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Zusammenfassung der Sondermerkmale des PsDem-Vokabulars

Basierend auf der Untersuchung lexikalisch variabler Stellen in PsDem und den Ver-gleichsdmm. der Erstredaktion des aksl. Psalters SPBGDVL, lassen sich einige lexikalische Ten-denzen beobachten, die im Vokabular des PsDem offensichtlich sind.

Bei Substantiven und Adjektiven, die mittels Suffixen abgeleitet wurden, unterscheidet sich PsDem an variablen Stellen meist von S, der häufig auch eine andere Variante als die übrigen Hss.

aufweist. Bei Substantiven beobachten wir in PsDem ein häufigeres Vorkommen des Suffixes -ѥ (im Gegensatz zu -ьствѥ und -ьнѥ, die in den verglichenen Lexemen in S stehen) bei den Wör-tern велѥ, смоковѥ, беꙁаконѥ, невѣдѣнѥ. Weiters beobachtet man häufig das Suffix -ьда (vs. -ость, -ота in S) am Beispiel der Wörter правьда und правость, правота. Bei Adjektiven treten in PsDem häufiger Derivate mit dem Suffix -ъскъ (ловѣьскъ, ꙁемльскь, небесьскъ) auf als mit den Suffixen -ь und -ьнъ, die in S die Mehrheit bilden. Ein wesentlicher Unterschied zwischen PsDem und S bzw. zwischen PsDemPBGDVL und S besteht im Indefinitpronomen „jeder“, das in S konsequent вьсь lautet, während wir in PsDem und anderen Dmm. вьсѣкъ/вьсꙗкъ lesen. Die größte Übereinstimmung zwischen PsDem und S besteht signifikanterweise in den Endungsvari-anten von фараосъ und братръ (im Gegensatz zu den gemäß SJS viel häufigeren Formen фараонъ und братъ), die vereinzelt in den ältesten bekannten aksl. Hss. vorkommen. Wir finden sie in Ps-Dem an denselben Stellen wie in S, doch ist die Form братръ häufiger in S zu belegen. Bei anderen Varianten geht es an jenen Stellen, an denen PsDem am häufigsten mit S übereinstimmt, oft um eine genauere Erfassung des gr. Textes als in den Vergleichsdmm. So z.B. enthält PsDem gemein-sam mit S von den Äquivalenten für χείλη und στόμα nahezu durchgehend ѹстьна und ѹста, was als Beleg für die ursprüngliche Verteilung der beiden Wörter in der Erstübersetzung des Psalters gewertet werden darf. Ähnlich zeigen PsDem und S bei der Übersetzung substantivierter gr. Ad-jektive meist ein Substantiv (грѣшьнкъ, правьдьнкъ). Eine weitere Übereinstimmung zwischen PsDem und S ist auch im Adverb ютро zu beobachten, wofür andere Hss. häufig die Form ꙁаѹтра verwenden.

Bei präfigierten Wörtern, unter denen am häufigsten Verben und Adjektive auftreten (neben einigen deverbativen Substantiven), überwiegen in PsDem die Präfixe ꙁ-, въ-, въꙁ-, про-, по-, und zwar meist mit der Bedeutung „Beginn des Geschehens“. Das Präfix въ- enthalten PsDemPB für Substantive und Adjektive an Stellen, wo in S das Präfix ѹ- vorkommt. Unter den Verbalprä-fixen verdient die häufige Variabilität von Verben mit der Bedeutung „Auswärtsbewegung“ Inter-esse, wobei PsDemPB an jenen Stellen ꙁ- zeigen, an denen in S das Präfix вꙑ- (7x) vorkommt. In ähnlicher Weise verfügt PsDem über das Präfix въ- meist (8 von 11 Stellen) bei Verben, bei denen S das Präfix ѹ- oder въꙁ- aufweist oder das Verb unpräfigiert ist. Ein ähnlicher Unterschied zwi-schen PsDem und S besteht auch bei den Verben mit dem Präfix въꙁ-, die in PsDem wesentlich häufiger an variablen Stellen vorkommen als in S (14 von 21 Stellen) und anderen Hss. Mithilfe dieses Präfixes bildet PsDem häufig Verben mit inchoativer Bedeutung, so dass das Präfix die Funktion der Markierung eines zukünftigen oder einmaligen Ereignisses übernimmt, ähnlich wie dies oft in den Texten kroatisch-glagolitischer Messbücher und Breviere der sog. südlichen texto-logischen Gruppe der Fall ist (ReinhARt 1993, 218, 221–222, 225f., 229, 231).

Von den (rund 160) untersuchten Stellen mit variablen Ausdrücken unterschiedlicher Wur-zeln steht in weniger als einem Drittel in PsDem ein Ausdruck, der nicht mit jenem in S überein-stimmt, obwohl es in einigen Fällen schwierig ist zu entscheiden, ob es sich dabei nur um einen Kopierfehler handelt oder doch um eine lexikalische Variante. Das heißt dort, wo in den Unter-suchungsdmm. Synonyme verschiedener Wurzeln verwendet werden, hat PsDem meist (etwa in zwei Drittel der Fälle) das gleiche Lexem wie der Sinai-Psalter und meist auch PB (z.B. добро und благо, мꙑто etc.). Bei Auftreten eines Archaismus in S zeigt PsDem an den meisten Stellen einen

zeitgemäßeren Ausdruck (z.B. стна für рѣснота). Nach der Verteilung synonymer Ausdrücke weist PsDem relativ viele gemeinsame Stellen mit S und überwiegend auch mit PB auf, etwa beim Auftreten von нъ (im Gegensatz zu еднъ) für μόνο-.

Schließlich finden wir im PsDem auch Wörter und Phrasen, die nicht im SJS als Entsprechung des jeweiligen gr. Ausdrucks verzeichnet sind: ѹтвръдт, vgl. ꙋтвъді (95.10); смоковѥ, vgl.

смоковіе (104.33); съвѣдѣнѥ, vgl. съвѣдѣніѣ (118.101); ꙁаконъ (118.119); полѣ дъні (135.11);

вѣнѥ, vgl. вѣніѣ (147.7); твръденѥ (150.1). Interessant sind auch die Einträge des Wortes гѫсѣнца, in PsDem missgeschrieben als ѫсѣенца, vgl. ѫсѣніцѧ (104.34) oder der Eigenname аморѣскъ, in PsDem wiedergegeben als марѣскъ, vgl. марѣіска (134.11).

Literatur:

MAReš 1956; MARti 2000; ReinhARt 1993; ŘSI; SJS; StAnkovskA 2019.

1. Einführung

1. Tarnanidis benannte unsere Hs. „Psalter des Dmitrij Ol(tarnik)” nach einigen sekundären Einträgen, die sich quer durch den Psalter ziehen und an zwei Stellen auch den Namen dieses Schreibers und Benutzers zu erkennen geben. Im Falle des Epithetons Oltarnik handelt es sich um eine Konjektur Tarnanidis’, die aufgrund besserer Aufnahmen korrigiert werden konnte. So sind in der ersten Namensnennung auf f. 1r nicht nur die Anfangsbuchstaben ol- zu lesen, auf denen Tarnanidis seine Theorie aufbaute, sondern auch ein darauffolgendes -e; weshalb die gesamte Pas-sage wohl wie folgt lautet: „Ich, Dmitъr, ein Sünder, o weh!”1.

Auf diese erste Subskription folgt ein sich über mehrere Seiten erstreckender, vierteiliger Ge-betszyklus (1. f. 1r2-17; 2. f. 2r2-13; 3. ff. 2r14-20, 3r14-21, 34v1-4; 4. ff. 34v4, 140r13-23, 140v1-9, 144r1-242), in den bald nach Beginn recht unerwartet auch ein griechisch-lateinisch-glagolitisches Abecedar eingeflochten ist (f. 1r20-25). Unmittelbar davor eingeschoben ist noch eine kurze Bemerkung des Autors (f. 1r18-19). Auf f. 34v1-3 finden sich kurze liturgische Anwei-sungen (Alleluia, Psalmenvers), und auf f. 141rm folgt dann die zweite Subskription.

Bevor wir auf den Inhalt des Gebetszyklus eingehen3, eine allgemeinere Charakteristik:

Die Graphik des Demetrius unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von jener der Psal-terschreiber (PDS 2012, 49–61, 87–111): Sein Ductus ist größer und unregelmäßiger; es fehlen gänzlich kyrillische Einstreuungen, und ebenso spezifisch lateinische Interferenzen in der Gestal-tung bestimmter Buchstaben. Auch hat Demetrius mit den (hinteren) Nasalvokalzeichen keine Mühe, so dass seine Partie zunächst einen durchaus bulgarischen Eindruck macht. Zweifel an seiner bulgarischen Herkunft erwecken jedoch einzelne sprachliche Abweichungen von der abg.

Norm, allen voran die Konstruktion ꙋ свто мр[ѭ] in der zweifellos von ihm selbst gewählten For-mulierung псахъ [ж]{е с}е нъ не вѣдѧт[ъ] / кол [л]{...}ъ: ꙋ свто мр[ѭ] auf f. 1r18-194. Hier zeigen sich also doch Gemeinsamkeiten mit den Psalterschreibern, die noch durch regelmäßige Züge wie die allen Schreibern gemeinsame Jor-Redaktion und die durchgehende Verwendung der u-Ligatur unterstrichen werden5. Bemerkenswert ist die zitierte Konstruktion von u mit Akkusativ, die aufgrund der Textlücke davor ebensogut lokal wie temporal interpretierbar und vor allem für das Štokavische typisch ist, obwohl sie auch im nördlichen Čakavischen vorkommt. Wir tippen eher auf das Štokavische, weil das -o ‒ statt ѫ oder ꙋ ‒ von св(ѧ)то eher ein unvollendetes ꙋ als ein Entnasalierungsprodukt von ǫ sein dürfte; zumal aus der Form ѫделѣт von f. 144r10 hervorzu-gehen scheint, dass der Schreiber in der Position des hinteren Nasalvokals /u/ sprach6.

Nun ist Demetrius freilich kein Unbekannter mehr. Als anonymen Ergänzer der Kiever Blätter kannte ihn schon Vatroslav Jagić7. Später verband ihn Marija Pantelić (PAntelić 1985, 33ff.) mit den

1 Die neue Lesung hat jedoch, wie SAvić (2019, 96) anmerkt, den Schönheitsfehler, dass ole als Regel vorangestellt vorkommt; ein isoliertes Vorkommen wie hier scheint noch nicht belegt zu sein.

2 Das ursprünglich als engere Einheit aufgefasste 2.–3. Gebet ist wegen „Amen. Siegel, Gabe des Hl. Geistes“ in zwei zu trennen, zumal auch der Inhalt abweicht: Zuerst ist die Gefahr des Wolfsüberfalls aufs Gehege, dann sind Häuser, Vieh, Arme und Lahme und ihre Habe sowie Kinder angesprochen. Unsicher ist, ob es sich auf f. 34v tatsächlich um den Schluss des Gebets handelt.

3 Zum Folgenden siehe MiklAs, GAu, hüRneR 2016, 27–28, 33, 34, 37, 43–51, 53–63.

4 Weitere Beispiele in Kap. III, Anm. 55.

5 Vgl. die kontrastive Darstellung in MiklAs, GAu, hüRneR 2016, 31–43.

6 Zu einer möglichen Einschränkung siehe Anm. 69!

7 Zu f. 1r der KiFol siehe die präzise Analyse mit Textabdruck und Glossar von schAeken 1987, 163–173 und 213–214, worin auch die restliche Literatur aufgearbeitet ist.

Einträgen im Petersburger „Služebnik“ („Blätter Krylovs und Uspenskijs“), und schließlich konnte H. Miklas seine Hand noch im sog. Missale Sinaiticum und einem in dieses eingelegten Blatt mit einem griechischen Psaltertext identifizieren (MiklAs 2000, 118, 123; 2014a, 19; hüRneR 2010, 57).

Heute wissen wir, dass das Petersburger Fragment ursprünglich den Anfangsteil des Missales bildete, weshalb wir für die beiden Teile die Bezeichnung Sinaitisches (glagolitisches) Liturgiarium einge-führt haben. Damit ist die Zusammengehörigkeit der aufgezählten Stücke noch wahrscheinlicher, als ursprünglich angenommen. Allem Anschein nach rührt aus seiner Feder auch noch ein lateinisches Minuskel-Abecedar, das bisher unbemerkt im Altteil des Psalterium Sinaiticum schlummerte (vgl.

hüRneR 2010, 68-69). Die Basis für die Identifikationen der kyrillischen und griechischen Partien liefert uns das dreigliedrige Abecedarium im PsDem. Zu dieser Zeit war Demetrius nämlich noch kaum mit der griechischen und lateinischen Minuskel vertraut, weshalb er diese beiden Alphabete soweit wie möglich mit kyrillischen Buchstaben schrieb. Nicht infrage kommt er als Verfasser des lateinischen Minuskelabecedars auf f. 2r oben im PsDem, das offenbar die Vorlage eines Mitbruders darstellt, den Demetrius um diese gebeten hatte (vgl. hüRneR 2010, 67)8.

Wir können daher festhalten, dass Demetrius trotz seiner teilweise so grob wirkenden Schreib-weise kein bloßer Kopist, sondern ein kundiger, wissbegieriger Literat und ‒ zu urteilen nach dem Genus seiner Texte – wohl Mönchspriester war (PDS 2012, 31). In früheren Abhandlungen hatten wir noch die Vermutung ausgedrückt, dass er ursprünglich Benediktiner war; dafür spricht nicht nur die kirchliche Situation in den angenommenen Gebieten, in denen er sich vor seiner Reise auf den Sinai aufhielt, sondern auch die Verwendung mehrerer Texte mit lateinischer Basis, seine Erwähnung spezifisch westlicher Heiliger und insbesondere seine Beziehung zum hl. Romuald (siehe u.a. hüRneR 2010, 387, 369), von der noch ausführlich die Rede sein soll. Gewisse Eigen-heiten des auf ihn zurückgehenden Textmaterials scheinen freilich darauf hinzudeuten, dass sein Ritus auf dem Sinai, aber möglicherweise schon in seiner Heimat, die ja lange unter byzantinischer Oberhoheit stand, auch östliche Elemente enthielt. So lässt sich die liturgische Anweisung auf f.

34v1-3 („In der 1. Nachtstunde [jede Nacht?] bete: Alleluja, 7. Ton. Vers [Ps. 142]: ‚Herr erhöre

…’ bis ‚dass’ [und] ‚denn ich bin Dein Knecht.’…“) im sinaitischen Kontext mit der palästinensi-schen Tradition verknüpfen, ist aber seit dem 9. Jh. auch für Konstantinopel verbürgt9.

2. Kehren wir nun zurück zum Gebetszyklus im Psalter (zum Folgenden vgl. MiklAs 2014a):

Die bisherigen Betrachter der Gebete haben diese durchwegs wörtlich verstanden; demnach han-delte es sich um an den hl. Demetrius, Christus und den Herrn gerichtete Schutzgebete, von denen die beiden ersten Abwehr erflehen vor dem Wolf und anderen wilden Tieren (Bären, Füchsen), die das Tiergehege des Autors bedrohen (f. 1r9-12). Nach dieser Interpretation wäre also Demetrius ein Einsiedler gewesen, der den Athosberg bestieg, um sich mit mächtiger Stimme an seinen Thes-saloniker Schutzpatron um Hilfe zu wenden (f. 1r1-7). Aber abgesehen davon, dass Demetrius die Handschrift nur auf dem Sinai vorfinden und nachträglich beschreiben konnte und als Hirte kaum des Lesens und Schreibens mächtig gewesen wäre, erscheinen auch diverse Einzelheiten im Gebetszyklus selbst seltsam; und zwar folgende fünf (jeweils im 1. Gebet): 1. zunächst die

Aus-8 Demetrius’ Bestreben, lateinisch schreiben zu lernen, steht nicht allein da: Auch die Blätter von Sin. lat. NF 38 ent-halten lateinische Schreibübungen. Michelle Brown, der wir diesen Hinweis verdanken, notiert zum lateinischen Teil von Demetrius’ Abecedar: „The abcedarium has copied something predating the 12th century and postdating c. 800, as it fails to incorporate the letter w which is introduced by the Normans but features a caroline minuscule g. It has an uncial thorn-like A with minuscule letters following (of caroline character).“ (Briefliche Mitteilung an HM, 2018).

9 Lt. schriftlicher Mitteilung von Nina Glibetić (Catholic University of Notre Dame, U.S.A.) vom März 2020, für die wir ihr herzlich verbunden sind. Leider ist die Stelle aber nicht so klar, wie man es sich wünschen würde, siehe den Kommentar zur Übersetzung! (Die theologische Behandlung der rituellen Besonderheiten der Glagoliten auf dem Sinai soll u.a. den Gegenstand eines eigenen Bandes zur sinaitisch-glagolitischen Tradition bilden). Vgl. auch Anm. 27!

sage, dass der Autor eines der Tiere (gemeint ist hier der Wolf) fesselt; 2. dann, dass er dies nur symbolisch mit den Utensilien eines Schreibers (und Lagen- bzw. Buchbinders) tut, da er hierzu Nadel und Zwirn, Feder und Blei verwendet (f. 1r12-13); 3. der (unvermittelte und offenbar aus einem vorhandenen Text übernommene) Satz „Und das Messer/Schwert im schwarzen Griff/Heft stecke ich in seine Scheide; und bis ich das Messer/Schwert aus der Scheide ziehe, möge sich der Wolf nicht wieder losreißen!“ (f. 1r13-17); 4. dass Demetrius dem Heiligen eine rhetorische Frage

„Wer ist es, der den Wolf fesselt?“ in den Mund legt und mit „ein Mensch“ beantwortet (f. 1r7-9); und schließlich 5., dass Demetrius im Anschluss daran das signifikante, dreiteilige Abecedar folgen lässt (f. 1r20-25). Überhaupt erweckt das erste Gebet eher den Eindruck einer Art Vorre-de zum zweiten, das sich zentral gegen Vorre-den Wolf richtet. Fügen wir dazu noch Einzelheiten aus den übrigen Gebeten, wie z.B. die gemeinsame Erwähnung der Heiligen Gregor und Maria im 3.

Gebet (f. 2r16-17), so spricht vieles dafür, in den ersten Gebeten einen übertragenen Sinn zu su-chen. Denn wie in der Literatur wiederholt dargestellt10, kommt den Tieren in der Bibel, speziell in den Feind- und Ichklagen der Psalmen, eine besondere Bedeutung zu, da einige von ihnen die

„unheimliche, aggressive, chaotische Macht“ der menschlichen Feinde widerspiegeln, denen der Beter ausgeliefert ist und deren Abwehr er allein von Gott erbitten kann11. Nun ist Demetrius’ Wil-len zur Fesselung der Tiere höchstwahrscheinlich metaphorisch gemeint; weshalb sich gleich die Frage stellte, ob seinem ersten Gebet nicht eine noch tiefere Symbolik innewohnt. Die folgende, im geschichtlich-kirchenpolitischen Kontext seiner Zeit und Herkunftsregion zweifellos plausible These mag manchen als bloßes Gedankenexperiment erscheinen, erweitert jedoch die Reihe der Deutungen um die einzige, die alle auf der ersten Seite des Zyklus aufeinanderfolgenden Stücke gleichsam zu einem Mosaik zusammenfügt und ihnen einen durchgehenden Sinn verleiht.

Unsere nachstehenden Überlegungen nahmen ihren Anfang mit den Erkenntnissen, dass De-metrius offensichtlich seinen Schutzheiligen anruft, auf dass er die kyrillomethodianische Tradi-tion (ihre Anhänger und deren „Markenzeichen“, die glagolitische Schrift) schützen möge, und mit dem Berg nur der Mosesberg hinter dem Katharinenkloster (bzw., zu Demetrius’ Zeiten und in dessen Diktion: dem Marienkloster) gemeint sein kann. So verfolgten wir die Phrase mit dem Messer bzw. Schwert auf ihren Ursprung zurück und fragten uns, welche Persönlichkeit sich hin-ter der Hauptbedrohung, dem Wolf, verbergen könnte (vgl. MiklAs 2014a, 19ff. und MiklAs, GAu, hüRneR 2016, 58–59, 61f.). Unsere Antwort war folgende: Die Phrase stellt eine Abwandlung der berühmten Michaelsvision Gregors I. des Großen vor dem Hadriansmausoleum (d.h., der nach der Vision benannten Engelsburg) in Rom dar, in welcher der Erzengel als Zeichen der Vergebung Gottes sein gezücktes Schwert wieder in die Scheide führt. (Den Hintergrund bildete eine Pestepi-demie, die Gregor bewog, mit hochgehaltener Marienikone an der Spitze einer Prozession vor das Mausoleum zu ziehen, um Gottes Zorn zu besänftigen). Den Wolf interpretierten wir als Gregor VII. (1073–85), einen späteren Nachfolger Gregors I. und Zeitgenossen des Demetrius, den schon dessen Sekretär Petrus Damianus (Damiani) in einem Epigramm als Wolf charakterisiert hatte.

Der positive Held der Story ist dabei Gregor I. (um 540–604; Papst ab 590), der im sog. aqui-leianischen Schisma vehement um die Einheit der Kirche kämpfte und im Sinaikloster jahrhun-dertelang hohes Ansehen genoss (Der Mönchspapst sehnte sich zeitlebens nach dem Leben seiner sinaitischen Brüder und brachte dem Katharinenkloster große Verehrung entgegen, unterstützte es durch Spenden und ließ in Jerusalem ein Pilgerhospital gründen12); der Antiheld Gregor VII.,

10 Siehe u.a. Riede 2000, 150ff., 279ff; schRoeR 2010, 90ff.

11 https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/tier/ch/60eccab8e 73485c0a58e0fc9c43ac3bf/#h12.

12 Vgl. lABiB 1961, 22ff.; RiChARdS 1980, 76sq., 78, Anm. 134; BRoWn 2016, 59, 76, 78, 81–82, BRoWn 2018, 76sqq., 89, 90 und Anm. 52. Hinzu kommt, dass Gregor neben Cassiodor zu den wichtigsten Autoren zählt, die Pilgerrei-sen in das Heilige Land propagierten, vgl. BRown 2016, 58.

der durch sein Machtstreben Risse in der Kirche bzw. unter den ihm untergebenen Kirchenvertre-tern auslöste. In Dalmatien, dem geographischen Kontext der Schreiber des Demetrius-Psalters, dürfte er (wie in Spanien – in beiden Fällen ist von „Goten“ und „gotisch“ die Rede, wenn es um die Verderbnis des Ritus und der Kirchenbücher geht!) die ohnehin strengen Sprachbestimmun-gen der Spliter Synode von 1059/60 noch weiter verschärft und bewirkt haben, dass jene Prie-ster, die des Lateinischen nicht mächtig waren, endgültig ihrer Funktion beraubt wurden. Einige dürften freilich schon vor Gregor aus dem Einflussbereich des Erzbistums Split abgewandert und sich nach Norden begeben haben, wo sie mit Billigung des (antireformistischen) Gegenpap-stes Honorius II (1061-64, †1072) ihre kirchenslavische Tradition aufrechterhalten konnten. So starb bekanntlich die glag. Tradition im südlichen Adriaraum allmählich aus, wogegen sie sich im Norden (Istrien, Kvarner Inseln und Umgebung) noch bis an die Wende zum 20. Jh. halten konnte. Halten wir noch fest, dass der Einfluss Gregors VII. dort deshalb so stark war, weil der Kroatenherrscher Demetrius-Zvonimir (†1089) – teils, um sich Byzanz zu entziehen, teils, um seine Herrschaft zu legitimieren –, der Aufforderung Gregors gefolgt war und sein Herrschafts-gebiet Rom unterstellt hatte, um 1075 von einem Legaten des Papstes in der Basilika von Solin zum König gekrönt zu werden13.

So betrachtet, wäre also der Anfangsteil des Zyklus, worin es jeweils um den Wolf geht, ein nur dem Eingeweihten verständlicher, allegorischer Angriff auf die Kirchenpolitik Gregors VII. − der zu jener Zeit, zu der Demetrius seine Zeilen verfasste, im wahrsten Sinne ein Gefesselter war, weil er sich vor seinem Hauptgegner, dem deutschen Kaiser Heinrich IV., ins Mausoleum des Hadrian verschanzt hatte (1083–84). (Der Phrase „den Wolf und die Wölfin“ ist erwartungsgemäß zu entnehmen, dass neben Gregor VII. auch Rom als Sitz der Kurie Zielscheibe von Demetrius’

Angriff war).

Nun ergibt auch das dreigliedrige Abecedar einen Sinn: Es steht, wie schon I. tARnAnidis

(1999, 2011) erkannte, für die vermittelnde Position der Slavenlehrer, der sich Demetrius verbun-den fühlt, und um deren Wiederkehr er ihren gemeinsamen Schutzherrn, Demetrios von Thessalo-niki, anruft! (Ausführlicher siehe dazu Kap. III.1.3).

3. Vor der Äußerung dieser Hypothese war es natürlich erforderlich, die betreffenden Daten im Kontext aller übrigen Einträge des Demetrius zu betrachten; mit dem Ergebnis, dass zumin-dest zwei – die Namensliste in einem Kopfornament des Petersburger Služebnik (der, wie höher vermerkt, einst zum Missale gehörte und mit diesem das „Sinaitische Liturgiarium“ bildete) und die erste Seite der Kiever Blätter, sie unterstützen. Finden sich in ersterem mindestens zwei mit Istrien verbundene Heiligennamen, Mastal und Romuald (vgl. sub III.5), so hinterließ Demetrius in letzteren ein Mariengebet aus dem sog. Gregor-Sakramentar, in dem ebenfalls von der Verteidigung der Diener Gottes vor Feinden die Rede ist ( отъ всѣхъ сѫпос/татъ f.

1r25-26, vgl. schAeken 1987, 215). Mastalus (Mastulo oder Mastalo) lässt sich am ehesten als Bischof von Säben in Südtirol (nach 605) deuten, das damals zu Aquileia gehörte, und kämpfte

13 Dies bedeutet nicht, dass Demetrius-Zvonimir selbst eine glagolitenfeindliche Haltung eingenommen hätte, da er parallel zu seiner Unterstützung der Gregorianischen Reform weiterhin großzügig den Bau von Glagolitenklöstern förderte (vgl. RAvlić 2009, 792). Beweis dessen sind u.a. die berühmte Tafel von Baška (allgemein datiert um 1100) und das Fragment von Jurandvor. Der Umstand erinnert an die bereits oben erwähnte Situation der Sázava-Mönche, denen es trotz Gregors Verbot gelang, unter dem Schutz der Regierung Vratislavs II. ihre ksl. Tradition fortzusetzen. Die beiden Beispiele deuten auch darauf hin, dass derartige Verbote in erster Linie den Gottes-dienst in Gemeindekirchen betrafen – um das Eindringen von „Irrlehren“ unter die Bevölkerung zu verhindern –, während es den Klöstern einigermaßen gelang, ihre Eigenständigkeit zu wahren. Im Lichte dieser Überlegungen könnte man geneigt sein, in Demetrius-Zvonimir selbst den Autor des allegorischen Angriffs zu vermuten: Er hätte sich in seinen letzten Lebensjahren ins Kloster zurückziehen und seine aus Eitelkeit eingegangene Verbindung mit Gregor aufgrund der dann eingetretenen Missgunst gegenüber der überkommenen ksl. Tradition bereuen können;

was ihn zur Abfassung dieser Allegorie veranlasst hätte.

(wie Sinnacher meinte) im sog. Dreikapitelstreit mit Gregor dem Großen für die Beilegung des aquileianischen Schismas, wofür er von diesem in einem Brief als „lieber Sohn“ gelobt wurde14. Und der hl. Mönchsreformator Romuald kam im Herbst 1002 nach Poreč und gründete

(wie Sinnacher meinte) im sog. Dreikapitelstreit mit Gregor dem Großen für die Beilegung des aquileianischen Schismas, wofür er von diesem in einem Brief als „lieber Sohn“ gelobt wurde14. Und der hl. Mönchsreformator Romuald kam im Herbst 1002 nach Poreč und gründete