• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Humangenetische Beratung" (17.10.2003)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Humangenetische Beratung" (17.10.2003)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

D

ie humangenetische Beratung hat 50 Jahre nach Beschreibung der DNA-Struktur vor dem Hinter- grund der zunehmenden Anwendung humangenetischen Wissens in der medi- zinischen Praxis eine wichtige Rolle er- langt.

Paradigmenwandel in der angewandten Humangenetik

Die angewandte Humangenetik hat in der Vergangenheit mehrfach einen Para- digmenwandel durchlaufen. Das Ziel der Eugenik vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Verbesse- rung des Genpools. Mittel zur Durchset-

zung waren Zwangsmaßnahmen und Direktivität. Vorherrschendes Ziel mit Beginn der 1960er-Jahre war dann die Prävention. Sie sollte vor allem der indi- viduellen Leidensverminderung dienen und eine ökonomische Nutzung von Res- sourcen ermöglichen. Dieses Ziel war durch Paternalismus gekennzeichnet.

„Individuelle Entscheidungshilfe“ heißt heute das Ziel der angewandten Human- genetik. Dieses ist durch nichtdirektive Beratung charakterisiert.

Definition

Von den zahlreichen Definitionen ge- netischer Beratung in der Vergangen- heit ist die bereits 1974 von einem Ad Hoc Committee on Genetic Counseling der American Society of Human Gene- tics (4) diejenige, die weiterhin allge- mein anerkannt ist. Darin wird unter anderem ausgeführt:

„Genetische Beratung ist ein Kom- munikationsprozess, in dem menschli- che Probleme behandelt werden, die mit dem Auftreten oder der Möglichkeit des Auftretens einer Erbkrankheit in einer Familie zusammenhängen. Dieser Pro- zess beinhaltet das Bemühen einer oder mehrerer entsprechend ausgebildeter Personen, einem einzelnen oder einer Familie dazu zu verhelfen

>medizinische Fakten ein- schließlich Diagnose, Krank- heitsverlauf und Behandlungs- möglichkeiten zu verstehen,

>die Bedeutung von Erbfak- toren in der Ätiologie einer Er- krankung zu verstehen und Er- krankungsrisiken für bestimmte Verwandte richtig einzuschätzen,

>die Entscheidungsmöglich- keiten bei der Verarbeitung von Erkrankungsrisiken zu verste- hen,

>diejenige Verhaltensweise zu wählen, die in Anbetracht ei- nes Erkrankungsrisikos und der fami- liären Zielvorstellung angemessen er- scheint und sich entsprechend dieser Einstellung zu verhalten,

>die bestmögliche Einstellung zu der Erkrankung eines betroffenen Fa- milienmitgliedes beziehungsweise zu der Möglichkeit des Wiederauftretens einer Erkrankung zu gewinnen.“ ([4], Übersetzung G. Wolff)

Diese Definition war wesentliche Vorlage auch für die Formulierung ei- ner „Leitlinie zur Genetischen Bera- tung“ des Berufsverbandes Medizini- sche Genetik e.V. in ihrer aktualisierten Fassung aus dem Jahre 1996 (1).

Humangenetische Beratung

Zusammenfassung

Mit den wachsenden Möglichkeiten der gene- tischen Diagnostik wird die humangenetische Beratung in der klinischen Medizin zunehmend bedeutsam. Sie soll Ratsuchenden helfen, Fra- gen im Zusammenhang mit einer eventuell erb- lich bedingten Krankheit oder Entwicklungs- störung zu beantworten und mögliche Proble- me zu lösen. Häufige Anlässe einer humange- netischen Beratung sind unter anderem eine Erkrankung oder Entwicklungsstörung eines Kindes, eines Ratsuchenden oder eines Ver- wandten, so genannte altersbedingte Risiken, eine Blutsverwandtschaft der Ratsuchenden, habituelle Aborte, Totgeburten, Fertilitäts- störungen sowie die Sorge vor möglichen tera- togenen oder mutagenen Risiken. Die Ergeb- nisse der pränatalen und prädiktiven Diagno- stik sowie der Heterozygotendiagnostik kön- nen eine Tragweite besitzen, die sich von der Diagnostik im Rahmen der Abklärung einer kli- nischen Symptomatik unterscheidet. Die Ent- scheidung, sich einer derartigen Untersuchung zu unterziehen, sollte nach einer vorangegan- genen humangenetischen Beratung „infor- miert“ erfolgen. Es wird über Ziele, praktische Durchführung und Anlässe einer humangeneti- schen Beratung informiert.

Schlüsselwörter: humangenetische Beratung, Pränataldiagnostik, Gentest, Fertilitätsstörung, Heterozygotentest

Summary

Genetic Counseling

With increasing possibilities of genetic testing in clinical medicine genetic counseling becomes more and more important. Genetic counseling involves an attempt to answer questions and solve problems in connection with a possible genetic disorder. Reasons for genetic counseling among others are a possible genetic disorder in a child, a parent or a relative, advancing pater- nal age, consanguinity, multiple pregnancy loss, stillbirths, infertility, and possible mutagenic or teratogenic exposure. Prenatal diagnoses, predictive and heterozygosity testing may have implications which differ from those of con- ventional diagnoses in medicine. The decision for testing should only be made after genetic counseling. An overview about aims, practical aspects and possible reasons for genetic counsel- ing will be given.

Key words: genetic counseling, prenatal diag- nosis, genetic testing, fertility disorder, hetero- zygosity testing

Institut für Humangenetik (Direktor: Prof. Dr. med. Klaus Zerres), Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule, Aachen

Klaus Zerres

(2)

Regelung des Beratungsablaufs

Die „Leitlinie zur Genetischen Bera- tung“ des Berufsverbandes Medizini- sche Genetik (1) führt zum Ablauf der Humangenetischen Beratung unter anderem aus:

„Die Inanspruchnahme der Geneti- schen Beratung ist freiwillig. Sie darf nur unter Einhaltung der für ärztliche Maßnahmen geforderten Rahmenbe- dingungen (Aufklärungspflicht, Schwei- gepflicht, Datenschutz et cetera) durch- geführt werden. Über Ziele und Vor- gehensweise sollte der Berater vorab informieren. In der Regel sollten diese Informationen schriftlich gegeben wer- den. Der Ratsuchende sollte sein Ein- verständnis zur Durchführung der ge- netischen Beratung in der beschriebe- nen Form schriftlich geben.“ (1)

Die mit der Einverständniserklä- rung übermittelte Information soll dem Ratsuchenden unter anderem wichtige Informationen über die humangeneti- sche Beratung geben und strukturiert auf diese Weise den Erwartungshori- zont. Sie steckt gleichzeitig den Rah- men darüber ab, was der genetische Be- rater in der Regel zu leisten imstande ist und schützt ihn damit vor Überfor- derung. Sie definiert einen sinnvollen Vertragsumfang im Bereich der hu- mangenetischen Beratung (8). Hierin wird unter anderem ausgeführt:

„Eine Genetische Beratung soll Ih- nen helfen, Fragen zu beantworten und mögliche Probleme im Zusammen- hang mit einer eventuell erblich be- dingten Erkrankung oder Entwick- lungsstörung zu lösen, die bei Ihnen selbst, Ihren Kindern oder sonstigen Angehörigen besteht, oder die sie be- fürchten.Wie weit die genetische Bera- tung dabei tatsächlich hilfreich sein kann, hängt von der jeweiligen Störung und von Ihrer persönlichen Fragestel- lung ab. Beides legt fest, was im Rah- men der genetischen Beratung bespro- chen wird und bestimmt die Genauig- keit unserer Aussagen zu genetischen Risiken [. . .]

Eine umfassende Aufklärung über alle denkbaren genetischen Störun- gen ist nicht möglich. Ebensowenig ist es möglich, jedes Erkrankungsrisiko für Sie selbst oder Ihre Angehörigen

und insbesondere Ihre Kinder auszu- schließen. In manchen Fällen ist keine genaue Aussage zur Wahrscheinlich- keit des Auftretens einer bestimm- ten Krankheit oder Behinderung mög- lich [. . .]

Zu einer genetischen Beratung ge- hört regelmäßig:

>die Klärung Ihrer persönlichen Fra- gestellung und des Beratungsziels,

>die Erhebung Ihrer persönlichen und familiären gesundheitlichen Vor- geschichte (Anamnese),

>die Bewertung vorliegender ärztli- cher Befunde beziehungsweise Be- fundberichte,

>die körperliche Untersuchung von Ihnen oder Angehörigen, wenn dies für Ihre Fragestellung von Bedeutung ist,

>Untersuchungen an Blut oder an- deren Geweben, wenn dies für Ihre Fragestellung wichtig ist,

>eine möglichst genaue medizi- nisch-genetische Diagnose,

>eine ausführliche Information über die in Frage stehenden Erkrankungen beziehungsweise Behinderungen,

>eine Abschätzung spezieller gene- tischer Risiken,

>eine Beratung über die allgemei- nen genetischen Risiken,

>eine ausführliche Beratung über die möglichen Bedeutungen dieser In- formationen für Ihre Lebens- und Fa- milienplanung und gegebenenfalls für Ihre Gesundheit.

Medizinisch-genetische Diagnose- maßnahmen werden nicht ohne Ihre aktive Entscheidung hierzu durchge- führt. Die Beratung soll für Sie eine Entscheidungshilfe sein und es Ihnen erleichtern, Krankheitsrisiken persön- lich zu bewerten und sich auf sie einzu- stellen. Es bleibt Ihre Entscheidung, welche Konsequenzen Sie aus dem Be- ratungsgespräch ziehen [. . .]

Die wichtigsten Inhalte der Bera- tung werden Ihnen in einem verständ- lich gehaltenen Brief noch einmal mit- geteilt...Unsere Zusammenarbeit mit anderen Ärzten ist in der ärztlichen Berufsordnung geregelt. Danach kön- nen sie mitbestimmen, in welchem Umfang andere beteiligte Ärzte infor- miert werden.“ (8)

Die Abfassung des individuellen

„Beratungsbriefes“ ist ein wichtiger

Bestandteil der Beratung, er ist primär an die Ratsuchenden gerichtet und hat daher nicht die Form eines übli- chen medizinischen Gutachtens. Hier- bei sollten dennoch alle wesentlichen Aspekte einschließlich der oft kom- plexen formalen genetischen Über- legungen in einer für den Ratsuchen- den verständlichen Form angesprochen werden.

Humangenetische Beratung kann nichtdirektiv sein

Die Beschreibung der Ziele macht deutlich, dass Kommunikation ein zen- trales Element einer humangenetischen Beratung ist. Eine direktive Einfluss- nahme des Beraters auf die Ent- scheidungsfindung der Ratsuchenden wäre mit diesem Ziel nicht zu verein- baren.

Obwohl Nichtdirektivität ein we- sentliches Prinzip einer genetischen Beratung ist, wurde in den letzten Jah- ren vorgeschlagen, Nichtdirektivität als Beratungskonzept zugunsten des Begriffs der Erfahrungsorientiertheit als Beratungsgrundhaltung aufzuge- ben (12). Hierbei lässt sich der Bera- ter sehr wesentlich von den gemein- sam erarbeiteten Beratungszielen und Bedürfnissen der Ratsuchenden lei- ten.

Eine „aktive“ Beratung, also die Kontaktaufnahme des Beraters mit wei- teren Familienangehörigen ohne deren ausdrücklichen Wunsch, wird abgelehnt.

Es bleibt immer in das Ermessen des Ratsuchenden gestellt, nahe Verwandte selbst zu informieren.

Anlässe für eine

humangenetische Beratung

Geburt eines Kindes mit einer angeborenen Erkrankung oder Entwicklungsstörung

Neben der Frage der Diagnosestellung der kindlichen Erkrankung oder Ent- wicklungsstörung selbst, die ganz im Vordergrund stehen kann, ist hierbei die Sorge über ein erhöhtes Wiederho- lungsrisiko bei bestehendem Kinder- wunsch häufiger Anlass für die Inan- A

A2722 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4217. Oktober 2003

(3)

spruchnahme einer humangenetischen Beratung. Eine verlässliche Risikoan- gabe setzt in der Regel eine präzise Diagnose der zur Debatte stehenden Erkrankung voraus. Die Möglichkei- ten der pränatalen Diagnostik können vor allem im Zusammenhang mit sehr schweren Krankheiten ein wichtiges Thema sein.

Erkrankungen oder Entwicklungsstörungen bei Verwandten

Auch bei diesem Beratungsanlass kann die Ermittlung des individuellen Er- krankungsrisikos für den Ratsuchen- den oder dessen Kinder ganz im Vor- dergrund stehen. Nicht selten muss da- bei der Versuch unternommen werden, Informationen über die betreffende Krankheit in der Familie zu erhalten und einzuordnen. In der Regel setzt dies eine Kommunikation innerhalb der Familie voraus.

Formalgenetische Aspekte sind hier- bei wie auch bei anderen Fragestellun- gen oft von zentraler Bedeutung. Eine Stammbaumanalyse und gegebenen- falls Riskoberechnung können Erkran- kungsrisiken entscheidend modifizie- ren, im günstigsten Fall gänzlich aus- schließen. Von besonderer Wichtigkeit kann die Frage der prädiktiven Dia- gnostik einer spätmanifesten Erkran- kung sein.

Altersbedingte Risiken

Eine steigende Anzahl von Kindern wird von Müttern, die 40 Jahre und äl- ter sind, geboren. Das mit zunehmen- dem mütterlichen Alter ansteigende Risiko vor allem für die Geburt eines Kindes mit Down-Syndrom wird im Allgemeinen dramatisch überschätzt.

Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Inanspruchnahme vorgeburtlicher Diagnostik, die heute oft ohne voran- gegangene humangenetische Beratung erfolgt.

Die Praxis der Aufklärung über Aus- sagekraft, Grenzen aber auch Risiken vorgeburtlicher Untersuchungen ist leider häufig ungenügend. Ein erhöh- tes Vateralter ist hingegen nicht mit wesentlichen kindlichen Risikoerhö- hungen verbunden.

Blutsverwandtschaft

Verwandte Ratsuchende sind oft stark verunsichert, wozu nicht selten Famili- enangehörige mit Vorhaltungen beige- tragen haben. Für Kinder bestehende Risiken, die sich aus einer Verwandt- schaftsbeziehung ergeben, sind oft ent- gegen der Befürchtungen der Ratsu- chenden eher klein, wenn sich in der Verwandtschaft keine Hinweise auf re- levante Erkrankungen ergeben. Eine umfassende Stammbaumerhebung ist Bestandteil jeder Beratung, sie ist im Falle einer Verwandtenehe wesentli- che Basis für die Risikobeurteilung.

Ergeben sich bei Familienangehörigen jedoch Hinweise zum Beispiel auf eine autosomal rezessiv erbliche Krankheit, kann ein mögliches Risiko für das Kind sehr hoch sein. Der ethnische Hinter- grund der Ratsuchenden ist sowohl wegen der unterschiedlichen Häufig- keit von Verwandtenehen aber auch krankheitsverursachender Erbanlagen wie zum Beispiel für die Thalassämie in einigen Bevölkerungen des Mittel- meerraums für die Risikobeurteilung bedeutsam. Eine mögliche Anlageträ- gerdiagnostik (Heterozygotentestung) kann im Rahmen dieser Fragestellung sehr wichtig sein.

Habituelle Aborte, Totgeburten oder pränatal

diagnostizierte Auffälligkeiten

Etwa jede achte Schwangerschaft en- det in einer Fehlgeburt, deren Ursache in vielen Fällen nicht aufgeklärt wer- den kann. Eine erbliche Ursache kann nur selten nachgewiesen werden. Nu- merische meist spontan entstandene Chromosomenstörungen finden sich hingegen in circa 50 Prozent der Spontanaborte und sind eine häufige Ursache. Da sie jedoch in der Regel nicht mit erhöhten Wiederholungsrisi- ken einhergehen, liefert eine Chromo- somenanalyse aus Abortmaterial in der Regel keine wesentlichen Er- kenntnisse für weitere Schwanger- schaften und ist daher im Allgemeinen auch nicht sinnvoll. Elterliche Chro- mosomenanalysen nach zwei vorange- gangenen ungeklärten Aborten erfol- gen zum Ausschluss beziehungsweise Nachweis einer erblichen elterlichen

Chromosomenveränderung (so ge- nannte balancierte Translokation), die bei circa fünf Prozent der Paare mit zwei vorangegangenen Aborten nach- gewiesen werden kann. Das gehäufte Auftreten von Aborten/Totgeburten in einer Familie kann ebenso wie das Vor- kommen körperlich und geistig behin- derter Personen Hinweis auf das Vor- liegen einer erblichen Chromosomen- störung sein. Bei Totgeburten liegen häufig Fehlbildungen vor, deren Ein- ordnung und weitere diagnostische Ab- klärung meist entscheidend für die An- gabe möglicher Wiederholungsrisiken ist. Eine präzise pathologisch anato- mische Untersuchung ist in diesen Fäl- len als Basis für eine spätere human- genetische Beratung sehr wichtig. Die Beurteilung pränatal diagnostizierter komplexer fetaler Auffälligkeiten sollte in enger Zusammenarbeit zwischen Frauenarzt und Humangenetiker erfol- gen. Nicht selten gelingt eine Einord- nung der nachgewiesenen Auffälligkei- ten oder kann eine weiterführende Diagnostik veranlasst werden.

Störungen der Fertilität

Die Abklärung genetischer Ursachen von Fruchtbarkeitsstörungen geschieht in enger Zusammenarbeit mit dem Reproduktionsmediziner. Eine human- genetische Beratung sollte bei auffälli- gen Untersuchungsbefunden (zum Bei- spiel Chromosomenstörungen) erfol- gen oder, wenn sich im Rahmen der Fa- milienanamnese Hinweise auf Erkran- kungen ergeben, die genetisch bedingt sein könnten.

Teratogene, mutagene Einflüsse

Mögliche Befürchtungen vor Störun- gen beim Kind werden in diesem Zu- sammenhang häufig überschätzt. Die Zahl der Medikamente mit nachgewie- sener teratogener/mutagener Wirkung ist eher klein. Strahlenrisiken wer- den ebenfalls oft überschätzt. Wurde früher zum Beispiel nach einer zurück- liegenden Chemotherapie beziehungs- weise Bestrahlung von der Zeugung ei- nes Kindes „abgeraten“, ist heute be- kannt, dass mögliche Risiken für das Kind in diesen Fällen eher klein sind.

Eine umfassende Information führt

(4)

häufig daher zu einer Beruhigung der Ratsuchenden. Drogen- und Alkohol- konsum erfordern vor allem für die schwierig zu quantifizierende Alkohol- einnahme eine differenzierte Beurtei- lung. Es gilt heute als gesichert, dass die Einnahme auch geringer Alkohol- mengen eine ungünstige Wirkung auf die Entwicklung des Kindes haben kann. Pränatale Infektionen gehören oft zu den sehr komplexen Beratun- gen, die im Allgemeinen auf der Basis umfassender Untersuchungsbefunde interdisziplinär erfolgen. Die Möglich- keiten vor allem aber Grenzen der vor- geburtlichen Diagnostik sind ein wich- tiges Thema dieser Beratungen.

Komplexe genetische Diagnostik

Für die komplexen Fragestellungen der pränatalen genetischen Diagno- stik, Heterozygoten- und prädiktiven Diagnostik hat die humangenetische Beratung zentrale Bedeutung. Im Ge- gensatz zur Diagnostik in der klini- schen Medizin mit dem überwiegen- den Ziel der Abklärung einer beste- henden Symptomatik, kann genetische Diagnostik unabhängig von der klini- schen Symptomatik erfolgen und er- laubt damit Aussagen mit einer gänz- lich anderen Bedeutung für die unter- suchte Person. Der humangenetischen Beratung kommt als zentraler Be- standteil der Trias „Beratung – Dia- gnostik – Beratung“ hierbei besondere Bedeutung zu.

Pränatale genetische Diagnostik Möglichkeiten und Grenzen einer prä- natalen Untersuchung sollten im Rah- men einer ausführlichen Beratung erörtert werden. Dies gilt sowohl für die spezielle Diagnostik zum Beispiel bei hohem Wiederholungsrisiko für die Geburt eines Kindes mit einer schwe- ren erblichen Erkrankung, aber auch für die „klassischen“ Verfahren einer Chromosomenanalyse nach vorange- gangener Chorionzottenbiopsie oder Amniozentese als so genannte „Alters- indikation“, die heute vielfach ohne humangenetische Beratung zu einem Routineverfahren geworden sind. Eine

umfassende Beratung über Aussage- fähigkeit und mögliche Konsequenzen so genannter Screeningverfahren zur Modifikation der Risiken für das Kind, vor allem für eine Chromosomen- aberration, wie Ersttrimesterscreening oder Triple-Test, wäre ebenfalls wün- schenswert. Leider wird eine Bera- tung oft nicht vor Inanspruchnahme dieser Untersuchungen in Betracht ge- zogen, und es werden dann sehr oft, ge- wissermaßen als Automatismus, Folge- untersuchungen in Anspruch genom- men (10).

Heterozygotentestung

Der molekulargenetische Nachweis der Anlageträgerschaft für eine auto- somal rezessiv erbliche Erkrankung (Heterozygotentest) ist für eine zu- nehmende Anzahl oft sehr schwerer Krankheiten möglich. Die Untersu- chungsergebnisse können für Betrof- fene eine wichtige neue Handlungs- option hinsichtlich der Lebens- und Familienplanung eröffnen. Heterozy- gotie ist im Allgemeinen nicht mit ge- sundheitlichen Konsequenzen verbun- den. Unverzichtbar als Voraussetzung ist eine umfassende Aufklärung über Häufigkeit, Ursache, Symptomatik, Verlauf und Therapie derjenigen Er- krankung, auf deren Anlageträger- schaft hin untersucht werden soll. Nur auf der Basis dieses Wissens kann eine qualifizierte, individuelle Zustimmung oder Ablehnung erfolgen. Eine solche Aufklärung beugt darüber hinaus der Gefahr der Diskriminierung betroffe- ner Personen und Familien vor. Die Deutsche Gesellschaft für Humange- netik lehnt zum jetzigen Zeitpunkt ein Bevölkerungsscreening ab, da die be- reits genannten Rahmenbedingungen hierfür nicht gegeben sind. (5)

Prädiktive Diagnostik

In ihrer „Stellungnahme zur postnata- len prädiktiven genetischen Diagno- stik“ (7) der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik wird unter ande- rem ausgeführt: „Prädiktive genetische Diagnostik bedeutet die Untersuchung eines gesunden Menschen auf Anla- gen hin, die zu Erkrankungen im späte- ren Leben disponieren. Im Hinblick

auf Erkrankungen, die verhinderbar oder behandelbar sind, kann diese Un- tersuchung im individuellen Fall eine wichtige Hilfe bei Entscheidungen über individuelle präventive oder the- rapeutische Maßnahmen sein. Bei nicht behandelbaren Erkrankungen kann prädiktive genetische Diagnostik Per- sonen, die ein Erkrankungsrisiko für sich oder ihre Nachkommen befürch- ten, wichtige Entscheidungsoptionen hinsichtlich der Lebens- und Familien- planung eröffnen. Aus ethischen Grün- den kann deshalb prädiktive geneti- sche Diagnostik betroffenen Personen nicht vorenthalten werden.“(7) Die Forderung eines umfangreichen Infor- mationsangebotes im Rahmen einer humangenetischen Beratung ist eine wichtige Voraussetzung für derartige Untersuchungen. Die Untersuchung von Kindern sollte nur dann erfol- gen, wenn sich aus dem Ergebnis der Untersuchung therapeutische Konse- quenzen für das Kind ergeben (6, 13).

Zahlreiche Empfehlungen zur prädik- tiven Testung wurden in enger Zusam- menarbeit mit Selbsthilfeverbänden entwickelt und sind fester Bestandteil interdisziplinärer Vor- und Nachbe- treuungsprogramme geworden. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundes- ärztekammer hat sich mit den „Richtli- nien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen“

(9) und der „Richtlinie zur prädiktiven genetischen Diagnostik“ (11) umfas- send zu dieser Problematik geäußert.

Der humangenetischen Beratung wird in den genannten Richtlinien aus- nahmslos eine zentrale Rolle zugewie- sen.

Voraussetzung für die Durchführung

humangenetischer Beratung

Zu den Voraussetzungen für die selbstständige und verantwortliche Durchführung einer humangeneti- schen Beratung und Begutachtung zählt der Nachweis einer mindestens zweijährigen Tätigkeit auf diesem Ge- biet und die entsprechende Qualifika- tion (Facharzt für Humangenetik und bisher Zusatzbezeichnung Medizini- sche Genetik). Der rasante Wissenszu- A

A2726 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4217. Oktober 2003

(5)

wachs in der Humangenetik, der oft unmittelbaren Eingang in die Praxis hat, erfordert die permanente Nut- zung aktueller Informationsquellen und eine intensive Kommunikation mit einer Vielzahl von Ansprechpart- nern für die sehr unterschiedlichen Krankheitsgruppen. Wie die vorange- gangenen Ausführungen belegen, ist eine oft enge Zusammenarbeit mit an- deren Fachärzten unerlässlich. Zu zahlreichen Selbsthilfegruppen be- steht häufig ebenfalls ein guter Kon- takt. Die Weiterbildung im Gebiet Hu- mangenetik und bisher im Bereich Medizinische Genetik schließt den Er- werb von Kenntnissen der ethischen und psychologischen Grundlagen der genetischen Beratung ein. Ein umfas- sendes begleitendes Angebot als Be- standteil der Weiterbildung zum Fach- arzt für Humangenetik besteht seit vielen Jahren.

Wachsendes Angebot genetischer Tests

Die humangenetische Beratung wird im Zeitalter einer stetig wachsenden Zahl genetischer Tests wichtig und ver- hindert unsinnige und kostspielige Diagnostik. Derzeit können circa 1 500 verschiedene zum Teil sehr seltene monogene und komplexe Krankheiten auf DNA-Ebene analysiert werden. In Deutschland sind dies zurzeit etwa 300. Diese Zahl nimmt ständig zu. Für eine Vielzahl monogener Krankheiten sichert der Nachweis krankheitsverur- sachender Mutationen bei entspre- chendem klinischen Verdacht die Dia- gnose oder erlaubt im Rahmen einer prädiktiven Testung die Angabe eines meist hohen individuellen Erkran- kungsrisikos. Ein DNA-Test ersetzt heute oft zum Teil invasive diagnosti- sche Maßnahmen. Daneben wird die Untersuchung einer zunehmenden An- zahl von Suszeptibilitätsgenen möglich, die jedoch oft nur eine geringe statisti- sche Modifikation eines Erkrankungs- risikos erlauben und in der Regel kei- ne neuen Handlungsoptionen eröff- nen. Obwohl ihr diagnostischer Wert in vielen Fällen äußerst zweifelhaft ist, wird ihr Einsatz zunehmend unkritisch mit kommerziellen Absichten propa-

giert und zum Beispiel in größerem Stil durch das Internet angeboten. Derarti- ge Tests sind medizinisch oft sinnlos, sie lösen nicht selten unberechtigte Krankheitsängste aus oder suggerie- ren meist ebensowenig berechtigt, den Ausschluss eines möglichen Erkran- kungsrisikos.

Humangenetische Beratung ausbauen

Dem Wandel der modernen klinischen Medizin muss durch Ausbau der hu- mangenetischen Beratung Rechnung getragen werden.

In umfassenden Stellungnahmen haben die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik e.V. und der Berufsver- band Medizinische Genetik e.V. aber auch die Bundesärztekammer die Be- deutung der humangenetischen Bera- tung hervorgehoben. Neben Fach- und Standesorganisationen hat auch die Politik die Bedeutung der humangene- tischen Beratung immer wieder unter- strichen. Die erste Enquete-Kommissi- on „Chancen und Risiken der Gen- technologie“ des 10. Deutschen Bun- destages (2) hat bereits 1987 dessen Bedeutung ebenso klar formuliert wie die Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ (2002) (3): „Die Enquete-Kommission fordert den Deutschen Bundestag auf, dafür Sorge zu tragen, dass die Etablierung eines flächendeckenden, wohnortna- hen, niedrigschwelligen, umfassenden und qualitativ hoch stehenden Ange- bots an humangenetischer und psycho- sozialer Beratung in Deutschland rechtlich und finanziell sichergestellt wird“ (3).

Ausblick

Das im Kanon der klassischen Diszi- plinen der Medizin in weiten Berei- chen bisher oft zu wenig wahrgenom- mene Fach Humangenetik wird in ei- nem Zeitalter der molekularen Medi- zin vor allem durch die humangeneti- sche Beratung eine zentrale Schlüssel- stellung für die verantwortungsvolle Anwendung genetischen Wissens in der klinischen Praxis einnehmen. Vor-

aussetzung hierfür ist der konsequente Ausbau qualifizierter humangeneti- scher Beratung sowie eine verbindli- che Regelung von Rahmenbedingun- gen für die Anwendung genetischer Tests.

Manuskript eingereicht: 26. 5. 2003, angenommen:

17. 7. 2003

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2003; 100: A 2720–2727 [Heft 42]

Literatur

1. Berufsverband Medizinische Genetik e.V.: Leitlinien zur Genetischen Beratung. Med Genetik 1996; 8:

Heft 3, Sonderbeilage 1–2.

2. Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (eds.), Enquete-Kommission Chancen und Risiken der Gentechnologie 1987, Bericht. Bonn 1987 3. Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit

(eds.) Enquete-Kommission Recht und Ethik der mo- dernen Medizin 2202, Schlussbericht (zur Sache 2/2002). Berlin 2002: 384.

4. Epstein C et al.: Genetic counseling (statement of the American society of human genetics ad hoc committee on genetic counseling) Am J Hum Genet 1975; 27: 240–242.

5. Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische Fragen der Gesellschaft für Humangenetik e.V.: Stel- lungnahme zum Heterozygoten-Bevölkerungsscree- ning. Med Gen 1991; 3: 11.

6. Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische Fragen der Gesellschaft für Humangenetik e.V.: Stel- lungnahme zur genetischen Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen. Med Genetik 1995; 7: 358–359.

7. Kommission für Öffentlichkeitsarbeit und ethische Fragen der Gesellschaft für Humangenetik e.V.: Stel- lungnahme zur postnatalen prädiktiven genetischen Diagnostik. medgen 2000; 12: 376–377.

8. Kommission zur Erarbeitung von Richtlinien für die genetische Beratung des Berufsverbandes Medizini- sche Genetik e.V.: Information zur genetischen Bera- tung und Einverständniserklärung. Med Genetik 1994; 6: 305–306.

9. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer.

Richtlinie zur Diagnostik der genetischen Dispositi- on für Krebserkrankungen. Dtsch Arztebl 1998; 95:

A 1396–1403 [Heft 2].

10. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer.

Richtlinien zur pränatalen Diagnostik von Krankhei- ten und Krankheitsdispositionen. Dtsch Arztebl 1998 95: A 3236–3242 [Heft 50]. Ergänzung: Dtsch Arztebl 2002; 99: A 875 [Heft 13].

11. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer:

Richtlinie zur prädiktiven genetischen Diagnostik.

Dtsch Ärztebl 2003; 100: A 1297–1305 [Heft 19].

12. Wolff G, Jung C: Nichtdirektivität und Genetische Beratung. Med Genetik 1994; 6: 195–204.

13. Zerres K: Molekulargenetische Diagnostik im Kin- desalter. medgen 2001; 13: 112–116.

Anschrift des Verfassers:

Prof Dr. med. Klaus Zerres Institut für Humangenetik Pauwelsstraße 30 52074 Aachen

E-Mail: kzerres@ukaachen.de

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Beispiel: El- tern, die ein hohes Wiederholungsrisi- ko für eine bekannte genetische Er- krankung haben und die pränatale Diagnostik vermeiden wollen, weil sie bei Bestätigung

Nicht für die Gesellschaft ist das Austragen einer Schwangerschaft aufgrund unerwünschter Gene nicht zumutbar, sondern für die konkret betroffene Mutter beziehungsweise Familie

Weniger direktiv, aber doch mehr oder weni- ger deutlich einflußnehmend ver- hielten sich die Berater auch dann, wenn die Ratsuchenden die Beein- trächtigung durch eine Behinderung

Weniger direktiv, aber doch mehr oder weni- ger deutlich einflußnehmend ver- hielten sich die Berater auch dann, wenn die Ratsuchenden die Beein- trächtigung durch eine Behinderung

Daraus ergibt sich, daß die Indikation für die Durch- führung einer molekulargenetischen Analyse der BRCA1- und BRCA2- Gene auch für Familien mit zwei Be- troffenen und nur

Das ist leider weit gefehlt: Bis zu 29 neue Atomreaktoren sollen nach den Plänen der Atomindustrie in den nächsten Jahren in Europa gebaut werden.. Für diese wahre Lawine an

Aufgrund der PXE- typischen Veränderungen des elastischen Bindegewebes, welche den bekann- ten histopathologischen Befunden bei Moyamoya ähnlich sind, wird die Hypo- these

Deutlich wird hierbei die typische zweizeitige Inzidenz der Erkrankung im Kindes- (juvenile Form, unter 18 Jahren) und Erwachsenenalter (adulte Form, 30 bis 50 Jahre) mit