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3.3 Außenpolitische Debatten der 1990er Jahre

3.3.3 Mitteleuropäischer Regionalismus

Einen anderen wichtigen Schwerpunkt der polnischen Außenpolitik am Anfang der 1990er Jahre bildete die regionale Zusammenarbeit. Ihr Ziel bestand darin, eine Plattform für eine gemeinsame Aktion in der Region zu schaffen und Mitteleuropa (Central Europe)40 durch eine diskursive Ausdifferenzierung aus dem Block

„Osteuropa“ politisch zu etablieren. Die Idee des mitteleuropäischen Regionalismus verband Staaten der Region, denen die Gestaltung ihrer Sicherheitsbedingungen bis dahin entzogen waren, und stellte einen wesentlichen Bestandteil ihrer Reaktion auf die oben erwähnte Konzeption einer sich seit der Wende über die Region erstreckenden „grauen Sicherheitszone“ dar (Grajewski 2001: 233). Im Vergleich zu

40 Der Begriff „Mitteleuropa“ geht auf die 1840er Jahre zurück. 1842 schrieb Friedrich List von der

„mitteleuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft“, um die Notwendigkeit der deutschen wirtschaftlichen Expansion in den zwischen Deutschland und Russland liegenden Gebieten zu begründen. Eine ähnli-che Idee der deutsähnli-chen wirtschaftliähnli-chen und politisähnli-chen Vorherrschaft in der Region stellte später Friedrich Naumann in seinem Buch Mitteleuropa (1915) dar, wobei er zu dieser Region auch Belgien zählte. Eine andere Konzeptualisierung Mitteleuropas im 19. Jahrhundert stellte der Plan einer Donau-Konföderation von Adam Czartoryski und László Teleki (1848) dar. Das Ziel dieser Mitteleuropaidee war es, die Völker der Region als eine Schicksalsgemeinschaft zu integrieren, die sich vor Deutsch-land und RussDeutsch-land schützen muss (ausführlicher Miller 2003: 141-142). Der Mitteleuropadiskurs erleb-te seine Wiedergeburt in den 1980er Jahren in den Arbeierleb-ten der Dissidenerleb-ten, wie z.B. Milan Kunderas Essay Der gestohlene Westen oder die Tragödie Zentral-Europas oder György Konrads Antipolitik.

Mitteleuropäische Meditationen (1984) (ausführlicher vgl. Neumann 1998: 149; Miller 2001: 146-149).

Welche Länder der Begriff Mitteleuropa umfasst, bleibt unklar. Den unterschiedlichen Definitionen zufolge können zu dieser Region sensu largo alle Länder an einer Nord-Süd-Achse zwischen Deutschland und der GUS zählen (Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechische Republik, Slowa-kei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Mazedonien, Jugoslawien und Albanien), oder auch sensu stricto nur Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn

früheren Versuchen, multilaterale Kooperationen in der Region aufzubauen41, verlief der Prozess diesmal deutlich schneller. Innerhalb kurzer Zeit sind mehrere Strukturen mit Beteiligung mitteleuropäischer und in einigen Fällen auch westeuropäischer Staa-ten entstanden.42

Die umfangreichste und sichtbarste Initiative in diesem Bereich ist die Zusammenar-beit im Rahmen der Visegrád-Gruppe. Ihr Name kommt von der ungarischen, nahe der slowakischen Grenze gelegenen Stadt Visegrád, wo am 15. Februar 1991 die Präsidenten Polens (Lech Wałęsa), Ungarns (József Antall) und der Tschechoslowa-kei (Václav Havel) die erste Kooperationserklärung unterschrieben haben (Madera 2003: 134-135). In diesem Dokument wurde eine gemeinsame Zielsetzung verein-bart, die die Wiedergewinnung der vollen Souveränität sowie von Demokratie und Freiheit, die Abschaffung totalitärer Eigenschaften des Staates, den Aufbau einer modernen parlamentarischen Demokratie und eines Rechtsstaates, die Stärkung der Marktwirtschaft sowie die Integration in das europäische Politik-, Wirtschafts-, Sicherheits- und Rechtssystem umfasste (Visegrád-Erklärung von 1991; Madera 2003: 135). Um die trotz dieser Vereinbarung eher schleppende regionale Kooperation zu intensivieren und sichtbarer zu machen, wurde über die politischen Erklärungen hinaus 1999 der so genannte „Visegrád-Fonds“ ins Leben gerufen, der gemeinsame Projekte in den Bereichen Kultur, Bildung, Jugendaustausch und Zivilgesellschaft fördert.

Neben dem Argument des Sicherheitsvakuums in Mitteleuropa gehört zu den Grund-lagen des mitteleuropäischen Regionalismus auch eine ideelle Komponente. Bereits in den 1980er Jahren wurde in Dissidentenkreisen eine Debatte über die regionale Identität und die zukünftigen Perspektiven dieses Gebiets geführt. Als ein Wende-punkt der auch in Westeuropa rezipierten Diskussion kann der im Jahre 1983 in der französischen Zeitschrift Le Débat unter dem ursprünglichen Titel Der gestohlene (in

41 Die bekannteste Konzeption für die Kooperation im mitteleuropäischen Raum war in der Zwischen-kriegszeit die von Piłsusdki vorgeschlagene nordostbaltische Konföderation „Międzymorze“ („zwischen zwei Meeren“), die vom Schwarzen Meer bis zur Ostsee reichen sollte und die Idee der polnisch-litauischen Union aufgriff (vgl. auch Hauner 1995). Auch in Zeiten der Volksrepublik gab es ähnliche Initiativen. Als Beispiele sind hier zu nennen: der Rapacki-Plan von 1957 zur Schaffung einer atom-freien Zone (vgl. Ester/ Hecker/ Poettgens 1993: 207-213) oder der Gomułka-Plan von 1963 zum „Ein-frieren“ der Atomwaffenrüstung (Gajewski 2001: 236).

42 z. B. Quadrogonale 1989 (später Pentagonale, Hexagonale, Mitteleuropäische Initiative), Visegrád-Gruppe (1991), Rat der Ostseestaaten (1992), Wirtschaftliche Zusammenarbeit der Schwarzmeer-Staaten (1992, seit 1999 als eine internationale Organisation), Ostseerat (1992).

der Originalversion: der entführte) Westen oder die Tragödie Zentraleuropas43 er-schienene Essay von Milan Kundera angesehen werden. In dem überwiegend an westeuropäische Leser gerichteten Aufsatz beschuldigte Kundera den Westen, Mit-teleuropa verraten zu haben. Infolge der Beschlüsse der Jalta-Konferenz von 1945 habe Europa das Herz seiner Kultur verloren, das in Mitteleuropa geschlagen habe.

Es müsse daher die Pflicht und gleichzeitig das Interesse des Westens sein, sich in den mitteleuropäischen Kampf gegen den sowjetischen Kommunismus einzumi-schen, um sich mit seinem „gestohlenen“ Teil zu vereinigen. Der Effekt, den der Arti-kel auf die Diskussion hatte, wurde von Timothy Garton Ash mit dem Schock vergli-chen, den zehn Jahre zuvor die Veröffentlichung des Archipel GULAG von Alexander Solschenizyn verursacht hatte (Miller 2003: 148).

Das kulturelle Argument im Mitteleuropa-Diskurs trug zur Identitätsbildung in der Re-gion und zum Erfolg ihrer Rezeption in Westeuropa bei. Der Weg zu einer gemein-samen regionalen Identität verlief über eine doppelte diskursive Differenzierung: die Abhebung sowohl von Westeuropa als auch von der sowjetischen Tradition, wie im folgenden Zitat deutlich wird:

„History, it is maintained, is propelling Western Europe toward an ever brighter future, and Central Europe has a legitimate place in its wake. This modernist view of history comes in two guises: Marxian, that is, the East European, Soviet-type view of history, and liberal, the Central European view of history. In other words, there are two “others” involved: Western Europe and the Soviet Union.” (Neumann 1998: 149).

Konfrontiert man aber Neumanns Einschätzung über die große Bedeutung des Mit-teleuropa-Diskurses mit der politischen Wirklichkeit der regionalen Kooperation, so fällt eine deutliche Diskrepanz zwischen der stark präsenten diskursiven Strömung der Identitätsbildung und der – wie oben angedeutet – faktisch immer noch schwach ausgeprägten Zusammenarbeit auf. Diese Situation lässt daher vermuten, dass die mitteleuropäische Orientierung im außenpolitischen Diskurs noch eine andere Funk-tion als die Legitimierung der regionalen Zusammenarbeit hat.

43 Der französische Titel lautete: L’Occident kidnappé ou la tragédie de l’Europe centrale. Der Text

Sie stellt gleichzeitig einen integrativen Teil des allgemeinen Europadiskurses dar, wobei Europa („der Westen“) eine doppelte Funktion wahrnimmt: Es steht sowohl für den „Anderen“ als auch für den „Eigenen“ (Miller 2003: 149), während Russland die Funktion eines „konstitutiven Anderen“ (Neumann 1998) zukommt.