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Die „epidemieartige“ Verbreitung von Diabetes scheint trotz hochentwickelter medika-mentöser Therapien nicht aufzuhalten zu sein und verursacht durch Folgeschäden hohe Kosten und individuelles Leid. In der öffentlichen Debatte gilt besonders ein un-gesunder Lebensstil als relevant für die Krankheitsentstehung (Räisänen et al. 2006).

Therapieziele sind klar durch metabolische Zielwerte definiert. Als problematisch gilt die Non-Compliance oder Non-Adherence bezüglich der Medikamenteneinnahme und der geforderten Veränderung des Lebensstils. Es wurde erkannt, dass die Behandlung in den Händen der Erkrankten liegt, in alltäglich neu zu treffenden Entscheidungen für ein „gesundes“ oder „ungesundes“ Verhalten. Krankheitskonzepte gelten als kritisch für das Krankheitsverhalten. In der Literatur findet sich daher eine umfangreiche Sammlung von Theorien und Modellen zu Krankheitskonzepten von Menschen mit Di-abetes. Bessere Kenntnis der Krankheitskonzepte lässt medizinisches Personal auf einen erleichterten kommunikativen Zugang zu Menschen mit Diabetes hoffen, um letztlich deren Eigeninitiative zu stärken und damit (eigene) Behandlungserfolge zu mehren.

Krankheitskonzepte werden von Kultur und Gesellschaft sowie eigenen Werten und Erfahrungen beeinflusst (Linden et al. 1988). Krankheitskonzepte von Behandelnden und Kranken unterscheiden sich und bieten so Konfliktpotential, insbesondere da sie stark emotional geprägt und schwerlich durch Argumente zu ändern sind. Sie dienen als Rechtfertigung für Entscheidungen (Kleinman 1988; Lawton et al. 2008) und ent-halten oft unterschiedliche Zielvorstellungen. Für Menschen mit Diabetes scheint der Wunsch nach Kontrolle über die Krankheit bzw. einer „Balance“ im Leben mit ihr ein bestimmendes Motiv zu sein (Gillibrand and Flynn 2001; Paterson and Thorne 2000;

Kneck).

Eine Richtung der Forschung zu Krankheitskonzepten sieht die Bewältigung der Krankheit, also die Anpassung an die Krankheit im Alltag und die Identifikation mit ihr als entscheidenden Faktor für Erfolg oder Misserfolg der Behandlung (Kneck;

Hörns-ten et al. 2004). Bewältigung von Krankheit wird häufig als Ablauf von Phasen charak-terisiert, durch die die Erkrankten in Richtung eines Meisterns der Krankheit gehen müssen bzw. wollen (Moser et al. 2008). Es werden sogar Vermutungen über Paralle-len zu den Stadien der Bewältigung von Tod und Sterben nach Kübler-Ross angestellt, die ein Mensch durchlaufen muss, bis er die Diagnose Diabetes Typ 2 akzeptiert und dann aktiv am Krankheitsmanagement teilnehmen kann (Kogan 2009).

Ein anderer Aspekt in der Forschung ist die Arzt-Patient-Beziehung. Neuerdings rich-ten sich die Erwartungen von medizinischen Personal und Gesellschaft an Menschen mit Diabetes auf Selbstmanagement und Selbsthilfe (Collins et al. 2009). Die Eigen-verantwortung von Menschen mit Diabetes wird beworben. Betroffene sollen Expertise über ihre Krankheit und deren Behandlung erwerben. Gleichzeitig wird die Experten-meinung des medizinischen Personals mit Bezug auf die evidenzbasierte Medizin als die richtige bestätigt. Holmström und Rosenqvist (2005) unternahmen z.B. den Ver-such Krankheitskonzepte zu erforschen - mit dem Ziel, durch Reflexion der Krankheits-theorien die „Missverständnisse“ der Menschen über Diabetes aufzulösen.

Auch wenn also als Ziel betont wird, den Erkrankten - aufgrund ihrer durch Erfahrung erworbenen Expertise - Verantwortung für ihre Behandlung zuzusprechen, wird immer wieder sichtbar, wie schwer es medizinischem Personal fällt, Erkrankte nicht als erzie-hungsbedürftige Laien zu sehen, sondern in ihrer Mündigkeit anzuerkennen (Paterson 2001). In der Praxis scheint (verständlicherweise) ein heimliches Ideal eine Arzt-Pati-ent-Beziehung zu sein, bei denen Erkrankte ärztlichen Empfehlungen folgen, sie sich dafür aber gemeinsam mit dem medizinischen Personal entschieden haben. Während eine akut kranke Person nur marginal von ärztlichen Therapievorschlägen abweichen wird, also einen gebrochenen Arm gegebenenfalls eine Woche früher belastet als empfohlen, ist es schwer, dieses Konzept von Gesundheit und Krankheit bei chroni-schen Krankheiten „durchzusetzen“.

Krankheitserfahrungen wurden bisher aus der Perspektive des medizinischen Perso-nals untersucht. Dabei liegt nahe, dass Kranke und Behandelnde - allein aufgrund der Erfahrung - das Konzept Krankheit völlig unterschiedlich begreifen. Natürlich hat es eine innere Logik und ist unerlässlich, dass Ärztinnen und Ärzte kategorisieren, dass sie naturwissenschaftliche Kenntnisse über die Funktion des Körpers als Handlungs-grundlage nehmen und eine Krankheit aus einer gewissen Distanz betrachten. Die

Kategorisierung in gute und schlechte Kranke - eine gängige Praxis, die sich oft auch direkt oder indirekt in Studien widerspiegelt - verfehlt das Problem oder erzeugt sogar zusätzliche Belastungen in der Therapiebeziehung.

Nicht außer Acht zu lassen ist außerdem, dass Menschen mit Diabetes auch bei „op-timalem“ Verhalten (und vollständiger Integration der Krankheit in die Persönlichkeit) mit einem Fortschreiten der Krankheit rechnen müssen (Parry et al. 2005). Gleichzeitig wird „Kontrolle“ bei Diabetes Typ 2 aber gesellschaftlich auf eine Weise verhandelt, in der „außer Kontrolle sein“ moralisches Versagen bedeutet (Broom und Whittaker 2004). Der Einfluss von gesellschaftliche Normen und Erwartungen auf die Krankheits-erfahrung ist stark (Broom and Whittacker 2004) und spiegelt sich auch in den zum Teil unterschiedlichen geschlechtsspezifischen Erfahrungen wider (Broom and Lenagh-Maguire 2010).

Angesichts der Vielfalt an Verbesserungsvorschlägen für die Diabetesversorgung gibt es vergleichsweise wenig Forschungsarbeiten, welche die Krankheitserfahrung - und nicht das krankheitsbezogene Verhalten - in den Mittelpunkt stellen. Ziel vieler For-schungsgruppen war es, herauszufinden, welches Krankheitsverständnis am besten zu ihrem Lösungsvorschlag der Versorgungsproblematik passt, sei es zur Adherence oder dem Ideal der autonomen, sich mit ihrer Krankheit identifizierenden, selbststän-digen Menschen. Das Verständnis von Krankheit kann schwerlich verstanden werden, wenn man durch die Suche nach passenden Beiträgen für bekannte Modelle Nuancen der Krankheitserfahrung verwischt. Während das Versagen der Therapiekonzepte häufig aus mangelndem Verständnis und mangelnder Motivation vonseiten der Er-krankten erklärt wird, wäre es wichtiger, nach möglichen Gründen zu fragen, warum sie die Krankheit nicht oder anders verstehen. Sinnvoll wäre daher, sich von den vor-handenen Modellen und „Idealpatienten“ zu lösen und einen offenen empirischen Be-zug zu Denken und Erleben von Menschen mit Diabetes Typ 2 zu suchen.