Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FORUM
„Multiple choice"
muß durch mündliche Prüfungen ergänzt werden
Kritik des vorklinischen Studiums
nach der neuen Approbationsordnung für Ärzte
Paul Glees
Ausgehend von zwei Beiträ- gen des DEUTSCHEN ÄRZ- TEBLATTES (Arnold in Heft 8/1976 und Daser/Pohl in Heft 25/1976) schildert der Verfasser nachteilige Auswir- kungen des Multiple choice- Verfahrens auf das Studien- verhalten. Er beläßt es nicht bei der Kritik, sondern macht außerdem zwei Verbesse- rungsvorschläge.
Einschneidende Maßnahmen sind für die Ausbildung der Mediziner durch die neue Approbationsord- nung getroffen worden. Die erste Maßnahme: Für die Vorklinik wur- de der Stoff erweitert, so um die medizinische Soziologie. Anderer- seits wurde die Zahl der Semester von fünf auf vier herabgesetzt.
Schon daraus resultiert ein unge- rechter Leistungszwang, denn der neue Sachkatalog kann von den Studenten in vier Semestern nicht bewältigt werden. Die zweite Maß- nahme: die Aufhebung einer Ver- pflichtung zum Vorlesungsbesuch (das An- und Abtestieren wurde schon früher abgeschafft). Nur noch die Hauptkurse (wie in mei- nem anatomischen Gebiete) ver- langen die physische Gegenwart des Studenten. Der Histologiekurs und der Präparierkurs wurden in- haltlich stark verkürzt, aber noch als scheinpflichtig beibehalten.
Eine unmittelbar katastrophale Auswirkung hat jedoch die dritte Maßnahme: die Trennung von Leh- re und Prüfung.
Die schriftlichen Prüfungsfragen nach dem Prinzip der Ja- oder Nein-Antworten werden jetzt durch eine zentrale Prüfungsbehörde, das Institut für medizinische und phar- mazeutische Prüfungsfragen in Mainz, ausgewählt. Hierzu schreibt Arnold mit vernichtender Kritik, daß diese Prüfung keinen Fähig- keitsnachweis und keine Prüfung am Objekt ermöglicht. Damit ist eine völlige Trennung zwischen Hochschulunterricht und den frü-
her dort abgelegten Prüfungen er- folgt. Dem Hochschullehrer fehlt von jetzt ab jede unmittelbare Rückmeldung über den Erfolg sei- nes Bemühens im Unterricht, so- weit es nicht die elementaren Pflichtkurse betrifft. Gerade in der Morphologie, die ein beschreiben- des gegenständlich betontes — im Gegensatz zur Physiologie und Biochemie nicht abstrahierbares Fach ist, ist zentrale schriftliche Prüfung mittels Antwort-Wahl-Ver- fahren verheerend. Ich sehe in Göt- tingen im morphologischen Unter- richt eine starke Abkehr von dem bildlich im Unterricht und im Buch dargebotenen und ein Verlangen nur auf den Fragenkatalog Mainz vorbereitet zu werden, ein Verhal- ten, das auch Arnold in Tübingen feststellt.
Studenten erwarten nur noch Einschulung auf Richtig-Falsch-Antworten Die Auswahl der Medizinstudenten nur auf Grund von Abiturnoten ist falsch. Nach Einführung der zentra- len Prüfung durch Mainz entstand trotz der Zulassungsbeschränkung ein paradoxer Zustand in dem Hör- saal für Histologie und Neuroana- tomie und zum Teil in den Kursen der Neuroanatomie. Von den Hör- saalplätzen werden höchstens 20 bis 25 Prozent ausgenutzt gegen- über 70 bis 80 Prozent in früheren Zeiten, d. h., die Zulassungsbe- schränkung führt zu einem freiwilli- gen Verzicht des Lehrangebotes
und damit ein Freiwerden von nicht gebrauchten Studienplätzen. Da- durch werden die bereits abgewie- senen Studienbewerber doppelt geschädigt. Die Zugelassenen wählen zu 80 Prozent nur Medizin, um „snob value" der Erwählten zu genießen, denn einmal zugelassen, glänzen sie durch Abwesenheit oder snobistische Gleichgültigkeit dem Lehrangebot gegenüber. „Für Mainzer Ankreuzung der compute- risierbaren Examensfragen reicht es ja immer", so sagt die Mehrheit der jetzigen Studenten.
Der Entzug des Prüfungsrechtes des Universitätsdozenten und die Übertragung der Prüfungen an das zentrale Prüfungsinstitut Mainz hat ein sich durch den Unterricht mit nachfolgendem Examen langsam anbahnendes Vertrauen- und Inter- essenverhältnis von Student und Dozent völlig zerstört. Der Dozent wird . von dem Studenten nur noch dahingehend gewählt, wie nützlich seine Lehre für seine „Multiple choice"-Aufgaben aus Mainz ist.
Der Student erwartet keinen ver- bindenden Lehrtext, keine Hinweise auf Biologie oder klinische Medi- zin, nur noch ein Einschulen auf
„Richtig- bzw. Falsch-Antworten"
des Fragenkataloges. Diese er- schreckende Bedürfnislosigkeit zeigte sich besonders in den klei- nen Gruppen eines Kurses, denn eine entstehende echte fachbezo- gene Diskussion wird als störend empfunden. Sollte sie sich doch einstellen, so verläßt die Hälfte der durch Zulassung erwählten Stu-
2972 Heft 46 vom 11. November 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
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denten demonstrativ den Lehrraum und verwandelt ihn in einen Leer- raum.
Lösungsvorschläge
Prüfung von Medizin-Studenten
abschließend nach einem fünften Semester hinzukommen. Ein Stu- dium von vier vorklinischen Seme- stern und ein „Multiple choice"- Abschlußexamen sind ungenü- gend.
FORUM
Das Management der ärztlichen
Betreuung
Zur Abhilfe:
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Aus den nachprüfbaren Tatsa- chen ergibt sich eine ernste vor- dringliche Forderung, die Beset- zung der nicht beanspruchten Hör- saalplätze durch abgewiesene Stu- dienbewerber, also eine be- schränkte Zulassung zum „Hörstu- dium" einer zweiten Garnitur, da- mit wenigstens das Lehrangebot in Hörsälen ausgenutzt werden kann.Diese zusätzlichen Zugelasse- nen sollten dann von den betreffen- den Dozenten Ende des Semesters einer Leistungsprüfung unterzogen werden, um sie dann entweder in noch freie Kursplätze einzuschleu- sen oder für sie besondere Ferien- kurse zu schaffen.
Ich bin mir aller Schwierigkeiten und Widerstände, die aus diesem Vorschlag kommen, bewußt, denn ich bin seit 40 Jahren Universitäts- lehrer. Jedoch den jetzigen indo- lenten Zustand einer priviligierten Klasse der konkurrenzlos Zugelas- senen hinzunehmen, wäre kulturell und volkswirtschaftlich unverant- wortlich. Die zuständigen Stellen haben diese katastrophale Ent- wicklung mitverursacht, indem sie durch neue Approbationsordnung für Ärzte notwendige, integrierende Vorlesungen als nicht verpflichtend bezeichneten; nur noch Kursbe- scheinigungen sind notwendig zur Anmeldung für die Examina in Mainz! Die deutsche Medizin hat jetzt durch die denkbar schlechte- ste Kombination der alten und neu- en Approbationsordnung einen un- genügend ausgebildeten Nach- wuchs zu erwarten, der schon nach vier Semestern in die Klinik
„versetzt" wird.
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Zu den schriftlichen Prüfungen von Mainz müssen noch gleich- wertige mündliche Ergänzungsprü- fungen universitätsgebundener ArtWeder ein ständig- dem Wissen nachhinkender Mainzer Katalog, noch Kurse, die in der Anatomie zum Beispiel nur seit Jahrzehnten unverändertes Grundwissen über den Aufbau des Menschen vermit- teln, genügen. Das Verarbeiten breiter intelligent aufgebauter Vor- lesungen ist wichtiger, als das Sammeln von Kursscheinen. Die Überbewertung der Kurstätigkeit alleine bildet weder einen denken- den Studenten noch hilft sie dem akademischen Nachwuchs zu einer vollen Dozentenlaufbahn. Die Kur- se liefern nur Einzelaufgaben spe- zialisierter Art und können audiovi- suel geleitet werden. Integrierend und leistungsanregend sind nach wie vor nur Vorlesungen, die Zu- sammenhänge zwischen Vorklinik und Klinik herstellen und auf einem kritisch naturwissenschaftlichen Boden stehen und neue Erkennt- nisse einschließen, die von der Sa- che her nicht in Kurse eingebaut werden können.
Zum Schluß möchte ich noch auf die Ausführungen von Schuchardt und Novotny (Niedersächsisches Ärzteblatt 11/1974) hinweisen, die zu einem fachgerechten vorklini- schen Unterricht ausführlich Stel- lung nehmen. Ebenso wesentlich sind die studentischen Reaktionen zu den hier angeführten Fragen, besonders die kritische Bewertung des „Multiple choice" durch Daser und Pohl („,Multiple choice` führt zu einer Zweiteilung des Medizin- studiums" in DEUTSCHES ÄRZTE- BLATT, Heft 25/1976).
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Paul Glees M. AD. Phil. (Oxon.) Kreuzbergring 36 Institut für Histologie und Neuroanatomie der Universität 3400 Göttingen
Vorschläge
zur Bedarfsermittlung
Alexander Pescaru
Die wachsende Kosteninten- sität des Gesundheits- und Krankenhauswesens in allen zivilisierten Ländern erfordert eine mittel- und langfristige Vorausschätzung der „Plan- daten" zur Deckung des am- bulanten und stationären Versorgungsbedarfs. Ein Dis- kussionsbeitrag gibt Anre- gungen für die Gesundheits- politik und das Management der ärztlichen Betreuung.
Unabhängig vom Gesundheitssy- stem und Gesundheitspolitik muß sich das Management der ärztli- chen Betreuung zunächst zwei Fra- gen stellen:
1. Wieviel Krankenhausbetten braucht eine Gemeinde?
2. Wieviel Ärzte braucht diese Ge- meinde?
Diese Antworten haben für heute und die Zukunft große Bedeutung.
Man kann ein Krankenhaus in un- gefähr zwei bis fünf Jahren bauen, jedoch wird dieses 50 oder gar 100 Jahre in Betrieb sein. Die Ausbil- dung eines Arztes dauert sechs Jahre, aber er wird fast 40 Jahre arbeiten können. Bei einer richti- gen Planung der ärztlichen Betreu- ung muß daher gefragt werden, ob die heutigen Werte auch für die Zukunft gelten. Deshalb ist folgen- des zu berücksichtigen:
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 46 vom 11. November 1976 2973