SUBSTRAT- UND ADSTRATWIRKUNG
Von Inge Rommel, Tübingen
Vielleicht lassen sich auch ohne Sprachatlas einige Ergänzungen aus
sprachgeographischer und soziohnguistischer Sicht zum Thema der Sub¬
strat- und Adstratwirkimg im Amharisehen geben, also zur Agauisierung
bzw. Einwirkung anderer kuschitischer Sprachen in einem Gebiet, das teil¬
weise schon jahrhundertelang recht drastische Wandlimgen durchgemacht
hat.
Eine Auswirkung des Agau-Substrats ist der Übergang z.B. von Prä¬
positionen zu Postpositionen. Die Relationen, die in semitischen Sprachen
mit Präpositionen wiedergegeben werden, werden in den Agau-Sprachen
bekannthch durch Postpositionen, in Form von Suffixen, dargestellt*.
Sobald nun - zura Zweck der adverbialen Verwendung - einsilbige Präpo¬
sitionen wie ,,ba" und ,,ka" durch andere Wörter wie ,,lay" oder ,,gärä"
ergänzt werden, wobei die letzteren mit einem vorausgehenden Substantiv
eine adverbielle Bestimmung ergeben, wird von vielen Sprechern die ur¬
sprüngliche Präposition ,,ba" oder ,,ka" weggelassen: So bedeutet z.B.
,,lay" heute ,,über, oberhalb, gegen". Mit einem Personalsuffix kombiniert ergibt sich die Form ,,balayeh" etc. = oberhalb von dir, über dir, etc.; mit
einem Substantiv jedoch z.B. ,,ba byet lay" = auf dem Haus, oberhalb des
Hauses, während mit Hilfe der Präposition ,,ka" vor allem die Bedeutungs¬
nuance „von . . . her" zum Ausdruck gebracht wird („ka . . . lay" = von
oben). Mit Hilfe von Ortsnamen + lay läßt sich jedoch auch noch eine
andere Bedeutungsnuance ausdrücken: ,,ba Gondar lay" heißt ,,auf dem
Wege über Gondar". Statt dessen findet man nun aber oft einfach ,, Gondar
lay", und es bleibt aus dem Kontext zu ersehen, welche Bedeutungsnuance in Frage kommt.
' E. L. Rapp, Mainz, mit dem ich die Frage kurz durchsprach, meinte, alle
Postpositionen seien wie etwa in den Kwa-Sprachen wirkliche Nomina und
nicht nur von solchen abgeleitete Elemente, z.B.
wö op6i\ no sö = ,, seiend Tisches des Oberseite" = auf dem Tisch
wö opörL nö äs6 = ,, seiend Tisches des Unterseite" = unter dem Tisch
wö opörL nö qkyJrt = ,, seiend Tisches des Seite" = bei dem Tisch
wö odär)^ nö mü = ,, seiend Raumes des Innenseite" = im Haus
Amharisch ba kätämä wust = ,,in der Stadt" ist im Akan wö ömäi\ nö mü =
,, seiend Stadt der Innenseite" (amharisch ,,wust" entspricht schließlich dem arabisehen Nomen (f.) wasat ,, Mitte").
Studien zur Syntax des Amharisehen 607
Ebenso verhält es sich bei „ka negus gärä" = mit dem König, oder auch
,,n9gus gära" ; oder „ba kätämä wust" = in der Stadt, an dessen Stelle man
auch ,, kätämä wust" hören kann. Die Substratformen hierfür dürften die
enklitischen Bildungen sein, die sich in den südlichen Agau-Sprachen
finden :
nogüs-li = mit dem König
kätämä-zi = in der Stadt.
Die Bewohner eines Substratgebiets lernen also zwei verschiedene, wenn
auch ähnliche, Konstruktionen für einen Begriff kennen. So kommt es, daß
sich ein Gebiet entwickelt, wo die beiden Konstruktionen mit genau gleicher
Bedeutung nebeneinander verwendet werden. Dies ist jedoch nur teilweise
der Fall ; in Wirklichkeit sind die Verhältnisse komplizierter.
Entscheidend ist fürs erste, wie häufig eine Prä- bzw. Postpositional-
konstruktion verwendet wird. Im Zusammenspiel mit anderen Paktoren
wird sich dann zeigen, ob sich eine der Konstruktionen diu-chsetzt oder ob
mehrere Formen nebeneinander bestehen bleiben. Eine Rolle hierbei spielen
Schulbildung bzw. Kommunikationsmöglichkeiten durch das Fernsehen
oder durch den Rundfunk, die die psychologische Einstellung und die
sozialen Beziehungen beeinflussen und damit der Entstehung von Misch¬
gebieten sprachlicher Formen entgegenwirken können.
Im Falle des Beispiels ,,ba kätämä wust" = ,,in der Stadt" bieten sich
also drei Konstruktionsmöglichkeiten an :
1. ba kätämä
2. ba kätämä wust
3. kätämä wust
Erfahrungsgemäß zeigen sich nun i.a. drei Entwicklungen - parallel zu
denen der Wortgeographie - nämlich :
Die Sprache erträgt sozusagen keine reine Synonymic bzw. keine drei Kon¬
struktionen mit genau derselben Bedeutung nebeneinander. An dieser
Stelle zeigt sich die enge Verknüpfung von Syntax und Semantik. Eine be¬
kannte These der Semantik besagt - hier für eine syntaktische Form -, daß
die Sprecher reagieren, wenn zwei oder drei Konstruktionen genau dieselbe
Bedeutung haben. Im Beispiel ,,ba kätämä wust" bietet sich eine Differen¬
zierung schon dadurch an, daß die Präposition ,,ba" lokal und instrumental
verwendet werden kann; und so hat sich in der Konstruktion ,,ba Gondar
lay" (,,über Gondar") auch eine besondere Differenzierung herausge¬
bildet.
In Überlagerungsgebieten entsteht also eine Redundanz an Ausdrucks¬
formen, deren Wirkung sich i.a. auf dreierlei Weise zeigt :
1. Es wird Personen geben, die entsprechend ihrer sprachlichen Bildung
im Kontakt z.B. mit Vorgesetzten die volle Konstruktion ,,ba kätämä
wust" gebrauchen. In ihrer Heimsprache dagegen lassen sie die Präposi¬
tion ,,ba" weg. Diese Erscheinung gehört in den Bereich der Soziolin-
guistik; und entsprechend ihrer sprachlichen Wendigkeit werden diese
Personen lernen, mühelos von der einen zur anderen Sprechweise umzu¬
schalten.
2. Ein häufiger Fall ist, daß durch verschiedenartige Kombination von
Prä- und Postpositionen BedeutungsdifFerenzierungen entstehen. So
heißt ,,ka lay" = ,,von oben her", während ,,ka samäy balay" = ,, ober¬
halb des Himmels" heißt (vgl. S. 1 ,,ba byet lay").
3. Es gibt noch eine dritte Möghchkeit, die aber auf die angeführten Bei¬
spiele nicht zutrifft, nämlich daß man die vorhandenen Konstruktionen
ganz vermeidet und neuere statt ihrer verwendet.
Allä = sagen
Ein Fall von Substratwirkung dürften auch die vielen Verbalbildungen
im Amharisehen sein, die mit ,,allä" = ,, sagen" (bäla, Ge-ez bohala), ge¬
bildet sind, wie ,,z9m allä" = schweigen, ,,zog allä" = langsam, sachte gehen, 9si allä" = eigentlich ,,ja sagen" = zustimmen, etc., um nur einige zu nermen.
,,dubdub allä" heißt ,, regnen", und hier zeigt sich am deutlichsten die
Parallehtät mit den Agau-Sprachen: ,,dubdub-y" heißt im Kemant eben¬
falls „regnen", wobei ,,y" - genau wie ,,allä" im Amharisehen - in den
Agau-Sprachen mit einem Ausruf oder einem Nomen kombiniert wird. Die
Liste solcher Verben ließe sich im Amharisehen noch lange fortsetzen:
Diese Art der Wortbildung ist eine Quelle großer Möghchkeiten des Aus¬
drucks, vor allem im heutigen technischen Zeitalter mit seinem Bedarf an
neuen Ausdrucks- und Bezeichnungsmöglichkeiten. ,,allä" wird - genau
wie das Verb ,,y" im Agau - ausgehend z.B. von Ausdrücken wie ,,9si allä"
- unter Verlust seines Bedeutungskerns auch auf andere Begriffe angewen¬
det. Dieses Problem der Wortbildung sollte dahin untersucht werden, in
welcher Sprache, zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Bedingungen
die genannte Form aufgetreten ist. Sic ist als Spätentwicklung aufzufassen,
die durch interethiüschen Kontakt und den Bedarf an neuen Bezeichnungen
rasche Verbreitung sowohl im Amharisehen als auch in den Agau-Sprachen
gefunden hat.
Im Zusammenhang mit dieser Wortbildung ist der Komplex der Gerxm-
dialbildung zu nennen wie ,,nagro'ar' = er sprach, etc. Genau dieselbe
Form findet sich im Agau, z.B. im Kemant Zusammensetzungen mit ,,y"
oder anderen Verben wie „wän" = existieren, oder ,,ku" bzw. ,,ag" = sein.
Studien zur Syntax des Amharisehen 609
Wie weit hier Berührung mit anderen kuschitischen Sprachen, z.B. dem
Sidamo, vorliegt, müßte noch untersucht werden.^
Ya-Komflex
Bekannthch hat sich schon Praetorius mit dem ya-Komplex ausein¬
andergesetzt. Polotsky^, Goldenberg* und Cotterell* haben dieses
Problem neu aufgegriffen. Es geht darum, daß ,,mit Hilfe der Partikel ya-
nominale, verbale und adverbiale Formen in attributive Ausdrücke bzw.
in Adjektive verwandelt werden" (Goldenberg, 9).
ya saba nigist yätäbäläl = sie wird Königin von Saba genannt
(CottereU, 5).
Die Struktur eines solchen Satzes (Cotterell nennt ihn „nomino-verbal")
stimmt überein mit rein verbalen Strukturen wie
sostu tänästäw
die 3 nachdem sie sich erhoben hatten
wädä ityopya mättu
nach Äth. kamen sie.
Diese Struktur geht nachgewiesenermaßen auf kuschitischen Einfluß
zurück (s. Cerulli, Sidamo; Leslau, Gafat doeuments). Sie ist geradezu
typisch für den Satzbau der kuschitischen Sprachen.
2 Hinweis durch Herrn Sasse. S. : auch Cerulli, Sidamo, 89 und Leslau, Gafat
Doeuments, 71 (Compound Gerundive): ,,The composition with al(l)ä is an Am-
harism."
^ Polotsky, H. J. : Etudes de Syntax Copte. 1944.
* Goldenbebg, G.: Studies in Amharic Syntax. In: Journal of Ethiopian
Studies, Bd. 3/1965, 6-22.
^ Cotterell, F. P. : Expansion Processes in Amharic Syntax. In : African
Language Studies, V/1964, 5-10.
40 Or.-Tag 1973
UND GIRYAMAi
Von Alfred Rupp, Saarbrücken
Die Reise erstreclite sich vom eigentlichen Abschluß der Hauptregenzeit
im Juli bis zum. August des Jahres 1971. In jenem Jahr schlössen sich an die
Regenzeit unerwartet heftige Nachschauer an, welche die Straßen unpassier¬
bar machten und dazu nötigten, die von Malindi aus geplanten Reisen für
etwa 2 Wochen aufzuschieben. Es war das Ziel der Reise, die Erfassung
ursprünglicher religiöser Traditionen im Siedlungsbereich der Pokomo und,
vornehmlich zum Zwecke des Vergleiches, auch der Giryama vorzubereiten,
wenn nicht gar schon aufzunehmen, sofern es die Umstände alsbald zuließen.
Es versteht sich von selbst, daß nichtreligiöse Traditionen hierbei nicht
immer ausgeklammert werden können und auch nicht dürfen^.
Das eigentliche Wohngebiet der insgesamt 13 Unterstämme der Pokomo
erstreckt sich gegenwärtig von der Tanamündung am Indischen Ozean bei
Kipini ungefähr 200 km flußaufwärts zum Norden^. Die im neuen Staatsver¬
band erleichterte und wohl auch begrüßte Ausbreitung der einzelnen Stäm¬
me über die jeweiligen mehr oder weniger angestammten Wohngebiete
hinaus wird sicherlich nicht zum völligen Aufgehen der Pokomo in anderen
Bevölkerungsgruppen führen, wenn diese auch mit einer Zahl von ca. 33000*
ein ausgesprochen kleiner Stamm sind. Wenn die Bevölkerungszahl von
18180 bei A. Werner* stimmt, hätten die Pokomo im Verlaufe von 6
1 Hierzu weitere Ausführungen in: Jahrbuch für Anthropologie und Reli¬
gionsgesohichte Bd. 1, Neukirchen 1973 (im Druck).
^ Gerade vom Material her wird immer wieder deutlich, wie problematisch die
generelle religionssystematische Trennung zwischen einem rein religiösen und
einem nichtreligiöson Bereich ist.
' Als nördliche Grenze nennt M. Samson, A history of the Pokomo, Journal of
the East Africa and Uganda Natural History Society, Bd. 17, 1944, S. 370 in
Verbindung mit der Landkarte S. 372/373, Masabubu im Bereich des Pokomoun-
terstammes der Malalulu. Dieser Ort hat die geographische Lage 1" 12' S 40° 1' O.
Die Begrenzung von A. Weeneb ,,. . . from the neighbourhood of the Equator to
2° 30' S", Journal of the Royal African Society, Bd. 12, 1912-13, S. 359, griff
offenbar weiter zum Norden hinauf und ist zudem recht unbestimmt. Ich konnte
auf meiner Reise nicht weit genug nördlich hinauffahren, um mir in dieser Frage
ein Urteil aus eigener Anschauimg erlauben zu können. .
* Diese Zahl wurde mir von Regierungsbeamten des Tana-District genannt.
6 A. Weeneb, a. a. O., S. 362.