vom Ursemitischen zum Hebräischen 1
Von Rainer Voigt, Berlin
1. Methodik
Die aspektuellen (Tempus/Aspekt/Modus-) Bildungen in den verschiedenen
semitischen Sprachen weichen zum Teil so erheblich voneinander ab, daß
eine Rekonstruktion der ursprünglichen Formen in der Geschichte der Se-
mitistik zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. Zu sicheren Schluß-
folgerungen gelangt man, wenn man nach folgenden Grundsätzen verfährt:
a) Es müssen in erster Linie Sprachen mit archaischer Morphologie heran¬
gezogen werden, d.s. vor allem die älteren semitischen Sprachen. Nur in
eingeschränktem Umfang dürfen diejenigen Sprachen einbezogen werden,
die über mannigfaltige periphrastische (Neu-)Bildungen verfügen, d.s. in
der Regel die neueren semitischen Sprachen. Dennoch tragen die Bildungen
in den äthiopischen und neusüdarabischen Sprachen (jedoch nicht die im
Neuaramäischen und Neuarabischen) zur Klärung der ursemitischen Ver¬
hältnisse bei. Auf jeden Fall ist die Formenbildung aller semitischen Spra¬
chen in ein Gesamtbild der Entwicklung einzubeziehen.
Bei den älteren semitischen Sprachen stellt sich zwar auch die Forderung
nach einer internen Unterscheidung von transparenten (periphrastischen)
und opaken (nicht-transparenten) Formen, diese Unterscheidung greift aber
wenigstens beim Akkadischen nicht, da hier alle Bildungen einen opaken
Eindruck machen. Demgegenüber muß man beim schon so früh bezeugten
Ägyptischen diese grundlegende Unterscheidung treffen. Im Ägyptischen
ist es erforderlich, zwischen einer transparenten (periphrastischen) Bildung
iw=f r scm ,er wird hören' und einer opaken (nicht-transparenten) Form
scm=f ,daß er höre/hört' zu unterscheiden. Für die Rekonstruktion der
ursprachlichen Verhältnisse kommen primär nur die opaken Bildungen in
1 Für eine kritische Durchsicht des Manuskriptes danke ich Kollegen B. Schlerath (Berlin) und W. Röllig (Tübingen).
Frage, so wichtig und entscheidend die transparenten Neubildungen (In¬
novationen) für den sprachhistorischen Aufbau der Einzelsprache und eine
Gliederung des Gesamtsystems auch sind.
Auf das Semitische angewandt bedeutet dies, daß wir - von bestimmten
Vokalisierungstypen abgesehen - alle Aspektformen des ostsemitischen Ak-
kadisch für die semitische Ursprache ansetzen müssen. Keine Bildung des
Akkadischen macht einen transparenten Eindruck. Die Versuche, diejenigen
Kategorien des Akkadischen, die nicht auch im Arabischen oder Hebrä¬
ischen bezeugt sind, nämlich das Präsens und das Perfekt, als Ergebnis einer
sekundären Entwicklung zu erklären und damit für die Rekonstruktion des
Ursemitischen auszuschließen, sehe ich als gescheitert an. Es geht nicht an,
das Arabische mit seiner Hauptopposition
katab=a : i=aktub = u
als maßgeblich oder gar „in morphologischer Hinsicht älteste Lage - wenn
wir von dem -a der 3.P. Sg. Msk. und dem sekundären -u absehen -" zu be¬
zeichnen, wie es Fr. Rundgren (1959, S. 93) getan hat. Damit soll aber nicht
einer Position das Wort geredet werden, die über Aspekt im Semitischen
handelt, ohne Rundgrens Werk einzubeziehen.
Auch eine erweiterte Version, in der die Präfixkonjugation in eine Kurz¬
form und eine Langform aufgespalten wird, ist keineswegs für das Ursemi¬
tische anzusetzen (die Formen sind jeweils 3.m.sg./pl.):
Suffixkonjugation : Präfixkonjugationen
katab=a katab=uu
PK-Kurzform : PK-Langform
i=aktub=0 : j,=aktub=u
l=aktub=uu : i=aktub=uuna
Solche Systeme, wie sie für das Zentralsemitische (s. dazu § 7) charakteri¬
stisch sind, stellen Verkürzungen eines älteren umfassenderen Systems dar.
Während man sich darin einig ist, die Suffixkonjugation (= westsemitisches
Perfekt) und die Kurzform der Präfixkonjugation auf das Akkadische parVs
bzw. iprVs zurückzuführen, herrscht inbezug auf die anderen Formen keine
Einigkeit. Die Langform der Präfixkonjugation (i=aktub-u) wird gerne
als westsemitische Innovation gesehen - womit man wieder beim extremen
(neuarabischen) Reduktionssystem SK katab=(a) : PK i=aktub = () wäre.
Der Relativ (Modus relativus, Subjunktiv) des Akkadischen (s. von Soden
1952, S. 108), 2 der hier vergleichend herangezogen werden muß, zeigt das
2 Siehe auch Eilers 1968 und die Literaturübersicht in Zadok 1996.
hohe Alter der j.aktubu-B'i\dung. Neu ist im Westsemitischen lediglich die
Verwendungsweise im Hauptsatz.
Schwerwiegender sind die Meinungsdifferenzen bezüglich der beiden For¬
men des Akkadischen, die es im Arabischen und anderen zentralsemitischen
Sprachen nicht gibt, nämlich dem Perfekt und dem Präsens. Hier nehmen
insbesondere einige Assyriologen eine innerakkadische Genese an. Solch
eine Rekonstruktion ist in methodischer Hinsicht deshalb problematisch,
weil sich dann das Ursemitische, das doch zeitlich nicht weit vor dem Akka¬
dischen anzusetzen ist, durch Züge des viel jüngeren Zentralsemitischen aus¬
zeichnen würde. Der Hinweis auf das Ägyptische, das trotz seines hohen Al¬
ters in morphologischer Hinsicht nicht archaisch ist, greift nicht, zeigt doch
das Ägyptische gerade in seiner Formenbildung (s. o.) den innovativen Cha¬
rakter seiner Morphologie, während es im Akkadischen keine Hinweise auf
morphologische Neubildungen gibt. Der andere mögliche Hinweis auf die im
Akkadischen (allmählich) geschwundenen Laryngale führt nicht weiter, da
der Schwund von für Nichtsemiten schwierig zu artikulierenden Lauten kein
Hinweis auf innovative morphologische Strukturen ist. Meines Erachtens
ist es methodisch zweifelhaft, morphologische Innovationen in der ältesten
semitischen Sprache allein aufgrund interner Evidenz anzunehmen, ohne die
zur Verfügung stehende externe .hamitische' Evidenz heranzuziehen.
b) Zu der internen Analyse der Bildungen, die der Unterscheidung archa¬
ischer und innovativer Züge einer Sprache dient, kommt die externe Evidenz.
Es müssen vom Akkadischen bzw. dem übergeordneten semitischen Knoten
ausgehend die verwandten Sprachen herangezogen werden. Dies sind einer¬
seits in deszendierender Weise die anderen semitischen Sprachen und ande¬
rerseits in aszendierender Weise das Semitohamitische mit den dazu gehören¬
den ,hamitischen (d. h. nicht-semitischen semitohamitischen) Sprachen.
*Semitohamitisch
Westsemitisch Akkadisch
Die Einbeziehung sowohl des Westsemitischen als auch des Semitohamiti¬
schen offenbart - was an anderer Stelle ausgeführt wurde - den ursprünglichen
Charakter des Präsens und des (akkadischen) Perfekts. Es sei am Rande ver¬
merkt, daß auch das Indogermanische über die drei relevanten Verbalkatego¬
rien Aorist, Präsens und Perfekt verfügt (Voigt 1990a).
2. Das Perfekt und das Präsens des Akkadischen
Ich halte es für methodisch zweifelhaft, die Genese einer nicht-transparen¬
ten (nicht-periphrastischen) Form durch Frequenzuntersuchungen in der
Literatur einer Sprache nachweisen zu wollen. Die Entstehung periphra-
stischer Konstruktionen könnten sich zwar u. U. bei guter Beleglage durch
Beobachtung der sprachlichen Unterschiede in Dokumenten verschiede¬
ner Epochen und verschiedener Literaturgattungen nachvollziehen lassen.
Dabei ist zu beachten, daß sich periphrastische Konstruktionen aus der
Umgangssprache speisen und erst später literaturfähig werden. Bei grund¬
legenden grammatischen Kategorien, die nicht-periphrastischen Charakters
sind, ist es m. E. unmöglich, ihre innereinzelsprachliche Entstehung durch
Vergleichung von Dokumenten aus verschiedenen Epochen zu beweisen.
Nach der Darstellung von Streck (1995, 1999) hat das Perfekt iptarVs
im Alt- und Spätbabylonischen eine feste Funktion, die für das Altbabylo¬
nische als Vorzeitigkeit zum „Gegenwartspunkt des Sprechers" bestimmt
wurde (Streck 1999, S. 117). Von daher paßt m.E. die von SoDENsche Be¬
zeichnung .Perfekt' recht gut. In historischer Hinsicht wird zwischen dem
derivaten und flektiven ta ein Zusammenhang bestehen (s. dazu ausführlich
Voigt 1987c). Daß dieser innerhalb des Akkadischen zu suchen sei, lehnt
selbst von Soden ab. Nach ihm ist eine Zurückführung des -ta- Infixes „un¬
mittelbar" „auf das ta des reziproken Gt-Stammes" „undenkbar"; denn „in
den ältesten uns bekannten altakkadischen Texten begegnen, freilich in sehr
kleiner Zahl, sowohl ^-Separative als auch ta-Perfekte" (von Soden 1965,
S. 104, zur weiteren Diskussion s. Streck 1995, S. 216ff.).
Zur Frage nach der Genese einer einzelsprachlichen Form, die nicht als
durchsichtige periphrastische Neubildung aufgefaßt werden kann, sind fol¬
gende Feststellungen angebracht:
a) Die Entstehung dieser Form innerhalb der Einzelsprache ist - defi¬
nitionsgemäß - unmöglich; denn ein wesentliches Element, das eine
Sprache konstituiert, kann nicht in dieser entstanden sein. Perfekt und
Präsens als konstituierende Glieder des akkadischen Aspektsystems
können nicht während des Geltungsbereiches dieser Sprache entstan¬
den sein.
b) Daß Perfekt und Präsens wie jede andere Form einmal entstanden sein
müssen, versteht sich von selbst.
c) Der Zeitpunkt, wann in der Vorgeschichte des Akkadischen bzw. Se¬
mitischen es eine bestimmte Neubildung gegeben hat, kann nicht aus
dem Semitischen, sondern nur aus den verwandten Sprachen heraus
beurteilt werden. Wie weit man da im Stammbaum zurückgehen kann
und soll, hängt von den Erkenntnissen der vergleichenden Semito-
hamitistik ab.
Das £-Perfekt könnte deshalb auf dem Wege vom Ursemitischen zum Akkadi¬
schen entstanden sein und damit eine typische Neuerung des Ostsemitischen
gegenüber dem Ursemitischen darstellen. Wie ich an anderer Stelle gezeigt
habe, ist die morphologische Kategorie des Perfekts auch aus anderen semito-
hamitischen Sprachen bekannt (Voigt 1990b). Deshalb setze ich diese nur
im Akkadischen belegte Form auch für die semitische Ursprache an.
Was das Präsens anbelangt, so ist eine innersemitische Entwicklung des¬
halb ganz abwegig, weil diese charakteristische Aspektform nicht nur im
Akkadischen, sondern - von allen anerkannt - auch im Äthiopischen und
Neusüdarabischen sowie - von kaum jemandem anerkannt - in Resten auch
in anderen semitischen Sprachen vorkommt. 3
Die Idee von Fr. Rundgren u. a., im Präsens jeweils ein Reemploi des
Intensivstammes (0 2 ) zur Bildung eines neuen Präsens zu sehen, scheitert an
der bislang fehlenden Ausarbeitung dieses Gedankens. Wenn auch die as-
pektuelle Methodik in grundlegender Weise von Fr. Rundgren herausge¬
arbeitet wurde, so fehlt ein Modell, in dem plausibel gemacht werden könnte,
wie die Imperfektform des Intensivstammes als Präsens des Grundstammes
verwendet wurde, ohne daß dabei die Ausgangsform, d.i. die Imperfekt¬
form des Intensivstammes, seine Funktion verloren hätte. Nach den Vertre¬
tern eines Reemploi des Intensivstammes wäre es zu einer Aufspaltung der
ursprünglichen Imperfektform des Intensivstammes gekommen. Außerdem
hätte sich im Intensivstamm auf derselben Basis ein neues Präsens gebildet.
Es wären also drei morphologisch klar unterschiedene Formen des
Akkadischen auf eine einzige ursemitische zurückzuführen:
3 Kienast 2001 setzt sich zwar, Rössler folgend, für den ursprünglichen Charakter des akkadischen Präsens ein (s. die Übersicht S. 293f.), hält aber das akkadische Perfekt für eine innerakkadische Entwicklung (S. 226).
alt neu
.Imperfekt' des Intensivstammes (0 2)
(**t=VparrVs=0)
Imperfekt des Intensivstammes (*j.=uparris = 0 > uparris)
Präsens des Grundstammes (0,)
(*i=iparras = 0 > iparras) Präsens des Intensivstammes
(*i=uparris =0 > uparris)
Es müßte noch gezeigt werden, wie ein solch komplexer Vorgang der Auf¬
spaltung einer Form in drei morphologische Formen überhaupt möglich ist,
ohne daß die Sprecher die Kategorien miteinander verwechseln.
Die Vertreter der Theorie, nach der das Präsens (akk. 0j iparrVs) eine neue
Kategorie des Akkadischen darstellt, müssen nun notgedrungen annehmen,
daß sich dieser komplizierte Ausdifferenzierungsvorgang unabhängig vom
Akkadischen auch noch im Äthiopischen und im Neusüdarabischen abge¬
spielt hat. Demgegenüber spreche ich mich für ein Modell aus, nach dem die
Präsensformen des Semitischen auf das Ursemitische zurückgeführt werden.
Wegen genetisch vergleichbarer Formen im übrigen Semitohamitischen, was
hier nicht weiter ausgeführt wird, muß das Präsens (wie auch das akkadi¬
sche Perfekt) auf das Ursemitohamitische zurückgehen.
Daß manche Semitisten dem Präsens so bereitwillig seinen ursemitischen
Charakter aberkennen, liegt wohl an der Faszination der Idee, daß sich das
Präsens in Sprachen gerne neu bildet, wie sich an den periphrastischen Bil¬
dungen in neueren Sprachen belegen läßt, vgl. engl. / am going, dt. umgangs-
spr. ich bin am gehen, t.türk. gelmekte-yim. 4 Auch in diesen Beispielen sind
alle Bestandteile jeweils ursprachlich; nur deren syntaktische Kombination
sowie gehäufte Verwendungsweise stellen eine Innovation dar. Ein Beispiel
für eine periphrastische Präsensbildung ist das Präsens in der südlichen
(oghusischen) Gruppe des Türkischen, wie osm. -I-yor- (-1- unterliegt der
Vokalharmonie): kal-i-yor-um ,ich bleibe', azerbeidschanisch -It- (< *-iyir-)\
at-ir ,er wirft', turkmen. -yä:r-l-ya:r-\ gül-ya:r .schreiend' (Fundamenta
1959, S. 2, 304, 314). Diese Bildungsweisen gehen alle auf eine Konstruktion
des Verbs .gehen' mit dem Konverb -/- (oder -A-) zurück. 5
Die ägyptisch-arabische Präsensbildung b-aktib ,'ich schreibe' enthält
die Präposition *bi- und das Imperfekt, welches weder im Ägyptisch-
Arabischen noch im Arabischen entstanden ist, sondern eine ursemitische
* Zu dieser neuen aspekto-temporalen Form des Türkeitürkischen s. Johanson 1971,
S. 139.
5 Vgl. alttürk. yoriyur, später yorir ,er geht', altosm. yori-, yoru, mod. yörü- .gehen' (Fundamenta 1959, S. 175).
Kategorie darstellt. Die Zusammensetzung aus Präposition und Imper¬
fekt ist allerdings eine neuarabische Innovation. Das amharische Präsens
yasäbr-all ,er zerbricht' ist zusammengesetzt aus dem gemeinäthiopischen
Präsens (< altäth. yasäbbar) und dem Hilfsverb (Existenzverb) allä (< altäth.
halläwä/hallo). Auch sollte man nicht vergessen, daß die Präsensbildungen
lat. video ,ich sehe', gr. phainö ,ich zeige', franz. (je) prends, ital. io prendo,
span, (yo) veo, dt. (ich) gehe, neugr. yrafo ,ich schreibe', russ. (ja) dam ,ich
gebe', got. (ik) baira ,ich trage' usw. keine Neubildungen der jeweiligen Spra¬
che oder Sprachgruppe darstellen.
In den indogermanischen Sprachen sind verschiedene Präsensbildungen
zu unterscheiden (s. Szemerenyi 1989, S. 285ff.). Nach der Übersicht im
Lexikon der indogermanischen Verben (2001, S. 14-20) gibt es insgesamt
20 Bildungsweisen des Präsens von Primärstämmen. 6 Unter ihnen sind die
-sko-, -yo- und Nasal- sowie Reduplikations-Bildungen die gängigsten Bil¬
dungstypen (s. Meier-Brügger 2002, S. 169ff.). Bei einer solchen Formen¬
vielfalt kann man in der Tat an die allmähliche Entwicklung der einzelnen
Präsensbildungen je nach der Aktionsart des Verbums denken. So hat man
z.B. die häufigen Nasalpräsentien 7 durch Infigierung eines ursprünglichen
nasalhaltigen Elements (vgl. griech. nun .jetzt') erklären wollen. 8 Auch hat
man eine nasale Dissimilation einer ursprünglichen Konsonantenlänge (vgl.
lat. rumpö [< }*ruppö] mit dem Perf. rüpi) diskutiert (Szemerenyi 1989,
S. 292). Die Dissimilation einer morphologischen Länge ist auch bei der
semitohamitischen Präsensbildung bezeugt. Ein Nasal begegnet nämlich
regelmäßig im Becfauye in der Präsensbildung (einiger Formen von einer
Klasse) des Grundstammes (3.m.sg. danbül ,er sammelt' < ''•'jidabbiü). Ein
Nasal als Dissimilationsergebnis kommt auch selten in der entsprechenden
Form des Akkadischen vor (idanbub < ''jidabbub ,er spricht').
Die reduplizierten Bildungen, die hier vielleicht in morphologischer Hin¬
sicht mit der geminierenden (d. i. konsonantenlängenden) Bildungsweise des
semitohamitischen Präsens verglichen werden können, kommen u.a. im
Altindischen, Griechischen und Lateinischen vor und werden für die Ur¬
sprache angesetzt, z.B. (I.e., Lexikon 2 2001, S. 136, 462):
- "rd h i-d b e-mi .ich stelle': ai. dädhäti, griech. Tt6r]pt tit h emi (mit Dissimi¬
lation der Aspiratae), von der Wurzel *d h eh t -,
6 Darunter gibt es Bildungsweisen, die nur bei ganz wenigen Wurzeln nachgewiesen wer¬
den konnten, wie das Präsens mit -£e/o-Suffix, vgl. lat. plectö mit griech. nXixii) ,ich flechte'.
7 Vgl. lat. linquö mit gr. Xslhu ,ich verlasse'.
8 Siehe die Literatur in Szemerenyi 1989, 291 f. Im Lexikon 2001, 17, wird die nasale Infigierung bei 248 urindogermanischen Wurzeln angesetzt. Sie stellt damit den dritthäu¬
figsten Typ der Präsensbildung dar.
- *pi-b-e-ti (< *pi-p-) ,er trinkt': ai. pibati, lat. (*pib- >) bibit, air. ibid, von der Wurzel *peh } (u)-.
Dazu schreibt Szemerenyi (I.e.): „Mit der Wiederholung war ursprünglich
wohl allgemein auch semantisch die Nuance der Wiederholung bzw. Inten¬
sität verbunden." Dies hat die Indogermanisten nicht daran gehindert, im
Rahmen der historisch-vergleichenden Methode ursprachliche Formen mit
Reduplikation zu rekonstruieren. In gleicher Weise muß die einheitliche
Präsensbildung mit Längung des vorletzten Konsonanten, wie sie - zu¬
mindest - im Akkadischen, Äthiopischen und Neusüdarabischen bezeugt
ist, für die Ursprache angesetzt werden, auch wenn mit der Längung des
Konsonanten „ursprünglich wohl allgemein auch semantisch die Nuance
der Wiederholung bzw. Intensität verbunden" war (I.e.).
Eine unklare Position nimmt Diakonoff ein, der zwar das Präsens
(„imperfective") für das Ursemitische annimmt, ohne allerdings die Kon-
sonantenlängung als genuin anzusehen. Dies bedeutet in der Tat eher einen
Rückschritt; denn entgegen früherer Überlegungen hat sich inzwischen der
ursemitische Charakter der präsentischen Längung als sicher erwiesen. Der
Grund für die Vernachlässigung der Konsonantenlängung liegt wohl in
dem Versuch einer morphologischen Verknüpfung des Präsens „*ia-paras"
mit der intransitiven Form „jV-pras", die ihren Ausdruck in der schwer ver¬
ständlichen Umschrift ia-p(a)ras findet (1988, 88).
All diejenigen, die in der ikonischen Konsonantenlänge das wesentliche
Merkmal des Präsens erkennen wollen, sollten nicht vergessen, daß es - na¬
mentlich bei den abgeleiteten Stämmen - noch andere Mittel der Präsensbil¬
dung gibt. Vgl. das akkadische Präsens des ^-Stammes usapras mit dem Prä-
teritum (Aorist) usapris, was seine Entsprechung im berberischen S-Stamm
isakras gegenüber issakras hat (Prasse 1998, 455).
Wer die Bildung des Präsens (sowie auch des Perfekts) nicht als urse¬
mitisch anerkennen will, muß sich fragen lassen, wieso er nicht auch die
einzige noch verbleibende Form (akkad.) iprus, westsem. j,=afrus(=u) als
sekundäre Bildung innersemitisch erklären will. Die Idee einer innerse¬
mitischen Erklärung der unmarkierten Präfixkonjugation ist tatsächlich
schon vorgetragen worden. So wird bei der Behandlung dieser Form von
Bauer/Leander (1922, 176, 297) eine Herleitung aus *ia-pur(u)s vertreten,
wobei *purs den Infinitiv der Verbalwurzel darstellen soll. 9 Diese Idee geht
wohl auf Barth ( 2 1894) zurück, der den Charaktervokal des Imperfekts mit
9 Auch Kienast operiert mit einer solchen synchronen Ableitung: „ta-s(a)pur ,du
(bist) gesandt habend'" (2001, 207), ohne zu merken, daß dies im Widerspruch zu den von ihm zu Recht so betonten Beziehungen des Semitischen zu den anderen semitohami¬
tischen Sprachen, und namentlich zum Berberischen, steht.
dem des Verbalnomens identifiziert hat, vgl. im Arabischen die «-Vokale in
i=a?kul =u ,er ißt' und ?ukl =un ,Essen' sowie die z-Vokale in j.-ak8ib =u ,er
lügt' und kiöb = "" ,Lüge'. Sollten wir deshalb etwa annehmen, das Imperfekt
sei in den einzelnen semitischen Sprachen jeweils aus dem Verbalnomen ent¬
standen (ä la + kidb ,er ist mit Lügen' > ia-khib" ,er lügt') und deshalb
nicht für das Ursemitische zu rekonstruieren? Dies wäre - abgesehen von
der Implausibilität solcher paralleler Prozesse - auch deshalb nicht sinnvoll,
weil sich dadurch die Aspektualbildung des Ursemitischen in Luft auflösen
würde. Eine solche Neigung zur Rekonstruktion eines ursprachlich primiti¬
ven Systems (sog. „Primitivismus") scheint weitverbreitet zu sein. 10
Ich plädiere dafür, sich nach der Methodik der historisch-vergleichenden
Sprachwissenschaft zu richten und es insbesondere zu vermeiden, zu stark
intern zu rekonstruieren. Mögliche interne Ableitungen (d.s. interne Re¬
konstruktionen) dürfen nicht einfach für historische Prozesse gehalten
werden, welche nach der Methodik der historischen Sprachwissenschaft zu
erstellen sind.
Es wird hier die nachstehende Gliederung des Semitischen zugrunde
gelegt (Voigt 1987a, 15):
Ursemitisch > Ostsemitisch (Akkadisch)
l
Westsemitisch — —> Südsemitisch —=* Neusüdarabisch
l l
Zentralsemitisch > Äthiopisch
1
usw. (darunter auch Hetzrons Central Semitic)
3. Das ursemitische Aspektsystem
Das nach diesen Prinzipien erstellte ursemitische System ist weit umfangrei¬
cher, als gewöhnlich angenommen wird. Sein Umfang ergibt sich aus der fast
vollständigen Übernahme des akkadischen Systems in die Ursprache. Dies
entspricht der Konzeption, nach der der Zeitpunkt, der für das Ursemitische
10 Die morphologische Verbindung von unmarkierter Präfixkonjugation und Ver¬
balnomen hat möglicherweise bei der Genese der semitohamitischen Sprachgruppe eine
Rolle gespielt.
anzusetzen ist, dem der frühesten Bezeugung des Akkadischen nicht allzu
weit vorangeht. Angesichts der engen Verwandtschaft der semitischen Spra¬
chen kann das Ursemitische nicht in eine große zeitliche Tiefe reichen. Damit
korrespondiert ein realistischer Ansatz in der Art der Rekonstruktion. Allzu
große Abweichung vom dem, was in den eng verwandten semitischen Spra¬
chen bezeugt ist, darf man von daher für die Ursprache nicht annehmen.
Dem möglichen Vorwurf eines akkadozentrischen Konzeptes begegne
ich mit dem Vorwurf eines arabozentrischen Bildes, das für all diejeni¬
gen zutrifft, die in unzulässiger Betonung des Arabischen die Opposition
katab =a : i=aktub =u für den Kern des semitischen Aspektsystems halten.
Das Aspektsystem des Ursemitischen zeichnet sich durch ein komplexes Sy¬
stem von drei Präfixkonjugationen, die primär für das Handlungsverb gelten,
und einer Suffixkonjugation aus, die primär für das Zustandsverb gilt. Eine
der Präfixkonjugationen, d.i. der Aorist, zeigt dabei zwei .Abarten', die sich
durch die Position des Akzentes unterscheiden. Die Form mit Initialbetonung
(*i=ds i pur= ,er schickte') hat narrative Funktion, die Form mit Finalbetonung
(Jussiv '•'j,=a,s^ür- ,er möge schicken' und Imperativ *s^pür= .schicke!') jussi-
vische Funktion, wie noch klar am Hebräischen ablesbar ist (s.u.).
Das Präsens ist neben dem Aorist und dem Perfekt (im akkadistischen
Sinne) Teil eines verzweigten Systems der Aspektformen des Handlungs¬
verbs. Das Handlungsverb und das Zustandsverb unterscheiden sich ur¬
sprünglich durch die Art ihrer Flexion, indem Handlungsverben nach der
Präfixkonjugation und Zustandsverben nach der Suffixkonjugation abge¬
wandelt werden.
Der folgende Teil des ursemitischen Systems ist durch das weiter unten
gegebene System der akkadischen Präfixkonjugationen zu ergänzen.
Verbum [konjugiert]
Handlungsverben : Zustandsverben
[präfixkonjugiert] [suffixkonjugiert]
s.u. (> akkad. Stativ
> wsem. Perfekt)
In welchem Umfang dieses ursprachliche Schema noch ausgebaut werden
müßte, um ein realistisches Bild der ursprünglichen Verhältnisse sichtbar
werden zu lassen, wird weiter unten kurz umrissen.
4. Das akkadische Aspektsystem
Die einzige grundlegende Änderung, die ich vom Ursemitischen zum Ak¬
kadischen hin annehme, betrifft die analogische Angleichung zwischen
Handlungs- und Zustandsverb. Im Akkadischen kann jetzt auch vom
Handlungsverb ein Stativ bzw. auch vom Zustandsverb ein Präsens usw.
gebildet werden.
r~~~- — suffixkonjugiert präfixkonjugiert
Handlungsverb später durch Analogie ursprünglich
Zustandsverb ursprünglich später durch Analogie
Neben der grundlegenden Opposition Fiens : Stativ kommen die Begriffe
der Terminalität (mit der Opposition extraterminal : nicht-extraterminal)
und der Kursivität (mit der Opposition kursiv : konstativ) zum Tragen (s.
Rundgren 1959, 1961). Damit ergibt sich für das transitive Handlungsverb
folgendes aspektuelle Schema:
Verbum [konjugiert]
Präfixkonjugationen [fiens]
Suffixkonjugation [stativ]
[-resultativ, -extraterminal]
I
[+ resultativ, extraterminal]
Aorist [punktuell, konstativ]
Jussiv Narrativ
[perfektiv]
[kursiv, imperfektiv, durativ]
Imperativ : Prekativ Präteritum Präsens Perfekt Stativ
supur=
.schicke, schreibe!'
l-i=spur- ,er soll seh.'
i=spur=
.er schickte, schrieb
i=sappar=
,er schickt, schreibt'
i=stapar- ,er hat gesch.'
sapir=
,er ist gesch.'
Mit diesem Schema ist nur ein Teil des akkadischen bzw. ursprachlichen
Systems erfaßt. Es fehlen vor allem folgende Kategorien:
a) Neben dem transitiven Verb muß auch das intransitive und das zuständ-
liche Verb in das System eingebaut bzw. getrennte Systeme entworfen
werden.
b) Es müssen außer der hier vorliegenden Verbalklasse ula (in der Haupt¬
aspektopposition ispur : isappar) auch die übrigen Verbalklassen be¬
rücksichtigt werden.
c) Den Formen des Grundstammes müßten die Formen der abgeleiteten
Verbalstämme hinzugefügt werden.
d) Die Bildungsweise des Aorists ist noch vielfältiger als hier angegeben. Es
muß zumindest der Relativ (modus relativus, Subjunktiv auf -u) und der
Ventiv (auf -am später > -a) miteinbezogen werden, da beide Kategorien
im Westsemitischen weite Verbreitung gefunden haben. Der Relativ
entwickelt sich zum westsemitischen Imperfekt und der Ventiv zum
arabischen Subjunktiv, um nur die markantesten Vertreter zu nennen.
e) Schließlich müßten auch die verschiedenen infirmen Klassen berück¬
sichtigt werden, in denen teilweise andere morphologische Bildungs¬
gesetze herrschen. So wird in der mediae infirmen Klasse des Akkadi¬
schen im Präsens nicht der zweite, sondern der dritte Radikal gelängt.
Die 3.pl. des Präsens des Grundstammes von känum ,wahr sein' lautet
ikunnü und nicht °ikänü (nach der 3.m.sg. ikän, ass. iküan) und auch
nicht °ikawwanü, wie man nach dem starken Verb (iparrasü) oder
nach der äthiopischen Präsensform des Grundstammes yakäwwan,
ydkäwwanu vermuten könnte. Es ist ganz abwegig, in der Form mit ge¬
längtem Halbvokal etwas Ursprüngliches sehen zu wollen (zur Bildung
des Präsens im Altäthiopischen s. Voigt 1990c).
5. Das Aspektsystem im Westsemitischen
Die wichtigste Veränderung im Westsemitischen (genauer im Vorwestsemi-
tischen) betrifft die Verschmelzung von Stativ und (akkadischem) Perfekt.
Indem sich die Bedeutungen der beiden Formen ergänzen, setzt sich die kür¬
zere Form (der Stativ) durch, übernimmt aber vom (akkadischen) Perfekt
den charakteristischen ^-Vokal. Das Ergebnis ist das westsemitische Perfekt.
In Voigt (1988a) hatte ich zum ersten Mal den Versuch unternommen, den
bisher nicht erklärten a- Vokal im westsemitischen Perfekt der Handlungs¬
verben zu erklären. Ich hatte angenommen, daß die Ablautrelation u I i :
a, die im Akkadischen für die morphologische Beziehung zwischen Aorist
(Präteritum) und Präsens gilt, auf die Beziehung zwischen Imperfekt (< Prä-
teritum) und Perfekt übertragen wurde. Aus der akkadischen u : ^-Ablaut-
relation ispur : isappar (.schicken, schreiben') wurde die (westsemitische)
hebräische o : a- Ablautrelation iispor : säpar (,(auf)zählen').
Die so skizzierte Entwicklung möchte ich jetzt dahingehend ausbauen
und modifizieren, daß ich über die Ablautrelation hinaus in dem westsemi¬
tischen Perfekt eine morphologische Fortsetzung sowohl des akkadischen
Perfekts als auch des Stativs sehe. In der Form des neuen Perfekts ist die
Form des Stativs durch den <2-Vokalismus des Perfekts angereichert worden
und - umgekehrt - die Bedeutung der Vorzeitigkeit des (akkadischen) Per¬
fekts durch die permansivische Bedeutung des Stativs ergänzt worden. Von
der Form her wird primär der akkadische Stativ durch das westsemitische
Perfekt fortgesetzt (durchgezogener Pfeil), wobei sekundär der perfektische
d-Vokal zur Form des neuen Perfekts beiträgt (gestrichelter Pfeil). Der In¬
halt des akkadischen Perfekts setzt sich durch (durchgezogener Pfeil), wird
aber durch die stativische Bedeutung ergänzt (gestrichelter Pfeil).
akkad. Perfekt Stativ
Form i=stapar sapirfa]
Nur auf die Form bezogen, ergibt sich folgendes Schema, welches das Ver¬
schmelzen von zwei ostsemitischen Kategorien in einer westsemitischen
Kategorie verdeutlicht. Wegen der vermutlichen Lehnbeziehung zwischen
dem Akkadischen und Hebräischen bei diesem Verb wird für das folgende
Schema das in vielen semitischen Sprachen bezeugte Verb "iprs .trennen, rei¬
ßen' verwendet:
hebr.
Inhalt
Form Inhalt
[ perfekt. ]
Perfekt Stativ
Akkad. (Ostsem.)
Westsem. Perfekt Ursem.
paras=a
Die anderen Kategorien des akkadischen Aspektsystems, d.i. vor allem das
Präsens, bleiben im Westsemitischen erhalten. Teilweise kommt es jedoch zu
Uminterpretationen. So wird der Relativ (Modus relativus, Subjunktiv), der
im Akkadischen in Nebensätzen verwendet wird, im Westsemitischen zu
einer Hauptsatzform (dem Imperfekt).
6. Das Aspektsystem des Südsemitischen
Durch Abspaltung der Südsemiten von den Westsemiten und die Wan¬
derung nach Süden entwickelte sich ein besonderer Sprachzweig, der in
zwei Ausprägungen vorliegt, dem Äthiopischen (d.i. Altäthiopischen mit
seinen zahlreichen neuäthiopischen Nachfolgesprachen) und dem Neusüd¬
arabischen. Beiden Sprachgruppen gemeinsam ist der Wegfall des Narrativs
(akkad. ispur). Trotzdem möchte ich den Verlust des Narrativs nicht unbe¬
dingt an den Beginn der südsemitischen Entwicklung setzen. Der Narrativ
könnte auch im Laufe der Zeit einzelsprachlich obsolet geworden sein, wie
es z.B. im Laufe der hebräischen Sprachgeschichte geschehen ist.
Im Uberblick ergibt sich für das Altäthiopische (Ge c ez) und das Mehri
folgendes Bild:
Handlungsverb
[imperfektiv]
[punktuell]
Imperativ Jussiv
[durativ]
Präsens
[perfektiv]
Perfekt
Altäth. sa/ar= ,miß!' y=3sfar= y=3säffdr= säfär=ä
Mehri kateb = .schreib!' y=dkteb = y=3kütab = k3tüb =
7. Das Aspektsystem des Zentralsemitischen
Zentralsemitisch nenne ich den nach der Abspaltung des Südsemitischen
verbleibenden Rest des Westsemitischen. Mein Zentralsemitisch (s. Voigt
1987a) stimmt also nicht mit dem Central Semitic von Hetzron überein.
Letzteres umfaßt lediglich das Aramäische und Kanaanäoarabische.
Die Aspektsysteme in der umfangreichen Gruppe des Zentralsemitischen
(= Westsemitisch minus Südsemitisch) können hier nicht im einzelnen vor¬
geführt werden. Wichtig ist die Feststellung, daß das westsemitische System
(mit Zusammenfall des akkadischen Perfekts und Stativs im westsemiti¬
schen Perfekt) im wesentlichen erhalten bleibt. Grundlegend ist jedoch, daß
der Relativ des Akkadischen (i=prus=u) eine neue Funktion erhält und im
Westsemitischen als Imperfekt {j,-aprus-u) zunehmend das alte Präsens er¬
setzt. Die alte Bildungsweise (i=aparras=) bleibt in Überresten erhalten.
Für das Urzentralsemitische ergibt sich folgendes Schema (ohne Ventiv/
Energicus bzw. Jussiv):
Handlungsverb
[imperfektiv]
[punktuell] : [durativ]
Jussiv : Narrativ
Imperativ : Jussiv Präteritum Präsens
prus= i=apriis= i=dprus= : i=aparrVs = (alt), paras=a
i=dprus=H (neu)
Wie die Ersetzung des alten Präsens durch das neue im einzelnen erfolgt
ist, bedarf noch der Klärung. Man muß sich den Prozeß so vorstellen, daß
die keinen gelängten Konsonanten enthaltende Neubildung (genauer: Neu¬
verwendung einer alten Form) bei einer bestimmten Verbalklasse oder bei
einem bestimmten Verbalstamm ihren Anfang nahm und sich dann auf alle
übrigen Klassen und Stämme analogisch ausgebreitet hat. Es läßt sich sogar
ein Szenarium entwerfen, bei dem man nachvollziehen kann, weshalb und
wie es überhaupt zu dieser , Neubildung' des Präsens kam. Es könnte die
Verwechslungsmöglichkeit mit dem Intensivstamm gewesen sein, der die
Sprecher veranlaßt hat, eine Bildung (bzw. eine Konstruktion) zu bevor¬
zugen, die nicht - wie das alte Präsens - über einen gelängten Konsonan¬
ten verfügt. In diesem Fall hat man es mit einer Erneuerung mithilfe einer
syntaktischen Konstruktion zu tun. Weshalb hat man die Form i=dprus=u/
i=äprus=uuna, welche im Akkadischen als Relativum verwendet wird, für
diesen Zweck in Gebrauch genommen? Unter Verwendung der aus dem
[perfektiv]
Y Perfekt
Ursemitischen (= Akkadischen) 11 übernommenen Relativform wurde eine
„Spaltsatz" genannte syntaktische Konstruktion gebildet. Die Konstruktion
i=dprus=u X bedeutet also ursprünglich ,X ist es, der abtrennt'. Diese Kon¬
struktion wurde zuerst fakultativ anstelle des alten (geminierenden) Präsens
verwendet. Später wurde dann das neue Präsens bevorzugt in bestimmten
syntaktischen Kontexten und bei bestimmten Verbalklassen und -Stämmen
gebraucht, bis es schließlich das alte Präsens vollständig verdrängte. Die
Entwicklung läßt sich kurz wie folgt skizzieren:
~ ———
=aparras~ =dprus=u
altes Präsens X -
nach syntaktischer Konstruktion bzw. Differen¬
zierung nach Verbalklassen und -stammen
X X
neues Präsens (Imperfekt) - X
Daß dieser Prozeß der Ersetzung des alten durch das neue Präsens nicht
notwendig ist, zeigt das Südsemitische, wo in den neusüdarabischen und in
den neuäthiopischen Sprachen das alte Präsens bis heute erhalten geblieben
ist. In den äthiosemitischen Sprachen hat sich zwar auch ein neues Präsens
gebildet; dieses ist aber auf der Basis des alten Präsens gebildet, z.B. tigri-
nisch yakäyydd-allo ,er geht' < ,er geht (altäth. yakdyyad) 1 + ?allo ,er ist da
(altäth. halläwä/hallo)' .
8. Das Aspektsystem des Hebräischen
Unter allen zentralsemitischen Sprachen weist das Hebräische die archa¬
ischsten Verhältnisse auf. Denn hier gibt es noch Uberreste des alten Prä¬
sens, das sich bei den sechs Verben I n in der Nichtassimilation des ersten
Radikals zeigt. Einem iissor (von der Wurzel ndsar .bewachen, befolgen')
steht ein iinsor gegenüber, das jeweils im zweiten Halbvers und „stets in
Paraphrasierungen oder Präzisierungen der vorausgehenden Aussagen"
steht (Rössler 1977, 36). Die traditionell iinsor vokalisierte Form stellt eine
eigene Kategorie dar, nämlich das alte Präsens, und müßte nach Rössler
folglich iinVssor gelesen werden. Für die Ansetzung eines Vokals zwischen n
11 Die Gleichsetzung von Akkadisch und Ursemitisch hat einen nur vorläufigen Cha¬
rakter. Es ist nämlich nicht auszuschließen, daß sich in westsemitischen Sprachen Merk¬
male des Ursemitischen erhalten haben, die im Ostsemitischen (= Akkadischen) verloren gingen oder ersetzt wurden.
und dem folgenden Konsonanten spricht auch die im Hebräischen geltende nasale Assimilationsregel.
Ein Beispiel (Prov. 2,11) soll die Existenzberechtigung des alten Präsens
verdeutlichen:
m3zimmä h tismor ?dl§kd - tabündh tin3ss3rqkkd h (und nicht tins3rqkkd h', da
dieses zu tiss3rqkkd h hätte werden müssen)
.Guter Rat wird dich bewahren - ja Verstand wird dich behüten.'
Der Vers enthält zwei Teile, von denen der zweite eine Begleithandlung ent¬
hält, die den Gedanken des ersten Teils mit anderen Worten aufgreift. Eine
Übersetzung .Guter Rat wird dich bewahren, indem/wobei dich Verstand
behüten wird' trifft den Kern, wirkt aber im Deutschen wenig poetisch.
Deshalb entspricht der RössLERsche Übersetzungsvorschlag mit ,ja' der
poetischen Struktur sehr gut.
Ein Einwand gegen diesen neuen Ansatz stammt von A. Bloch (1963),
der kategorisch ausschließen möchte, daß im zweiten Halbvers eine an¬
dere morphologische Kategorie verwendet wird. Begründet wird dies mit
dem „vorwiegend parataktischen Charakter des alttestamentlichen Stils"
und damit, daß „die Wiedergabe mit .indem' meist recht gekünstelt" sei
(S. 42f.). Diese Argumentation kann kaum als ernst zu nehmender Bei¬
trag zur Diskussion gewertet werden. Bei seinem Vorschlag, in .unregel¬
mäßigen' «-Schreibungen ein „Streben nach Unmißverständlichkeit" bzw.
nach „stilistischer Variierung" erkennen zu wollen (S. 45f.), muß man
sich fragen, weshalb dieses Streben nur in der a : w-Klassse der Verba I
n zum Ausdruck kommt. Es kann kein Zweifel bestehen, daß die alte
Differenzierung zwischen Aorist und Präsens in der ältesten Stufe des
Hebräischen noch vorhanden war. Die spätere Vokalisierung hat dies
verschüttet; lediglich in einer einzigen I «-Verbalklasse ist durch den
Erhalt des Nasals ein sicherer Nachweis möglich. Offen muß bleiben, für
welche anderen Verbalklassen und -typen des ältesten Bibelhebräischen
die ursprüngliche Differenzierung anzunehmen ist. Dieser Vorbehalt gilt
hinsichtlich der unten gegebenen Form iaparrVs, die die Geltung auch für
das starke Verb vorgibt.
Nicht berücksichtigt ist hier das Ugaritische, das das alte Präsens offen¬
sichtlich aufgegeben hat; denn nach Ausweis des Verba I n gibt es kaum
Formen des Langimperfekts mit erhaltenem Nasal, und die wenigen werden
als D-Stämme erklärt (s. Tropper 2000, 626f.).
Das hebräische Verbalsystem, das in der folgenden Übersicht dargeboten
wird, ist im wesentlichen durch folgende Gesichtspunkte gekennzeichnet
(vgl. Voigt 1990b):
a) Es sind die Ventiv/Energicus-Formen des Jussivs und des Narrativs
berücksichtigt. Diese unterscheiden sich vom normalen Jussiv und
Narrativ durch die Anhängung von -äl-an- (< "'-am).
b) Die Betonung spielt bei der Unterscheidung des Jussivs und des (prä-
figierenden) Narrativs sowie des Perfekts und des (suffigierenden)
Prospektivs eine Rolle. Jussiv und Prospektiv zeichnen sich dabei (wie
der Imperativ prüs) durch Finalbetonung aus. Man beachte, daß die
traditionellerweise nur für einige Verbaltypen (Verba tertiae infirmae
vel mediae geminatae) und -Stämme (hip cil) angenommene Differenzie¬
rung für alle Typen und Stämme angesetzt wird. Im späteren iispor des
Grundstammes sind also drei (bzw. vier, s.u.) Kategorien zusammenge¬
flossen: der Narrativ (nach dem sog. udu consecutivum: ua-idprus), der
Jussiv (iaprüs) und das neue Imperfekt (idprus-u).
c) Das alte Präsens (iaparrVs), das ursprünglich nicht nur von Verba I n
gebildet werden konnte, wurde später nach dem Imperfekt vokalisiert.
Damit wäre im späterem iispor noch eine weitere Kategorie aufge¬
gangen.
d) Der Imperativ {purs, mit der Ventiv-/Energicus-Endung/>«rs-tf) ist nur
aus Platzgründen nicht in das Schema aufgenommen worden.
Zustandsverb Handlungsverb
[imperfektiv] [perfektiv]
Aorist [punktuell] [kursiv]
Aorist Ventiv/Energicus neues Präsens
''-am, pl. *-nim ~'-u, pl. *-ün '■'-0, pl. -u
Jussiv Narrativ Jussiv Narrativ
iaprüs ya-idprus iaprus-ä ua-iaprus-d
iaprus-an-hü (d.h. mit Suffix)
Prospektiv Perfekt
pdrastd pardsta
(altes) Präsens iaparras (neues) Imperfekt iaprus-u, pl. iaprusün
9. Die weitere Entwicklung
Die weitere Entwicklung der Aspektformen bis hin zu den jüngeren semi¬
tischen Sprachen soll hier nicht untersucht werden. In dem Umfang, wie
die alten, ursemitischen Kategorien aufgegeben werden, entwickeln sich
neue Kategorien. Hier soll uns nur der Abbau der drei ursprachlichen
Präfixkonjugationen interessieren, welche im Akkadischen erhalten sind.
Im Westsemitischen wird das alte Perfekt aufgegeben bzw. verschmilzt mit
dem Permansiv (der ostsemitischen Suffixkonjugation) zum neuen Perfekt.
Damit besitzt das Westsemitische nur noch zwei Präfixkonjugationen: den
Aorist (mit der zweifachen Ausprägung als Narrativ und Jussiv) und das alte
Präsens. Der Abbau setzt nun beim Aorist oder beim Präsens ein. Im Äthio¬
pischen wurde das Präsens beibehalten, aber der Narrativ aufgegeben (in
ydbe liegt ein Präsens vor); es gibt nur noch den Jussiv. Demgegenüber hat
das Hebräische den Narrativ und den Jussiv erhalten, dafür aber im Laufe
der Zeit (d. i. innerhalb der Geschichte des Althebräischen) das alte Präsens
zugunsten des neuen Präsens aufgegeben. Im nächsten Schritt wird nur noch
eine einzige Präfixkonjugation verwendet. In maximaler Weise umfaßt diese
den Narrativ und Jussiv sowie das neue Präsens (der Ventiv/Energicus wird
hier nicht berücksichtigt). Dies ist im Arabischen und jüngeren Althebräisch
gegeben. Wenn Narrativ und Jussiv wegfallen, verbleibt der Imperativ und
das neue Präsens als einziger Repräsentant der (einzigen) Präfixkonjugation.
Ein solches System liegt im Syrischen, Neuhebräischen und Neuarabischen
vor. Schließlich kann das neue Präsens durch periphrastische Bildungen er¬
setzt werden, wie es im Neuaramäischen geschehen ist. Die neuaramäischen
Idiome haben damit als einzige Kategorie nur noch den Imperativ bewahrt.
Damit ergibt sich folgendes Abbauschema:
3 Präfixkonjugationen Ursemitisch, Akkadisch
2 Präfixkonjugationen Westsemitisch
2 Präfixkonjugationen mit Narrativ/
Jussiv und Resten des alten Präsens
älteres Althebräisch
2 Präfixkonjugationen mit Jussiv und
voll entwickeltem alten Präsens
Altäthiopisch (und Neuäthiopisch), Neusüdarabisch
1 Präfixkonjugation mit Narrativ/
Jussiv und neuem Präsens
Arabisch, jüngeres Althebräisch
1 Präfixkonjugation mit neuem Präsens Syrisch, Neuhebräisch, Neuarabisch
0 Präfixkonjugation Neuaramäisch
Es muß weiteren Arbeiten vorbehalten sein, dieses skizzenhafte, auf die we¬
sentlichen Schritte beschränkte Bild der Entwicklung vom Ursemitischen
bis zu den jüngeren semitischen Sprachen noch weiter auszugestalten und
mit mehr Inhalt zu füllen.
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tions." In: AIOUN 56 (1996), S. 145-158.
Par Jean-Charles Ducene, Bruxelles
Introduction
L'ouvrage geographique compose par al-ldrlsl, 1 comme il le rapporte, sur
la demande du roi Roger II de Sicile et acheve en 548/1154 n'a pas cesse de
susciter I'interet, tant pour son contenu geographique que pour I'histoire de
son elaboration propre. En effet, au sein des geographes arabes medievaux,
son auteur garde une place singuliere par l'importance qu'il accorde aux
cartes. 2 Seulement, la critique s'est surtout penchee sur le texte en negligeant
relativement les donnees cartographiques. 3 Il nous a des lors paru interessant
d'examiner comment le delta du Nil y etait represente, et cela pour une rai¬
son en particulier : comme cette plaine est composee des alluvions deposes
par le fleuve, les branches du Nil et le reseau des canaux ne sont pas fixes ;
peut-on alors tirer des informations de sa carte ?
Al-IdrlsT et le Kitdb nuzhat al-mustäq
L'ouvrage apparait comme une geographie universelle mettant ä profit des
auteurs anciens mais surtout des informations contemporaines recueillies
apres enquete aupres d'informateurs divers. Le Kitdb nuzhat al-mustäq,
tel que nous le connaissons, suit une division « geographique » emprun-
tee ä la carte circulaire dont il se veut le commentaire. En effet, al-IdrisT
explique dans son introduction 4 la genese de l'ouvrage en donnant le role
1 Oman 1970 ; Amara/Nef 2001.
2 Les seuls auteurs qu'on peut lui comparer sont ceux de « l'ecole » d'al-Balhl ou
« ecole iranienne » (al-Istahrl, Ibn Hawqal et al-MuqaddasT) mais leur methode et leurs modeles etaient differents, v. Tibbetts 1992.
3 Dans 1'article d'OMAN cite plus haut, seules cinq references bibliographiques sur soixante-cinq renvoient a des etudes de cartes. II faut cependant y ajouter Pinna : // Me- diterraneo, t. 1, pp. 29-40 et t. 2, pp. 52-72 ; Prevost 2003.
4 Al-IdrisT : Nuzhat, t. 1, pp. 5-7 et pp. 13-14. Dans le premier passage, al-ldrlsl exprime le processus de realisation de maniere impersonnelle, ou l'attribuant ä Roger II,