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3. Fragestellung und Ziel

4.3 Kontext und Material

Das Ausgangsmaterial der vorliegenden Analyse besteht aus narrativen Interviews, welche zwischen 2009 und 2011 für das Website-Projekt „krankheitserfahrungen.de“

erhoben wurden.

4.3.1 „Krankheitserfahrungen.de“

„Krankheitserfahrungen.de“ ist eine nach dem Vorbild der britischen Website „health-talkonline.org“ entwickelte Website der Universitäten Göttingen und Freiburg. „Health-talkonline.org“ wurde mit dem Ziel entworfen, die Erfahrungen kranker Menschen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hintergrund war der Eindruck, dass diese

sub-jektiven Informationen „aus erster Hand“ (Herxheimer et al. 2000) Menschen im Um-gang mit der gleichen Krankheit helfen könnten. Ferner soll die Website Angehörigen, Bekannten und anderen Interessierten sowie Menschen, die im Gesundheitssystem tätig sind, helfen, zu verstehen, was für Menschen mit einer bestimmten Krankheit wichtig ist. Zur wissenschaftlichen Entwicklung der Website richtete die britische For-schergruppe die „Database of Individual Patient Experiences (DIPEx)“ ein. Mittlerweile finden sich dort Daten zu über 100 Krankheiten und Gesundheitsproblemen, auch „Mo-dule“ genannt. „Krankheitserfahrungen.de“ wurde durch die Gesellschaft „DIPEx UK“

lizenziert und war an der Gründung des Dachverbandes „DIPEx International“ beteiligt, unter dem „DIPEx“-Websites in vielen anderen Ländern entwickelt worden sind (Ar-beitsgruppe krankheitserfahrungen.de 2013).

„Krankheitserfahrungen.de“ hat genau wie das britische Vorbild das Ziel, Einblicke in die Erfahrungen von Kranken zu bieten. Bei Besuch der Website besteht die Möglich-keit, unter verschiedenen Modulen eine Krankheit herauszugreifen und dazu originale Video-, Audio- oder Textausschnitte der narrativen Interviews anzuwählen. Es lassen sich gezielt einzelne Personen oder Themen aussuchen. Von großer Bedeutung ist, dass das Anliegen bei der Gestaltung die Darstellung des gesamten Spektrums mög-licher Erfahrungen mit einer Krankheit war. Es sollten also nicht nur Erfolgserlebnisse dargestellt werden, wie es auf manchen kommerziell beeinflussten Websites zu Wer-bezwecken geschieht. Außerdem sollte auch keine „moralische Zensur“ stattfinden, d.h. auch Erfahrungen und Handlungen, die vielleicht der „medizinischen“ Sichtweise der Forschenden widersprachen, sollten gezeigt werden.

4.3.2 Charakterisierung des Materials

Grundlage der vorliegenden Arbeit ist die Analyse einer Stichprobe aus den 35 narra-tiven Interviews, welche für die Erstellung des Moduls „Diabetes Typ 2“ auf der Webs-ite „krankheitserfahrungen.de“ geführt wurden. Ich selbst war nicht an der Erhebung beteiligt. Um auf der Website Einblicke in Krankheitserfahrungen gewähren zu können, wurden bei der Datenerhebung und der analytischen Aufbereitung für die Präsentation im Internet qualitative Methoden angewendet. Wie bereits erwähnt, sollte auf der Website eine möglichst große Bandbreite von möglichen Erfahrungen mit Diabetes Typ 2 dargestellt werden.

Für die Interviews wurden Personen daher mit dem Ziel eines Maximum Variation Samples5 ausgewählt. Schon nach der Erhebung der ersten Interviews wurde mit der Auswertung begonnen. Die Daten wurden hinsichtlich der Themen, die im Zusammen-hang mit der Krankheit von Bedeutung sein könnten, exploriert, z.B. Unterzuckerung oder Diabetes im Berufsleben. Daraus wurden theoretische Überlegungen abgeleitet, in welchem Kontext die Erfahrungen sich von den bereits beobachteten Erfahrungen unterscheiden könnten, z.B. in einem anderen Beruf. Aus diesen Hypothesen wiede-rum wurden Ideen gewonnen, wie und wo weitere Menschen für Interviews rekrutiert werden könnten. Eine Zwischenauswertung und Diskussion in einer Expertenrunde („Advisory Board“) diente demselben Zweck. Dieses Sampling entspricht insofern der oben erläuterten Samplingstrategie, als dass die Auswahl der Interviewten und der später präsentierten Interviewausschnitte ziel- und in gewisser Weise analysegeleitet ist. Im Unterschied zu diesem Verfahren war allerdings das Ziel der Untersuchung ent-sprechend der „Forschungsfrage“ bei „krankheitserfahrungen.de“ von vornherein auf das Explorieren und Präsentieren von möglichst vielen Themen beschränkt.

In der vorliegenden Analyse wurde statt eines solchen Purposeful Samplings („zielge-richtetes“ Sampling) mit dem Ziel eines Maximum Variation Samples die Methode des Theoretical Sampling angewendet (vgl. Coyne 1997) mit dem Ziel, die Analyse durch datengegründete theoretische Überlegungen „zuzuspitzen“ (vgl. Kap. 3 und Ergeb-nisse). Das Sampling führt dann zu einer möglichst tiefgehenden Ausarbeitung einiger weniger, zu Beginn der Studie noch nicht feststehender Kategorien, während das für das Websiteprojekt verwendete Sampling eine eher horizontale, überblickende Dar-stellung relevanter Themen mit Beispielen produziert. Ergebnis der qualitativen Textanalyse der 35 Interviews zu Diabetes Typ 2 durch die Göttinger Forschungs-gruppe war die Identifikation von Themenkomplexen, wie z.B. „Diagnosestellung und Symptome“ und Veränderung der Lebensgewohnheiten mit Unterthemen wie z.B.

„Mehr Bewegung“, „Weniger Pfunde“. Diesen wurden dann zusammenfassende Texte sowie beispielhafte Interviewausschnitte zugeordnet. Diese Ergebnisse führten wie

5 Auf der Website „www.krankheitserfahrungen.de“ wird das Vorgehen bei der Stichprobenwahl wie folgt beschrie-ben: „Ziel der Studie ist es, möglichst viele unterschiedliche Erfahrungen, Ursachen, Therapiemethoden und Le-bensweisen mit dem Problem aufzunehmen, damit die Website ein entsprechend breites Spektrum anbieten kann.

Dazu werden Interviews mit Personen aller betroffenen Altersstufen, mit den unterschiedlichsten Lebenssituationen und an Orten über ganz Deutschland verteilt geführt. Dies führt zu einem sogenannten "maximum variation sample", einer größtmöglichen Streuung aller Erfahrungen, um zu gewährleisten, dass alle wichtigen Aspekte in der Studie auftauchen“ (Arbeitsgruppe krankheitserfahrungen.de 2013).

gewünscht zu einer durch qualitative Methoden fundierten Darstellung der Bandbreite an Diabeteserfahrungen auf „krankheitserfahrungen.de“.

4.3.3 Narrative Interviews

Bei dem für diese Analyse zur Verfügung stehenden Datenkorpus handelt es sich um sogenannte Narrative Interviews. Die Methode geht auf Fritz Schütze zurück (Przy-borski und Wohlrab-Sahr 2008, S. 92). Über einen Erzählstimulus, eine „eindeutig nar-rative Ausgangsfrage“, soll „eine Stehgreiferzählung über eigene Erfahrungen“ entste-hen (Riemann 2011, S. 121-122), möglichst „ohne Unterbrechungen durch den For-scher“ (ebd.). Die erzählende Person wird bestimmte, für sie persönlich relevante Dinge hervorheben, andere verkürzen oder auslassen, gewichtet die Ereignisse also ganz persönlich. So entsteht ein datenreiches Material, in dem die beforschte Person selbst das Relevanzsystem festlegt und dieses „Vorrang“ hat „gegenüber jenem der Interviewerinnen“ (Przyrborski und Wohlrab-Sahr 2008, S.87; Hervorhebung im Origi-nal). Nachfragen dürfen erst nach Beendigung der Eingangserzählung der interview-ten Person gestellt werden. An dieser Stelle möchte ich die Eingangsfrage zitieren, die in den Interviews für das Diabetesmodul bei „krankheitserfahrungen.de“ als Eingangs-stimulus verwendet wurde6:

Sie wissen, wir interessieren uns für die Erfahrungen von Diabetes-Patienten mit der Erkrankung. Ich möchte Sie nun bitten, mir von Ihren Erfahrungen zu erzählen, vielleicht von dem Zeitpunkt an, als Sie das erste Mal das Gefühl hatten, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist, oder als der Diabetes bei Ihnen festgestellt wurde. Bitte erzählen Sie über alles, was dann passiert ist bis heute. Sie können sich für das Erzählen so viel Zeit nehmen, wie Sie möchten.

Ich werde Sie erst einmal nicht unterbrechen, sondern mir nur Notizen machen, auf die ich dann später Stück für Stück zurückkomme.