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3.3 Außenpolitische Debatten der 1990er Jahre

3.3.4 Atlantische Ausrichtung

3.3.5.1 Die Beziehungen zu Deutschland

Seit dem Zweiten Weltkrieg spielte die Frage der Westgrenze Polens eine wichtige innenpolitische Rolle und war sehr präsent im politischen Diskurs. Die Bonner Repu-blik wurde in der VolksrepuRepu-blik Polen als eine Militärmacht wahrgenommen, die die Oder-Neiße-Grenze in Frage stellt und den Frieden in Europa bedroht (Bingen 1982).

Ein derart negatives Bild Westdeutschlands, das die Propaganda zu einem „revan-chistischen Staat hochstilisierte“ (Żurek 2005: 65), wurde zur Legitimierung der kommunistischen Herrschaft in Polen genutzt und häufig für politische Zwecke in-strumentalisiert (Drozd 2001: 130).

45 Die Regierung unter der Leitung von Jan Olszewski wurde am 23. Dezember 1991 von Präsident Wałęsa berufen. Unterstützt wurde sie in dem erstmals in vollständig demokratischen Wahlen gewähl-ten, sehr „atomisierten“ Parlament von 12 Gruppierungen. Die Tatsache, dass nur vier Gruppierungen Minister stellten, bedeutete, dass die Gruppe, die eine stabile Unterstützung leisten konnte, nur 114 von 460 Abgeordneten umfasste. Die Notwendigkeit, diese Koalition zu erweitern sowie Streitigkeiten zwischen den einzelnen Parteien und Gruppierungen führten bereits in der Nacht vom 4. auf den 5.

Juni 1992 zu einem Sturz der Regierung. Diese innenpolitischen Konflikte haben die Erfolge im Be-reich der Außenpolitik wie z. B. die eindeutige Umorientierung Polens in Richtung Westen sowie die Unterzeichnung des Assoziationsabkommens mit der EWG überschattet (Paradowska 2006; vgl. auch Kapitel 3.2.2).

46 Hierzu zählen Vorschläge wie z. B. die Stärkung der Organisation für Sicherheit und Zusammenar-beit in Europa (OSZE), Sicherheitsgarantien der Großmächte Russland und USA oder

westeuropäi-Besonders sichtbar war dieser „antideutsche Komplex“ (Krzemiński 1998: 140) in der Staatsideologie Władysław Gomułkas47: Die Festlegung der deutsch-polnischen Grenze an Oder und Neiße hielt er für einen großen politischen Erfolg der Kommu-nisten, den die polnische Exilregierung in London so nicht hätte erzielen können:

Unser Land wäre dann ohne Westgebiete und ohne Ostgebiete. Es wäre eine Art Herzogtum Warschau, es wäre nichts. (Rede von Władysław Gomułka am 9. Juli 1968 während der 12. Plenarsitzung des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei).

Wie tief die Verbindung zwischen der Frage der Westgebiete und der Daseinsbe-rechtigung der kommunistischen Staatsmacht war, erklärt Adam Michnik in seinem 1984 in der Pariser Kultura sowie auch in einer deutschsprachigen Sonderausgabe dieser Zeitschrift erschienenen Artikel mit dem Titel Zwischen Russland und Deutschland:

Der Zement, der die polnischen Kommunisten mit dem polnischen Volk ver-band, war die „nationale Leidenschaft“, das Bestreben, die Grenze an der Oder und Neiße zu festigen, und das starke anti-deutsche Ressentiment, das durch die Schreckensherrschaft der Nazis genährt wurde. (Michnik 1984: 36).

Trotz der tiefen Verankerung des anti-deutschen Ressentiments gaben bereits Mitte der 1960er Jahre die polnischen katholischen Bischöfe sowie die Evangelische Kirche in Deutschland die ersten Impulse zur Versöhnung zwischen Deutschen und Polen48. Ein weiterer Versuch, die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Polen zu verbessern, erfolgte im Rahmen der Ostpolitik unter Bun-deskanzler Willy Brandt (SPD). In dem am 7. Dezember 1970 geschlossenen Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen bestätigten die

47 Władysław Gomułka (1905-1982): Mitbegründer der Polnischen Arbeiterpartei (PPR), von 1956 bis 1970 Generalsekretär der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR).

48 Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) veröffentlichte 1965 die sog. Ostdenkschrift („Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“). Die polnischen Bischöfe haben im November 1965 in Rom den deutschen Bischöfen einen Brief über-reicht, in dem sie im Gegensatz zum offiziellen Geschichtsbild auch an die positiven Erfahrungen der deutsch-polnischen Nachbarschaft erinnerten und das Leid der deutschen Vertriebenen bedauerten.

Der Brief, der mit den Worten „wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung“ endete, provozier-te damals eine heftige Kampagne gegen die des Verrats polnischer Inprovozier-teressen bezichtigprovozier-te katholische Kirche und sorgte gleichzeitig für Auseinandersetzungen innerhalb der polnischen Gesellschaft. Zu-sammen mit der Ostdenkschrift der EKD wird der Brief heute als eine „Avantgarde der Versöhnung“

(Żurek 2005) gesehen (ausführlicher vgl. Krzemiński 1998: 141-142; Żurek 2005).

beiden Regierungen die Oder-Neiße-Linie als die polnische Westgrenze und bekann-ten sich zur Unverletzlichkeit ihrer Grenzen, zum Verzicht auf gegenseitige Gebiets-ansprüche und zum Prinzip der Gewaltfreiheit im Sinne der Vereinten Nationen. In den 1980er Jahren spielte wiederum das Engagement polnischer Intellektueller eine wichtige Rolle bei der Überwindung des deutsch-polnischen Konflikts. So stellte bei-spielsweise der Essay von Jan Józef Lipski Zwei Vaterländer – zwei Patriotismen einen wichtigen Beitrag zu den deutsch-polnischen Beziehungen dar. In diesem Text von 1981 benannte er unter anderem die Vertreibung der Deutschen und das Ver-schweigen der deutschen Vergangenheit in den so genannten „wiedergewonnenen Gebieten“ als „dunkle Flecken“ in der polnischen Geschichte.

Auf die Notwendigkeit eines ehrlichen Dialogs über die deutsch-polnische Vergan-genheit wies Premierminister Mazowiecki in seiner im Herbst 1989 abgegebenen Regierungserklärung hin. Er plädierte für „eine echte Aussöhnung, die dem Rang der zwischen Deutschen und Franzosen bereits herbeigeführten entspreche“ (Bingen 2005: 13), und kündigte an, die Wiedervereinigung Deutschlands zu unterstützen.

Und doch tauchte die Frage der Oder-Neiße-Grenze innerhalb kurzer Zeit erneut in der deutsch-polnischen politischen Agenda auf. Die Tatsache, dass eine Bestätigung der polnischen Westgrenze in dem von Helmut Kohl am 28. November 1989 vor dem Bundestag vorgestellten 10-Punkte-Programm fehlte, rief auf der polnischen Seite Verunsicherung hervor.49 Diese kam in einer mehrmonatigen Kampagne der Mazowiecki-Regierung zum Ausdruck, deren Ziel es war, noch vor der Wiederverei-nigung Garantien für den bestehenden Verlauf der deutsch-polnischen Grenze zu bekommen. Dies erfolgte während der Pariser Runde der Zwei-Plus-Vier-Gespräche am 17. Juli 1990, zu der der polnische Außenminister Skubiszewski eingeladen wur-de (Mawur-dera 2003: 171). Dort wies er in seiner Rewur-de auf wur-den Zusammenhang zwi-schen der Wiedervereinigung Deutschlands und den Sicherheitsinteressen des pol-nischen Staates hin:

Die Vereinigung Deutschlands stellt mein Land vor eine neue Situation. Es sind viele Fragen aufgetaucht, die die polnischen Sicherheitsinteressen direkt betref-fen. Eine dieser wesentlichen Angelegenheiten ist gerade die Bestätigung der völkerrechtlichen Gültigkeit der polnisch-deutschen Grenze in ihrem heutigen

Verlauf durch die vier Großmächte und das vereinte Deutschland. (zitiert nach Madera 2003: 171).

In der Folge der Pariser Gespräche wurden zwei Verträge unterschrieben: am 14.

November 1990 der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Re-publik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenzen, der völkerrechtlich das Ende der Nachkriegszeit im deutsch-polnischen Verhältnis mar-kiert (Bingen 2005: 14), sowie am 17. Juni 1991 der Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit, der für den offiziellen Beginn der „deutsch-polnischen Werte- und Interessengemeinschaft“ stand (so Krzysztof Skubiszewski am 22. Februar 1990 während des 6. Forums „Polen – Bundesrepublik Deutschland“

in Posen). Einen wirklichen Durchbruch im Versöhnungsprozess zwischen Deutsch-land und Polen stellte aber erst die Teilnahme von Bundespräsident Herzog an den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag des Warschauer Aufstands am 4. August 1994 dar (Mildenberger 2001: 30; Krzemiński 1998: 191). Ein Jahr später, 1995, brachte der polnische Außenminister Bartoszewski in seiner Rede vor den Mitgliedern von Bun-destag und Bundesrat sein Bedauern über das Leiden zum Ausdruck, das viele Deutsche in Zusammenhang mit dem Krieg durchlebt haben:

Wir beklagen das individuelle Schicksal und die Leiden der unschuldigen Deut-schen, die von den Kriegsfolgen betroffen wurden und ihre Heimat verloren haben. (Bartoszewski 1995).

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre kündigte sich in den deutsch-polnischen Be-ziehungen ein Paradigmenwechsel an: „An die Stelle der euphorischen Aufbruch-stimmung in den ersten Jahren nach dem Umbruch trat allmählich ein allseits emp-fundenes Inhaltsvakuum“ (Mildenberger 2001: 31). Der 1998 in Deutschland vollzogene Regierungswechsel wurde in Polen mit einem Wandel in der Wahrneh-mung der historischen Beziehungen zu Polen und einem verstärkten Verfolgen deut-scher Interessen in der Europapolitik assoziiert. Für Verstimmungen sorgten Themen wie die Entschädigung von Zwangsarbeitern und die Vertriebenenproblematik (ebd.).

In der Zeit unmittelbar vor dem polnischen Beitritt zur NATO kam es allerdings zu einer Intensivierung der Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheitspolitik (Drozd 2001: 139) und – vor allem seit der Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der EU 1998 – zu einer Multilateralisierung der Beziehungen (Mildenberger 2001: 33). Eine

entscheidende Rolle hat in diesem Kontext die konstante und aktive deutsche Unter-stützung für den Beitritt Polens zur NATO und zur EU50 gespielt.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Deutschland-Diskurs in der polni-schen Außenpolitik der 1990er Jahre den Prozess der Multilateralisierung des Ver-hältnisses zwischen den beiden Ländern im Wesentlichen begleitet hat. Trotzdem blieben historische Themen und Argumentationen über die Jahre hinweg sehr prä-sent und sogar dominant. Auch wenn die Beziehungen zu Deutschland allein nach 1999 nur selten als eine Gefahrenquelle für die polnische Staatlichkeit angesehen wurden51, bleibt das Bild der deutsch-russischen Zusammenarbeit gegen Polen bis heute immer noch in den öffentlichen Debatten präsent. Aus diesem Grund gehört auch dieses Szenario zu den im Rahmen des empirischen Teils der Studie unter-suchten Sicherheitsnarrationen.