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4.2 Eine Nation in Gefahr? – Zur Konstruktion der gesellschaftlichen Sicherheit

4.2.2 Europa als der „Andere“

4.2.2.2 Europa als Gefahr

Im Unterschied zu den im letzten Abschnitt analysierten Aussagen, in denen es um das allgemeine Verständnis der Beziehungen zwischen der nationalen und europäi-schen Ebene der Identität ging, wird im Folgenden der Frage nachgegangen, welche Auswirkung des Integrationsprozesses auf die nationale Identität erwartet wird. Be-trachtet man zunächst die Aussagen, in denen auf eine Gefährdung der polnischen Nation durch die europäische Integration hingewiesen wird, lassen sich drei wichtige

Themenbereiche identifizieren: Erstens wird im Zuge einer wertedominierten Debatte um die Zukunft des Polentums gefürchtet. Zweitens werden wirtschaftliche Aspekte wie vor allem die Auswirkung der Integration auf das Humanpotenzial der Nation be-trachtet. Drittens lässt sich eine eher politische Besorgnis ausmachen, in der die Loyalität der Bürger gegenüber den nationalen Institutionen hinterfragt wird.

Schaut man sich die Narrationen an, in denen das „Polentum“ (polskość) als von der europäischen Integration bedroht dargestellt wird, stellt sich zunächst die Frage, was sich in der öffentlichen Wahrnehmung hinter diesem Begriff verbirgt. Laut der geläu-figen Definition des Historikers Tadeusz Łepkowski lassen sich unter polskość die ethnische Gemeinschaft, die Sprache, die Religion, die Gemeinschaft der Kultur, die Tradition sowie Bräuche und Sitten zusammenfassen (Dialog 2003/2004: 9). Es han-delt sich an dieser Stelle also um einen kulturell geprägten Begriff, dessen Inhalt der Bedeutung von kultureller Identität entspricht. Der Schutz des „Polentums“ wie auch der nationalen Identität bedeutet daher die Verteidigung bestimmter Werte, was Ver-suchen gleichzusetzen ist, den als gefährlich angesehenen Einflüssen zu widerste-hen oder sie zu meiden. Als gefährliche Einflüsse werden im Kontext der Diskussio-nen der letzten Jahre vor allem zwei Denkrichtungen angesehen: der Kosmo-politismus und der Liberalismus.

Kosmopolitismus, was soviel wie Weltbürgertum bedeutet, gilt zwar im Allgemeinen als der Gegensatz zum Nationalismus, wird aber in diesem Kontext durchaus als die Opposition zum Patriotismus verstanden, der eine besondere Beziehung zum eige-nen Land beinhaltet:

92. Dies geht mit der Angst um das weitere Schicksal des Polentums einher:

der Sprache, der Kultur, der historischen Tradition und des Patriotismus selbst. All dies kann, in den Augen mancher, im kosmopolitischen Meer der Europäischen Union versinken. An dieser Stelle werden Erfahrungen eines Landes hörbar, das in den letzten drei Jahrhunderten gerade mal 30 bis 40 Jahre volle Souveränität genossen hat. Die Angst vor weiteren Teilungen tritt derzeit in den Vordergrund unserer nationalen Komplexe. Hier helfen kei-ne Argumente, die auf die Integrationserfahrungen im Westen Europas hin-weisen, wo es nicht zum Verschwinden der deutschen, französischen, italieni-schen oder engliitalieni-schen Kultur kam. Im Gegenteil haben wir dort mit einer Verstärkung der Autonomie- und Zentrifugalbewegungen zu tun […]. Auch in

Polen hören wir von Versuchen, die schlesische Nation zu legalisieren.

Pol 01/2004

Die zu analysierende Narration bietet zunächst eine Beschreibung der Bedrohung, die der übernationale Charakter der Europäischen Union (der Kosmopolitismus) für die polnische nationale Identität darstellen kann: Die EU wird hier als ein „kosmopoli-tisches Meer“ bezeichnet, in dem sich das „Polentum“ in der Zukunft verlieren kann, da es fremden Einflüssen unterliegt („versinken“). Hinter diesem für die Narration zentralen Bild verbirgt sich hauptsächlich die Wahrnehmung einer diffusen und nicht genau definierten Bedrohung. Die Narration bedient sich dieser metaphorischen Dar-stellung mit dem Ziel, die ausgesprochene Furcht vor der Auflösung nationaler Ei-genschaften im Zuge der EU-Integration zu verstärken. Das Meer, das eine Natur-gewalt darstellt, in dem man untergehen oder von dem man überschwemmt werden kann, ruft gleichzeitig das Gefühl der Unsicherheit und Unberechenbarkeit hervor.

Die Verwendung dieses Bildes zur Beschreibung der europäischen Wirklichkeit führt dazu, dass diese beiden Merkmale auf den Prozess der europäischen Integration übertragen werden.

Weitere Ängste, auf die die rekonstruierte Erzählung zurückgreift, haben überwie-gend politischen Charakter. Es handelt sich erstens um die Bedrohung der Souverä-nität des Staates, die hier in Bezug auf die kulturelle Identität der Nation eine schüt-zende Funktion erfüllen soll. Diese Angst basiert auf bestimmten historischen Erfahrungen, wie z. B. der Politik der Germanisierung oder der Russifizierung im 19.

Jahrhundert, die die polnische Gesellschaft zur Zeit der Teilungen Polens als eine Nation ohne Staat machen musste. Zweitens wird in dem Ausschnitt auf die Gefahr zunehmender Autonomiebewegungen hingewiesen, die mit der von der EU geförder-ten Stärkung regionaler Identitägeförder-ten zusammenhängt. Dieses Phänomen betrifft in Polen vor allem Schlesien, da die Affirmation einer „schlesischen Identität“ als eine Bedrohung für die Einheit der Nation sowie für die Unteilbarkeit des staatlichen Terri-toriums interpretiert wird.

Betrachtet man die narrative Struktur des gesamten Fragments, kann man feststel-len, dass die Erzählung mit der Deutung des europäischen Kosmopolitismus, den Teilungen Polens als historischen Referenzen sowie der Warnung vor dem schlesischen Separatismus typische Bedrohungskonstruktionen beinhaltet. Das von diesen Gefahren betroffene Referenzobjekt ist das „Polentum“, was sich als

polnische nationale kulturelle Identität interpretieren lässt. Geht man der Frage nach, ob es sich hier um einen Fall von securitization handelt, lässt sich diese allerdings nicht eindeutig beantworten: Erstens fehlt in der Narration die für securitization-Szenarien charakteristische Handlungsstruktur, die eine Forderung nach Sonder-maßnahmen zur Lösung des erkannten Sicherheitsproblems beinhaltet. Zweitens weist die Erzählung erhebliche Schwächen in den Argumentationsstrukturen auf, da der kausale Zusammenhang zwischen der als Gefahrenursache eingestuften Euro-päischen Union und den befürchteten Entwicklungen nicht erklärt wird. So erscheint es einerseits zumindest fraglich, ob der Vergleich zwischen der freiwilligen partiellen Übertragung nationaler Souveränitätsrechte vom polnischen Staat auf eine suprana-tionale Institution wie der EU und dem Verlust der Unabhängigkeit und der eigenen Staatlichkeit im Falle der polnischen Teilungen vom Publikum als angemessen wahr-genommen wird. Andererseits bleibt auch unklar, auf welche Weise die europäische Integration separatistische, die Integrität des Staates bedrohende Bewegungen be-günstigen soll. Abschließend kann man allerdings festhalten, dass sich die analysier-te Erzählung trotz der beiden genannanalysier-ten Schwachpunkanalysier-te in der Handlungsstruktur als ein securitization-Versuch einordnen lässt, auch wenn er beim Publikum wahr-scheinlich kaum Erfolgschancen hätte.

Die Undefinierbarkeit der europäischen Identität, die sich in der Schwierigkeit äußert, Werte zu benennen, auf denen sie basieren könnte, steht im Mittelpunkt der folgen-den Aussage:

93. Die EU bietet ihren Bürgern im Moment keine neue Identität an. Im Ge-genteil – in der EU werden alle Werte verwässert. Noch vor einigen Jahren, zu Zeiten des Kalten Krieges, wurde die Identität der Europäer durch die Poli-tik bestimmt. Auf der einen Seite des Eisernen Vorhangs war das freie Euro-pa, auf der anderen die unfreien Nationen. Heute ist es deutlich problemati-scher, Europa durch eine Abneigung gegenüber dem Fremden zu definieren. Wer sollte nämlich der Fremde sein? Russland? So denken wahr-scheinlich manche Polen, aber niemand im Westen. Uns fehlt heute die frühe-re Überzeugung von Politikern wie z. B. Jacques Delors, die eine Vision der Vereinten Staaten von Europa hatten (Er hat diese Formulierung nie benutzt, aber genau darum ging es.) Heute ist ein solcher Traum von Europa als einem Körper tot. Wir stellen uns alle die Frage: Was soll diese Union, wozu

Ähnlich wie in der zuvor analysierten Narration wird in dem angeführten Fragment darauf hingewiesen, dass die Europäische Union eine kulturelle Gefahr darstellt. Die Gefahrenkonstruktion lässt sich dabei folgendermaßen zusammenfassen: Die Schwäche der EU, eine eigene Identität zu definieren, führe zu einer „Verwässerung“

der Werte. Zurückzuführen sei diese Schwäche auf strukturelle Schwierigkeiten, die aus der veränderten Situation nach dem Ende des Kalten Krieges resultieren, wobei das Problem darin bestehe, dass keine einfachen politischen Gegensätze mehr vor-handen seien, auf deren Grundlage sich eine europäische Identität herausbilden könnte. Zu solchen Denkstrukturen habe beispielsweise die Opposition zwischen dem „freien Europa“ und den „unfreien Nationen“ gehört, die noch zu Zeiten des Ei-sernen Vorhangs galt und die Festlegung einer europäischen Identität erleichterte.

Aus dem einfachen Grund, dass es schwierig geworden sei, den „Fremden“ zu iden-tifizieren und seine Rolle festzulegen, finde der Mechanismus, in dem die Identität in Abgrenzung eines „Fremden“ bestimmt wird, heute keine Anwendung mehr.

Als Ergebnis des oben rekonstruierten Gedankengangs kommt in der analysierten Narration eine dem vorherigen Bild des Meeres ähnliche Undefinierbarkeit und Ideenlosigkeit der europäischen Integration zum Ausdruck. Begleitet wird sie von der Empfindung, die gegenwärtige Politik sei in Bezug auf das europäische Projekt orien-tierungslos. Dieser Eindruck wird durch den Vergleich mit der Geschichte der Integra-tion (z. B. mit der europäischen Vision von Jacques Delors) zusätzlich verstärkt.

Nimmt man diese Einschätzung der aktuellen Lage der Europäischen Union in Bezug auf die Identitätsfrage als einen Ausgangspunkt einer Problembeschreibung, können in der rekonstruierten Narration bestimmte Elemente identifiziert werden, die auf se-curitization-Strukturen hinweisen. So kommt es einerseits zu einer Konstruktion von Bedrohungen: Die Wertelosigkeit der europäischen Integration wird als eine Gefahr für die Identität aufgefasst, während der Mangel an europäischen Visionen die Zu-kunft des europäischen Projekts bedrohe. Darüber hinaus lässt sich in der Erzählung auch eine Handlungsaufforderung erkennen, die Sinnfrage der europäischen Integra-tion zu beantworten und ihr Ziel neu festzulegen. Andererseits fehlt, um zu einer voll-ständigen securitization-Handlungsstruktur zu gelangen, in der Narration ein klar de-finiertes Referenzobjekt der Sicherheit. Man kann daher vermuten, dass die angeführte Aussage nur im Zusammenhang mit dem gesamten Identitätsdiskurs eine effiziente Sicherheitsbotschaft vermitteln kann.