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Archiv "Was ist Notlage? Was ist zumutbar?" (06.03.1980)

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DEUTSCHE S ÄRZTEBLATT

Ärztliche Mitteilungen

Herausgeber: Bundesärztekammer und Kassenärztliche Bundesvereinigung

Was ist Notlage?

Was ist zumutbar?

Gedanken anläßlich der Veröffentlichung

des Berichtes der „Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 StGB"

J. F. Volrad Deneke

Die „Kommission zur Aus- wertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 StGB" wurde aufgrund ein- stimmigen Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 21. März 1974 einge- setzt. Sie hat einen 561 Sei- ten umfassenden Bericht vorgelegt, der am 31. Januar 1980 der Öffentlichkeit über- geben worden ist. Damit ist die Diskussion zur Proble- matik der Änderung des § 218 des Strafgesetzbuches um ein neues aktuelles Do- kument bereichert worden.

Eine Zusammenfassung we- sentlicher Aussagen des Be- richtes ist für die nächste Ausgabe des DEUTSCHEN ÄRZTEBLATTES vorgese- hen. Der nebenstehende Kommentar beschäftigt sich mit der sogenannten Notla- gen-Indikation, ihrer Hand- habung und ihrer ideologi- schen Begründung.

Die vielleicht wesentlichste Feststellung des Berichtes der Bundes- regierung über die Erfahrungen mit dem „reformierten § 218 StGB"

findet sich als zusammenfassendes Ergebnis auf Seite 538, wo es heißt:

"Es läßt sich feststellen, daß ein großer Teil

— der Frauen sich mit ihren Problemen allein gelassen und durch den vorgeschriebenen Instanzenweg gedemütigt und zusätzlich belastet fuhlt,

— der Ärzte sich überfordert fühlt mit der Entscheidung über das Vorliegen einer Indikation, die einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigt;

—der Berater unter den Alltagserfahrungen mit ihrem zumeist uner- wünschten Beratungsangebot leidet;

—der Krankenhausärzte und -Schwestern psychisch belastet ist mit der Durchführung von Abbrüchen, insbesondere, wenn diese nicht in den ersten Wochen der Schwangerschaft erfolgen."

Trotz dieser Kapitulationserklärung zur Neufassung des § 218 StGB spricht sich der Bericht nicht für eine Novellierung des novellierten Paragraphen aus. Er stellt statt dessen fest,

„daß der Anpassungsprozeß an die durch die Reform veränderte Rechtslage noch nicht als abgeschlossen angesehen werden kann"

(Seite 526).

Und an anderer Stelle heißt es:

„Offensichtlich sind wesentliche Aspekte der Reform, die sowohl für die betroffenen Frauen als auch für die Berater und Ärzte in der täglichen Praxis von großer Bedeutung sind, nicht ausreichend geklärt und führen deshalb vielfach zur Verunsicherung" (Seite 28).

Aus alledem geht hervor, daß die Problematik der Notlagen-Indika- tion die eigentliche zentrale Frage der aktuellen Diskussion ist. Es geht jedoch auch daraus hervor, daß diese Diskussion nicht das Heft 10 vom 6. März 1980 569

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Erfahrungen mit dem § 218 StGB

seinerzeit behauptete Kernstück der Neufassung des § 218 StGB, nämlich die Beratung ist.

Erinnern wir uns:

„Kernstück des neuen Rechts ist die Beratung der Schwangeren vor dem Schwangerschaftsab- bruch, die ihr eine dem Wert der betroffenen Rechtsgüter entspre- chende Abwägung aller Interessen ermöglichen und Wege aufzeigen soll, ihre Notlage zu überwinden."

Die Lektüre des Berichtes der Kommission bestätigt, daß die Neufassung des § 218 StGB dieses Kernziel verfehlt hat und noch im- mer verfehlt. Wen wundert das, wenn man auf Seite 127 des Be- richtes lesen muß:

„Viele Berater fanden in der Bera- tung nach § 218 b ihre erste Be- rufstätigkeit nach der Ausbil- dung"?

Wenn ferner als Kern der Beratung die psychosoziale Konfliktbera- tung bezeichnet wird (Seite 98), dann wird noch deutlicher, wie weit Worte und Wirklichkeit aus- einanderklaffen. Wie kann denn die Konfliktberatung Kern der Be- ratung sein, wenn andererseits festgestellt wird, daß rund 90 Pro- zent der Betroffenen die Bera- tungsstellen bereits mit dem fe- sten und fest vorgefaßten Be- schluß zum Abbruch der Schwan- gerschaft aufsuchen? Der Glaube, Konflikte durch Beratung zu lö- sen, mutet demgegenüber entwe- der als unaufrichtig oder als naiv an. Leben heißt, auch mit Konflik- ten leben müssen, und viele Kon- flikte werden nicht dadurch ge- löst, daß man darüber spricht, sondern werden dadurch ertra- gen, daß man darüber spricht oder auch darüber schweigt.

Kernproblem bleibt die Notlagen- Indikation und deren „Handha- bung".

Hier muß zunächst festgestellt werden, daß das Gesetz keine De- finition des Begriffes „Notla- ge" gibt. Das Gesetz formuliert in

§ 218 a Abs. (2), wonach der Schwangerschaftsabbruch durch einen Arzt nach § 218 nicht straf- bar ist, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berück- sichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Ge- fahr einer schwerwiegenden Be- einträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszu- standes der Schwangeren abzu- wenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.

Diese Bedingungen gelten auch als erfüllt, „wenn nach ärztlicher Erkenntnis ... (3) der Abbruch der Schwangerschaft sonst ange- zeigt ist, um von der Schwangeren die Gefahr einer Notlage abzuwen- den, die (a) so schwer wiegt, daß von der Schwangeren die Fortset- zung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann, und (b) nicht auf eine andere für die Schwangere zumutbare Weise ab- gewendet werden kann."

Die Formulierung ist eine Wortgir- lande ohne Definition, in der außer dem Wort „Notlage" die Worte

„nicht verlangt werden kann" und

„zumutbare Weise" einzige An- haltspunkte darstellen.

Der Gesetzestext enthält mithin keine objektivierbaren Kriterien, obwohl der allgemeine Sprachge- brauch unterstellt, daß es für die Feststellung von Notlagen objekti- vierbare Kriterien gibt. Die Formu- lierung des Absatzes 3 weist je- doch mit den zusätzlichen Voka- beln „nicht verlangt werden kann"

und „zumutbare Weise" darauf hin, daß hier das subjektive Emp- finden eines Risikos den Notla- genbegriff manipuliert. Der Be- richt spricht vom „Recht der Frau, nicht über das zumutbare Maß hinaus zur Aufopferung eigener Lebenswerte gezwungen zu wer- den" (Seite 99). Damit wird das bisherige Wortverständnis von

„Notlage" praktisch verdrängt.

Dem entspricht die Übung, in der Diskussion das Wort „Notlagen-In-

dikation" durch die Formulierung

„soziale Indikation" auszuwech- seln.

„Sozial" — das heißt in bezug auf eine Notlage „von der Sozietät ab- hängig". Hier stellt sich die Frage, ob die besondere Situation einer Schwangeren von der Sozietät mitgetragen wird oder nicht. Und dies ist in erster Linie eine Frage des Partners, in zweiter Linie eine Frage der Familie und erst in wei- tem Abstand eine Frage des Ver- haltens der Nachbarschaft.

In erster Linie kommt es darauf an, daß die besondere Situation mora- lisch mitgetragen wird vom Part- ner und von der Familie. Nachge- ordnet ist die Frage, ob die Situa- tion auch wirtschaftlich von Part- ner und Familie mitgetragen wird.

In aller Regel bestätigt sich die Erfahrung, daß alles, was mora- lisch mitgetragen wird, auch wirt- schaftlich verkraftet werden kann.

Aber gerade hier an dieser Stelle zeigt sich, daß Partnerschaft und Familie eben weitgehend nicht mehr als tragende Kräfte bezeich- net werden können. Hier kommt die Familien- und Kinderfeindlich- keit der modernen Industriege- sellschaft der Bundesrepublik Deutschland voll zur Geltung. Dies wird praktisch vom Bericht bestä- tigt, indem darauf aufmerksam ge- macht wird, daß etwa 60 Prozent der gemeldeten Abbrüche durch verheiratete Frauen erfolgen und daß in rund zwei Drittel aller Fälle Lebendgeburten vorausgegangen sind.

Die Mentalität, die Partner und Fa- milie offenbar außerstande setzen, besondere Situationen mitzutra- gen, entspringt der Tatsache, daß die Konsumfreundlichkeit dieser Gesellschaft sie zu einer kinder- feindlichen Gesellschaft gemacht hat. Geschädigt werden auch die- jenigen Kinder, denen zweite und dritte Geschwister versagt bleiben

— zum Teil nachhaltig und in ih- rer sozialen Anpassungsfähigkeit schwer geschädigt.

Familienplanung in einer solchen Gesellschaft ist die Planung kon-

570 Heft 10 vom 6. März 1980 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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sumfreundlichen Lebens; kon- sumfreundlich - nicht menschen- freundlich.

Wenn geklagt wird, die Änderung des§ 218 StGB habe nicht zu "ei- ner Angleichul')g der Gesetzge- bung an die gesellschaftliche Rea- lität geführt", dann offenbart sich darin die Vorstellung einer Legali- sierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, auch wo diese den unverzichtbaren Anspruch des Grundgesetzes nach dem Schutz des Lebens im Mutterleib nicht mehr zu erfüllen gewillt ist, weil Einschränkungen eigener Hand- lungsfreiheit auch dort nicht mehr

als "zumutbar" empfunden wer-

den, wo die Entfaltung des eige- nen Lebens eindeutig auf Kosten des Lebens Dritter gelebt werden will.

Mit der Frage nach der Zumutbar- keit sind die gleichen Kriterien an- gesprochen, die auch zur Begriffs- bestimmung von "Gesundheit"

dienlich sind: Leistungsfähigkeit, Belastbarkeit und Empfindsam- keit. Im Zusammenhang mit der Problematik der Notlagen-Indika- tion muß in diesem Sinne nicht nur Empfindsamkeit, Belastbar- keit und Leistungsfähigkeit der werdenden Mutter, sondern auch die ihres unmittelbaren sozialen Umfeldes in Partnerschaft und Fa- milie mitbetrachtet werden. Zu- mutbar ist in diesem Sinne letzt- lich, was die werdende Mutter und ihre unmittelbare Partnerschaft und Familie als zurnutbar empfin- den, an Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit aufbringen.

An dieser Stelle wird deutlich:

C> Der Staat kann weder durch

Strafen noch durch Sozialhilfen den Verlust an Mitmenschlichkeit in Partnerschaft, Familie und Nachbarschaft ausgleichen.

Die Frage der Zumutbarkeit ist dementsprechend zugleich die Frage nach Lebensart und Wert- ordnung aller Beteiligten. Und hier muß konstati~rt werden, daß in großer Zahl offenbar die Schick-

salhaftigkeit von Naturgewalten einfach nicht mehr hingenommen

wird. Hier muß konstatiert werden,

daß der Verantwortungspegel der Allgemeinheit offenbar im Zeugen wie im Töten bis an die Grenze oder bis unter die Grenze der Überlebenschancen menschlicher Gesellschaft abgesenkt ist. Hier muß konstatiert werden, daß Schmerz und Entsagung weitge- hend nicht mehr als zurnutbar er- scheinen, obwohl Schmerz und Entsagung Elemente der Förde- rung und Feiung von Leben sind.

Was sich in dieser Szene als For- derung nach "Selbstverwirkli- chung" darstellt, ist Forderung nach Freiheit auf Kosten der Frei- heit anderer. Hier ist aber daran zu erinnern, daß die wahre Selbstver- wirklichung menschlicher Person nur in der Bewährung des Men- schen als soziales Wesen wachsen kann und nicht im Ausleben aus- schließlich der eigenen Individua- lität.

Der Bericht der "Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten § 218 StGB"

rührt allenthalben genau an diese Grenzen der Überlebenschance einer sozialverpflichteten Person wie der menschlichen Gesell- schaft überhaupt.

Die Grenzen der Toleranz Die in der Bundesrepublik Deutschland heute gelebte Gesell- schaft moralischer Freizügigkeit toleriert angeblich alle Wertord- nungen und Lebensarten der Selbstverwirklichung. Ist dies überhaupt möglich?

Die Toleranz hat ihre Grenzen mindestens dort, wo folgende Fra- gen gültig beantwortet werden müssen:

..,.. Was geschieht beim Zusam- menstoß differenter Wertord- nungen?

..,.. Wo liegt die Toleranzgrenze in- dividueller Selbstverwirklichung?

Erfahrungen mit dem§ 218 StGB

Nicht nur in der Beratung, son- dern auch in dem Anspruch und in den Konflikten der menschlichen Begegnungen anläßlich jeder Pro- blematik des § 218 StGB handelt es sich um vielfältige Zusßmmen- stöße differenter Wertordnungen.

Dabei zeigt sich als Kardinalfehler aller Versuche, die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs durch Strafen oder durch Sozial- hilfen regeln zu wollen, daß einer der Hauptbeteiligten im Gesetz überhaupt nicht vorkommt: der Partner der Schwangeren. Dies wi- derspricht zugleich aller Lebens- wirklichkeit; denn die Schwangere trägt in sich ein aus der Vereini- gung zweierPartnerentstandenes Leben, und damit muß zwangsläu- fig jeder Lösungsversuch schei-

tern, der im Geiste falsch verstan-

dener "Gleichberechtigung" die Verantwortung für das neue Le- ben ausschließlich der Frau auf- bürdet. Ist es danach verwunder- lich, wenn der Wille, auf Kosten anderer zu leben oder sich auszu- leben, dann schließlich auf Kosten des schwächsten Teiles, auf Ko- sten des ungeborenen Lebens ver- wirklicht wird? "Lieben", zu La- sten anderer - Leben zu Lasten anderer .. .

Der Bericht der "Kommission zur Auswertung der Erfahrungen mit dem reformierten§ 218 StGB" ist bereits andernorts kritischen Ana- lysen unterworfen worden. Er wird die aktuelle Diskussion wieder neu beleben, auch wenn oder gerade weil er tendenziös und in allzu breiten Passagen wissenschaftlich unseriös ist. Gerade weil zur Zeit keine der im Deutschen Bundes- tag vertretenen Parteien eine neu- erliche Änderung des§ 218 StGB den Wählern als Programm für die nächste Legislaturperiode des Deutschen Bundestages ver- spricht, bleibt vielleicht Zeit, die sachliche Diskussion um die exi- stentiellen Fragen für Risiken und Chancen des Überlebens von Indi- vidualität und Menschlichkeit zu erörtern, wie sie in der Diskussion um den § 218 StGB exemplarisch aufgegeben sind.

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 10 vom 6. März 1980 571

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