• Keine Ergebnisse gefunden

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Anfang der 1990er Jahre in Polen als eine Phase angesehen werden kann, in der nicht nur eine neue außenpolitische Orientierung, sondern auch neue innenpolitische Regeln für die Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik entwickelt wurden. Dies war notwendig geworden, weil sich das Land veränderten externen Bedingungen und gleichzeitig einer tiefgehen-den internen Transformation von Politik und Wirtschaft ausgesetzt sah.

Auch wenn der Prozess der Demokratisierung durch schwache und oft wechselnde Regierungen sowie kontroverse Debatten über die wirtschaftliche Öffnung, die Rolle ausländischen Kapitals oder auch die Position der katholischen Kirche gekennzeich-net war, konnte sich in den ersten Jahren nach der Wende ein weitgehender Kon-sens in Bezug auf viele außenpolitische Fragen bilden (vgl. Prizel 1998: 109, Terry 2000: 8). Dieser erstreckte sich auf vier außenpolitische Hauptziele: (1) die Unab-hängigkeit des Staates von der Sowjetunion bzw. von Russland zu garantieren, (2) sich mit dem vereinigten Deutschland zu verständigen und zu versöhnen, (3) durch eine wirtschaftliche Integration mit den westeuropäischen Staaten eine langfristige wirtschaftliche Entwicklung zu sichern und (4) durch den Beitritt zur NATO der

ungünstigen geographischen Position zwischen Deutschland und Russland zu ent-kommen.

Neben den neuen gesellschaftlichen, innenpolitischen und wirtschaftlichen Bedin-gungen lässt sich in dieser Zeit auch eine Veränderung von Werten, Visionen und Ideen in Bezug auf die Außen- und Sicherheitspolitik ausmachen (Kuźniar 2001: 65).

Diese Veränderung betrifft laut Prizel (1998: 102) drei Bereiche: Erstens konnte in den frühen 1990er Jahren eine Distanzierung zu diskursiven Schemata wie z. B. der nationalen „Exklusivität“ oder der „Einzigartigkeit“ beobachtet werden, die in der Zwi-schenkriegszeit einflussreich gewesen waren. Zweitens entwickelte sich eine neue Form des nationalen Bewusstseins und des kollektiven Gedächtnisses, in dem sowohl das positive nationale kulturelle und historische Erbe als auch zunehmend die als negativ betrachteten und früher verschwiegenen historischen Erfahrungen wie z. B. der Antisemitismus oder die deutsche Vergangenheit in den „wiedergewonne-nen Gebieten“ Platz finden. Drittens bildete sich ein von allen wesentlichen politi-schen Kräften getragener grundlegender Konsens heraus, der die Anerkennung der Nachkriegs-grenzen, das Verhältnis zu Russland, die EU- und NATO-Aspirationen sowie die Versöhnung mit Deutschland und somit die wesentlichen außenpolitischen Fragen betraf.

Angesichts dieser Entwicklungen stellte Prizel im Jahr 1998 einen interessanten zeit-versetzten Vergleich an, in dem er die außenpolitische Umorientierung, die Polen in den 1990er Jahre durchlaufen hat, mit den Veränderungen kontrastierte, die Frank-reich in den ersten zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg zu bewältigen hat-te. Er gelangt durch diesen Vergleich zu der These, dass sich Polen mit der eigenen Neudefinition und der Schaffung einer modernen Identität weniger schwer getan hat als Frankreich. Obwohl diese Prozesse unter anderen Bedingungen verliefen, seien die beiden Fälle nach Prizel doch vergleichbar, da beide Staaten zu einem Rückzug aus ihren historischen Einflusszonen gezwungen wurden und sich gleichzeitig eine engere Definition der eigenen Nation aneignen mussten, was im polnischen Fall be-deutete, die Beziehungen zu Deutschland und den östlichen Nachbarn neu zu ges-talten. Von entscheidender Bedeutung dafür, dass der Prozess der Schaffung einer modernen Identität schneller und einfacher verlief als in Frankreich, sei nach Prizel die Tragödie, die der Zweite Weltkrieg für Polen bedeutet habe und die weder in Be-zug auf die Vergangenheit noch auf die Zukunft Raum für irgendwelche Illusionen

Entsprechend wiesen auch noch zehn Jahre nach der Wende von 1989 zahlreiche Analysen der polnischen Außenpolitik in den Jahren 1989-1999 auf die Konsistenz der außenpolitischen Agenda hin, die trotz häufiger Regierungswechsel eine zuneh-mend realistische Vision der Rolle des Staates in Europa versprach (Terry 2000: 45).

Eine wichtige Zäsur in der Außenpolitik und im außenpolitischen Diskurs stellen das Jahr 1999 und der Beitritt Polens zur NATO dar. Wurde der Diskurs in den Jahren 1992 bis 1998 von einer „NATO-Euphorie“ dominiert61, tauchen in den außen- und sicherheitspolitischen Debatten des Jahres 1999 neue Themen auf, die mit dem Pro-zess der Transnationalisierung und den damit verbundenen neuen Anforderungen in Verbindung stehen. Eine Kernfrage war dabei, wie sich die zunehmende Integration Polens mit der Bewahrung der nationalen Identität verbinden lässt, womit hauptsäch-lich Tradition und Werte gemeint sind (Cimoszewicz 2000).

Betrachtet man hingegen Arbeiten über die polnische Außen- und Sicherheitspolitik nach 1999, trifft man vor allem auf Fragestellungen, die die transatlantischen Bezie-hungen in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Dabei genießt die strategische Ausrichtung der polnischen Politik in Fragen der nationalen Sicherheit eine besonde-re Aufmerksamkeit. Bei der Lektübesonde-re polnischer Analysen wie z. B. der vom Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau 2002 publizierten Studie „Das neue Mit-glied des „alten“ Bündnisses. Polen als neuer Akteur in der euroatlantischen Sicher-heitspolitik“ wird deutlich, dass sicherheitspolitische Fragestellungen sowohl bei Re-gierungsvertretern als auch in der Öffentlichkeit auf großes Interesse stoßen. Hier wie dort herrscht die Auffassung vor, dass die Zielsetzung der polnischen Außenpoli-tik nach dem NATO-Beitritt im Jahr 1999 vor allem aus dem Willen resultiere, die

„geopolitische Situation zu verändern und der grauen Sicherheitszone zu entkom-men“ (Osica/ Zaborowski 2002: 13). Aus diesem Grund konzentriert sich das polni-sche außen- und sicherheitspolitipolni-sche Denken in den letzten Jahren überwiegend auf das Thema „Sicherheit“ und wird von drei wesentlichen Eigenschaften geprägt:

61 Stellvertretend für viele Aussagen z. B.: „Der Beitritt zur Allianz wird Polen zum ersten Mal in seiner neuesten Geschichte glaubwürdige Sicherheitsgarantieren geben – die Überzeugung, dass es im Fall eines Angriffes auf die Hilfe der Alliierten zählen kann. Andererseits wird Polen durch den Beitritt zum NATO-System der kollektiven Verteidigung, die Förderung euroatlantischer Werte sowie eine aktive Teilnahme am Dialog innerhalb der Allianz und an der Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheit zur Stabilität und Sicherheit seiner künftigen Alliierten und anderer Länder des Kontinents beitragen.“

(Grygolec et al. 1998: 2).

1. Die polnische Außenpolitik ist von im engen Sinne einer Sicherung gegen Be-drohungen militärischer Art verstandenen Sicherheitsfragen dominiert (Kuźniar 2001: 15).

2. Aufgrund mangelnder Verteidigungskapazitäten seitens der nationalen Armee gilt es als notwendig, Sicherheit außerhalb des nationalen Systems zu suchen.

In erster Linie soll dies durch die Einbindung in die internationalen Institutionen geschehen (Kuzniar 2001: 15).

3. Sowohl die Sicherheitsinteressen als auch ihre Artikulation sind stark von his-torischen Erfahrungen geprägt. Auf der Grundlage des so genannten „Kom-plexes des Verrats“, der auf die negativen Erfahrungen mit den westeuropäi-schen Verbündeten im Zweiten Weltkrieg zurückgeht, ist der Politikgrundsatz

„nichts über uns ohne uns“ gewachsen (Osica/ Zaborowski 2002: 14).

Wie die Grundaussagen dieser Analysen zeigen, steht die Souveränitäts- und Sicherheitsfrage immer noch im Zentrum des öffentlichen Interesses. Sie erschwert den Umgang mit Entscheidungen, die auf der einen Seite die kürzlich wiedergewon-nene nationale Unabhängigkeit und, auf der anderen Seite, die freiwillige Beteiligung am Prozess der europäischen Integration betreffen. Dieses Problem spiegelt sich in einem sicherheitspolitischen Dilemma wider: Während aufgrund des mangelnden Vertrauens der politischen Eliten wie auch der Bevölkerung in die europäischen Si-cherheitsgarantien die NATO-Mitgliedschaft und die Zusammenarbeit mit den Verei-nigten Staaten höchste Priorität genießen, stehen die Kooperation mit den europäi-schen Partnern und die Integration in die europäieuropäi-schen Strukturen in allen anderen Bereichen wie z. B. Finanzen, Handel, Umwelt oder Bildung im Vordergrund.

Angesichts einer derartigen doppelten Ausrichtung im außenpolitischen Bereich wird nun sowohl in der Forschung als auch in der Politikberatung der Frage nachgegan-gen, wie in dieser Situation das Nationalinteresse definiert62 wird und welche Umset-zung es in der polnischen Außenpolitik findet. Anlass zu interessanten Analysen lieferte in diesem Zusammenhang beispielsweise die Entscheidung über die polni-sche Beteiligung am Irak-Krieg, die in der letzten Zeit häufig Eingang in die Frage-stellungen politikwissenschaftlicher Arbeiten gefunden hat (Osica 2004, Frank 2004

62 Es handelt sich an dieser Stelle um das „Definieren“ (defining) des nationalen Interesses, was als Opposition zum „Verteidigen“ (defending) verstanden werden kann: „State interests do not exist to be

und 2005, Zaborowski 2004). Diese Studien weisen hauptsächlich auf die Bedeutung historischer Erfahrungen für die Begründung des Engagements im Irak auf der Seite der Amerikaner hin. Dabei merkt beispielsweise Osica (2004) an, dass in den Dis-kussionen über die Triftigkeit der Gründe sowie die Modalitäten der Entscheidungs-findung eine „historische“ und eine „ahistorische“ Denkweise über die Außenpolitik aufeinander treffen (Osica 2004: 2-3). Den sicherheitspolitischen Denkmustern, Leit-sätzen und Praktiken widmet sich weiterhin die Analyse von Frank (2005: 20-24), die anhand eines rollentheoretisch inspirierten Ansatzes die außenpolitische Rolle Po-lens als Regionalmacht bestätigt und die Transformation des allgemeinen sicher-heitspolitischen Rollenprofils von einem Sicherheitskonsumenten zum Sicherheits-produzenten im Kontext der Irak-Frage untersucht. Zaborowski (2004: 11-15) befasst sich hingegen mit den unterschiedlichen Argumentationen, die in den öffentlichen Debatten zur Begründung des Entschlusses zur Beteiligung herangezogen wurden.

Dabei betont er die Nachwirkung des moralischen Arguments, das sich von einer ursprünglich starken Untermauerung dieser Entscheidung angesichts der Ereignisse des ersten Jahres des Irak-Krieges in ein Contra-Argument umgewandelt hat.

An die Ergebnisse dieser ersten Arbeiten, in denen die sicherheitspolitische Ausrich-tung Polens nach 1999 untersucht wird, knüpft die vorliegende Arbeit an. Ihre Aus-gangsfrage ergibt sich dabei aus der Beobachtung, dass das Element „Sicherheit“

eine besondere Rolle im öffentlichen Legitimationsprozess bestimmter außenpoliti-scher Entscheidungen spielt.

4 Fallstudie: