsbefunden einzelner Personen eine konkrete Bedeutung zu — diese dann aber zwingend: Der einzelne müßte sich entsprechenden Maß- nahmen (zum Beispiel Eheverbot, Asylierung oder Sterilisation) zugun- sten der Gemeinschaft beugen: Pri- mat der Wert- und Zielsetzung eugeni- schen Handelns durch die Gesellschaft ohne einen individuellen Entschei- dungsspielraum.

r Was versteht man unter human-

genetischer Beratung?

Humangenetische Beratung hat folgende Grundlagen:

• Ein wichtiger Gesichtspunkt der Bewertung humangenetischer Untersuchungsbefunde bei Stamm- baumanalysen sowie auf Molekular- und Chromosomenebene ist die Fra- ge nach deren Auswirkung im Leben des betroffenen Individuums bezie- hungsweise der Familie . Primat des Phänotyps.

• Humangenetische Beratung ist ein Angebot an ratsuchende Fa- milien, Auskunft über eine eventuel- le genetisch verursachte oder ange- borene krankhafte Störung ihrer Nachkommen zu erhalten. Im Mit- telpunkt stehen das Individuum und die einzelne Familie - Primat des Indi- viduums.

• Über eventuelle Konsequen- zen der genetischen Beratung (Fami- lienplanung, vorgeburtliche Diagno- stik, Schwangerschaftsabbruch) ent- scheiden alleine die Ratsuchenden aufgrund der persönlichen Verarbei- tung der Beratungsinhalte: Primat der individuellen Entscheidung.

Resümee

Aus dem Vergleich der Inhalte und Zielsetzungen von humangene- tischer Beratung auf der einen und Eugenik auf der anderen Seite wird schnell deutlich, daß humangeneti- sche Beratung nicht nur keine euge- nischen Ziele verfolgt, sondern sogar von ihren Prinzipien her solchen konträr gegenübersteht. Diese aus- drückliche anti-eugenische Grund- haltung genetischer Berater wird heute auch von ernstzunehmenden Kritikern der Entwicklung im Be- reich der Genetik und speziell der Humangenetik anerkannt (zum Bei- spiel Weingart, Kroll und Bayertz 1988).

Genetische Beratung findet in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld statt. Unsere Gesellschaft wird eher als „Leistungsgesellschaft"

denn als eine primär „behinderten- freundliche Gesellschaft" bezeich- net. Wenn dies so ist, ist erklärlich, daß die Bereitschaft in unserer Ge- sellschaft, angeborene Störungen zu akzeptieren, geringer als wünschens- wert ausgeprägt ist. Voreilig wäre je- doch, Humangenetik und humange- netische Beratung als den Verursa- cher einer solchen Haltung anzuse- hen. Hier wirken Faktoren zusam- men, die in ihrer Vielfältigkeit und der Art ihres Zusmmenwirkens nicht untersucht oder geklärt sind. Aus- wirkungen der genannten gesell- schaftlichen Bezüge auf die individu- elle Entscheidung in einer Bera- tungssituation sind gegeben.

Aufgabe humangenetischer Be- ratung ist es daher, darauf hinzuwei- sen, daß es nicht darum gehen kann, körperlich oder geistig behindertes Leben zu verhindern. Aufgabe kann nur sein, Ratsuchenden die Breite des zu erwartenden klinischen Bildes zu vermitteln und eine Entschei- dungshilfe zu geben. Zwangsläufig ergibt sich aus diesem Primat einer individuellen Entscheidung, daß eine identische Behinderung im Hinblick auf die Familienplanung durch die Ratsuchenden ganz unterschiedlich eingeschätzt werden kann und ganz unterschiedlich eingeschätzt wird.

Einen Automatismus einer Entschei- dungsfindung, etwa aufgrund von Laborbefunden, darf es daher nicht geben.

Der Begriff „Eugenik" wird aber auch als solcher falsch angewendet.

Am gravierendsten erscheint heute die fälschliche Anwendung als soge- nannte „eugenische Indikation" zum Schwangerschaftsabbruch. Nach Wortlaut und Sinn des Gesetzes steht diese Indikation keineswegs im Dienste eugenischer Ziele (wie oben definiert), sondern es handelt sich im Gegenteil auch bei dieser Indika- tionsfeststellung um die Folge einer individuellen Notlagensituation:

Nicht für die Gesellschaft ist das Austragen einer Schwangerschaft aufgrund unerwünschter Gene nicht zumutbar, sondern für die konkret betroffene Mutter beziehungsweise Familie ist die Belastung durch das Wissen um das voraussichtlich kran- ke Kind und die daraus resultieren- den Konsequenzen so groß, daß das Austragen der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann. Selbst- verständlich kann aber diese Konse- quenz genetischer Beratung und in- dividueller Entscheidung nur so lan- ge akzeptiert sein, wie unsere Gesell- schaft das Abtöten ungeborenen Le- bens durch § 218 StGB gesetzlich straffrei zuläßt.

Literatur

1. Baur, E.; Fischer E. und Lenz, F.: Mensch- liche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene, Bd. 2, J. F. Lehmanns: München 4. Auflage 1932

2. Galton, Sir F.: Inquiries into human faculty and its development, Dent: London und Dutton: New York 2. Auflage 1907; Zit. n.:

Inquiries into human faculty and its develop- ment, AMS Press: New York Reprint 1973 3. Schwinger, E.; Pander H.-J. und Flatz, G.:

Eugenik — gab es jemals eine wissenschaft- liche Begründung?, in: Med. Welt 39 (1988) 1454-1459

4. van den Daele, W.: Mensch nach Maß?, C. H.

Beck: München 1985

5. Weingart, P.; Kroll J. und Bayertz, K.: Rasse, Blut und Gene, Suhrkamp: Frankfurt am Main 1988

Anschrift für die Verfasser:

Prof. Dr. med. Eberhard Schwinger Institut für Humangenetik

Med. Universität zu Lübeck Ratzeburger Allee 160 2400 Lübeck 1

A-1206 (46) Dt. Ärztebl. 86, Heft 17, 27. April 1989

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