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Kontrolle von außen: Unterstützung oder Übergriff?

3. Fragestellung und Ziel

5.6 Subkategorie 3: Verzicht wird geübt

5.6.1 Kontrolle von außen: Unterstützung oder Übergriff?

Alle Interviewten äußern früher oder später Verständnis für die ärztliche Aufforderung, dass sie auf ungesundes Essen verzichten sollen. Einige fühlen sich aber nicht in der Lage zu verzichten, es sei denn, sie würden „gewaltsam“ von medizinischem Personal zu gesunder Ernährung gezwungen.

Herr K., z.B., ((lacht)) hat der mich immer ausgeschimpft. „Liebe Frau“, hat er immer gesagt, „nun hören Sie doch mal auf mich, wenn Sie krank sind, dann kommen Sie [zu] mir, und ich soll Sie gesund machen. Aber Sie hören nicht auf mich, warum soll ich Sie denn noch gesund machen?“ Hat er mir immer erzählt, der hat immer geredet.

Und letztens, sagt er gar nichts mehr. […] Ich sage: „Sie schimpfen mich ja gar nicht mehr aus.“ „Ich habe es schon aufgegeben“, sagt er, „Sie hören ja sowieso nicht auf mich.“ ((lacht)) Ja, so sind dann so die Sprüche, ne? Ich weiß das ja selber. Ich sage, „Wo Sie Recht haben, haben sie ja auch Recht.“ […] Aber eh, dann müssten sie mich, ich

weiß auch nicht, den Magen verkleinern. Oder irgendwas und so, eh, etwas weg schicken, […] auf eine einsame Insel. (P27:102)

Das Zugeständnis, dass Ärzte in ihrer Forderung „Recht haben“, reicht offensichtlich nicht aus, um das Verzichten umsetzbar zu machen. Viele Interviewte beklagen, dass sie nicht durch äußere Grenzen zum Verzicht gezwungen werden und der innere Kampf dadurch besonders schwierig ist. Bei einem Beinbruch müssen Menschen auf Mobilität verzichten, wobei die Bewegung entweder gar nicht möglich ist oder sie bei einem Nichtbefolgen unmittelbar und schmerzhaft an die Anforderung erinnert werden.

Der Unterschied zwischen einer solchen (akuten) spürbare Grenzen auferlegenden Krankheit und Diabetes Typ 2 ist in Kap. 5.3.3 besprochen worden. Verzicht bei Dia-betes Typ 2 ist eine Anforderung, die von außen, manchmal auch von innen gesetzt wird, aber immer eine innere Beteiligung verlangt. Das von P27 gebrauchte Motiv einer Insel, auf der sie vor den verführerischen Genüssen sicher ist und keine eigenen Ent-scheidungen treffen muss, die anschließend beurteilt werden, findet sich bei P32 wie-der, der sich wünscht, sein Arzt hätte ihn „eingesperrt“.

Und er hat es auch direkt gesagt, was alles passieren wird. Ist es auch. Wie gesagt, da war es, da lag es an mir.

Also, der hätte mich ja nicht einsperren können und sagen: "Ja, jetzt machen Sie es." Eigentlich wäre es schön gewesen, wenn er es gemacht hätte. Da wäre mir vieles erspart geblieben. (P32:679)

Ein paar der Interviewten konnten in einer milderen Form temporär die Kontrolle ab-geben und nahmen dann erfolgreich ab. Möglicherweise ist es P16 leichter gefallen, sein Gewicht zu reduzieren, da er bereits im Krankenhaus gezwungen war, eine strenge Diät einzuhalten.

Und ähm, da hab ich dann also mit angefangen, schon im Krankenhaus wurde ja im Krankenhaus also auch, sag ich mal, auf Diät gesetzt, das heißt auf Diät, also auf, sechs Mahlzeiten am Tag, fünfzehn Broteinheiten, wurde gesagt. (P16:0199)

Dieses „auf Diät setzen“ wird während eines Krankenhausaufenthaltes akzeptiert und sogar begrüßt. P16 empfindet den temporären äußeren Zwang als große Hilfestellung.

Ebenso scheint es P8 zu gehen, der in einer Kurklinik die Möglichkeit nutzte, sich eine Diät von nur 800 kcal pro Tag verordnen zu lassen.

In der Kurklinik, da gab es die Möglichkeit, normal zu essen, dann gab es Leute, die kriegten Diät und dann gab es welche, die kriegten zwölfhundert Kalorien, tausend Kalorien und achthundert Kalorien, […] als ich dahingekommen bin, haben die gesagt: „Also, Sie müssen ‘n bisschen abnehmen, Sie kriegen zwölfhundert Kalorien“, und da hab ich gefragt, „was gibt’s denn noch, wie tief geht‘s runter?“ - „Achthundert Kalorien.“ Hab ich gesagt: „Dann möcht ich achthundert Kalorien.“ (P8:0600-0606)

Auch wenn so ein „realer“ äußerer Druck sinnvoll erscheint, kann er unter gewissen Umständen als unangemessen erlebt werden. Einige Interviewte beschreiben Situati-onen, in denen medizinisches Personal überraschend in ihrer Lebenswelt auftaucht.

Es war Wochenmarkt und ich war im Geschäft gewesen und meine Frau holt mich da ab und sagt, „Lass uns auf den Markt gehen und ‘ne Bratwurst essen, es gibt heut kein Mittag.“ […] So, wir gehen dann auf ‘n Markt und essen diese Bratwurst und die ist in der unmittelbaren Nähe von der Praxis da, vom Doc und da kommt der da raus, geht an mir vorbei, normal hätte er ja auch dezent weggucken können […] und eine Woche später war ich bei ihm und:

„Ich hab schon gesehen, dass Sie eine Bratwurst gegessen haben.“ Also das ist das, ((lacht)) das ist das Einzige, ne, was mich da so irgendwie-. Ich hab da an dem Stand nie wieder eine Bratwurst gegessen, also so ‘n Blödsinn, ne. Warum er das gesagt hat, versteh ich nicht. Ein halbes Jahr später oder 2 Jahre später hat er dann ja sowieso gesagt: „Na ja, musst dir das nicht unbedingt verkneifen.“ (P3:177)

P3 empfindet es offenkundig als Eingriff in seine Privatsphäre, dass der Arzt nicht „de-zent wegguckt“, sondern ihn sogar eine Woche später noch darauf anspricht. Recht-fertigend führt er im Interview die Umstände der Abweichung von einer „gesunden“

Diät aus: Seine Frau habe ihn spontan von der Arbeit abgeholt, die Bratwurst war ein Ersatz für das Mittagessen. Nicht nur steht P3 unter Druck, diesen Kontext im Interview aufzuklären; er fühlt sich aufgrund dieses zufälligen Treffens wie verfolgt und meidet den Bratwurststand dauerhaft. An diesem Beispiel wird zum einen deutlich, dass Er-nährung als Privatsache verstanden wird. Zum anderen erscheinen die ärztlichen An-sprüche wenig lebensnah. P3 fühlt sich von seinem Arzt vor ein weiteres Rätsel ge-stellt, wie er sich eigentlich verhalten soll: Das scheinbar unnachgiebige Tadeln wegen einer einzigen Bratwurst passt nicht zur späteren Empfehlung des Arztes, nicht allzu zwanghaft zu verzichten. Der Arzt wirkt durch diese Widersprüche nicht mehr authen-tisch, er scheint seinen Bewertungsmaßstab immer wieder zu ändern. Zurück bleibt dennoch eine Scham, bei ungesundem Verhalten ertappt worden zu sein. Eine ähnli-che Situation erlebt P8.

Interviewerin: Können Sie sich, mmh, in ne-an ‘ne Situation mit Ihrem Arzt erinnern, wo Sie darüber gesprochen haben, dass Sie zum Beispiel abnehmen müssen oder mehr Sport machen?

P8: Vor allen Dingen, ich darf nicht so spät ähm, er hat mich mal, w-w-wir kaufen ((lacht)) gemeinsam, bei einem Getränkehändler ein, und (2) er war in der glücklichen Situation, er kam grade um die Ecke rum mit ‘ner Kiste Wasser und ich hatte zufällig ‘ne Kiste Bier in der Hand((lacht)) und, da hat er - ohne, d-dass wir uns darüber ver-ständigen mussten - mir deutlich zu erklären gegeben, es wäre hier wohl besser, wenn ich auch ((lacht)) Wasser genommen hätte, dabei hab‘ ich ihm dann beim nächsten Besuch in der Praxis gesagt: „Das Bier war gar nicht für mich. Sie wissen doch, dass ich Weintrinker bin. Hab ich für meine Jungs ((lacht)) gekauft.“ ((räuspert sich)) Ja, also abnehmen (2) das ist ‘ne schwierige Sache, abnehmen. Zunehmen ist leichter. (P8:0977-0998)

In diesem Fall akzeptiert P8 die Kommentierung seiner Entscheidungen auch im Pri-vaten. Möglicherweise, weil er sich durch die Erklärung, das Bier für seinen Sohn ge-kauft zu haben, vor einer moralischen Abwertung schützen kann. Interessant ist nicht

nur, dass überhaupt eine solche banale Situation als moralischer Druck empfunden wird; P8 hat den möglichen Kommentar seines Arztes so weit antizipiert, dass er ihn ohne Worte zu verstehen meint. Vorstellbar ist ja schließlich, dass dieser gar nicht daran denkt, einen Patienten im privaten Alltag zurechtzuweisen, P8 sich aber schon durch die Präsenz des Arztes in Erklärungsnot sieht. P1 „entlarvt“ dagegen ihrerseits den Arzt. Diesem wirft sie Unglaubwürdigkeit vor, nachdem sie seine Frau beim Ein-kauf „verbotener“ Lebensmittel beobachtet hat.

Ja, und zwar ist das [so]: seine Frau holt nichts, ne, da gibt es wirklich nur gesunde Sachen, und, und, und. Des-wegen sind sie auch alle so schlank. Ich sage, hab ich ihm auf ‘n Kopf zugesagt: „Das stimmt nicht. Gestern war Ihre Frau auch am […] Hähnchenwagen und hat Hähnchen geholt.“ ((lacht)) Ich sag: „Das können Sie gar nicht abstreiten, ich kann es sehen, von meinem Küchenfenster aus.“ Es stimmte ja auch. Also. (3) Und ich sag immer, er kann gar nicht mithalten. Er kann, er weiß doch gar nicht wie‘s in mir aussieht. (2) Ich hab ihm ‘n paar Mal schon auf ‘n Kopp zugesagt, ich sage: „Herr Doktor, Sie haben die Krankheiten noch gar nicht gehabt. Sie wissen doch gar nicht, wie ‘s ist.“ (P1:525)

In dieser Passage wird deutlich, welche Vorbildfunktion von medizinischem Personal erwartet wird. Umgekehrt wird jeder Fehltritt genüsslich benutzt, um eigenes Verhalten zu rechtfertigen. Ärztinnen und Ärzte sollen die Forderungen, die sie stellen, wenigs-tens selbst erfüllen können. Sie sollen sich nach Meinung vieler Interviewter aus den konkreten Ernährungsgewohnheiten heraushalten. Familienmitglieder können dage-gen den Vorsatz zu verzichten erleichtern, indem sie z.B. in entscheidenden Situatio-nen Kontrolle ausüben bzw. an die eigeSituatio-nen Regeln erinnern.

Also mit den Kindern, die sind mit dieser Krankheit aufgewachsen, auch mit mir, also, die sind da ran-. Das ist für sie normal. […] Wir stellen ja [bei dem Diätprogramm] um, von dieser Flüssignahrung auf feste Nahrung. Dann darf man ja wieder bestimmte Sachen essen. […] Am Wochenende saß ich wieder am Frühstückstisch. "Was machst Du denn? Was willst Du denn?" Sage ich: "Ich darf wieder essen." "Nein, nein, nein, nein, nein, nein, Du darfst doch nichts essen." Also, die Kontrolle war fest in ihrer Hand. Dann habe ich ihnen das, äh, was wir gekriegt haben, Punktesystem habe ich dann, äh, gezeigt: Nahrungsmittel, was für Punkte. Was ich essen darf. Hat sie [die Tochter]

sich alles genommen, hat sie gleich notiert, alles aufgeschrieben. "Ah, für Vater dürfen wir Salat machen, so- und so viel, drei Tomaten." […]. Sage ich: "Gut, dann macht ihr heute für mich den Salat, also den ersten Salat." […]

Da habe ich gesehen: Aha, sie verinnerlichen das. Und das jetzt auch mit diesem Punktesystem, das verinnerlichen sie und kontrollieren. Das ist auch gut so. (P32:525)

Ich muss natürlich dazu sagen, dass ich eine Familie habe, die mich eigentlich, also meine Kinder beide, da doch immer unterstützen und sagen: "Wie? Du gehst heute nicht zum Sport? Du musst zum Sport gehen." (P20:091)

Dabei wird Kontrolle eher als Fürsorge, denn als Überwachung begriffen. Während medizinisches Personal den Verzicht im Alltag nur in Form von Ratschlägen und Mah-nungen bewerben kann, können Familienmitglieder unmittelbar bei der alltäglichen Er-nährung intervenieren. In vielen Interviews wird eine traditionelle Rollenverteilung ge-schildert, in der die Frau für die Verpflegung der Familie zuständig ist. Ihr wird die

Verantwortung übertragen, das Verzichten vorzubereiten, der Mann wird zum Konsu-menten der schon angepassten Ernährung, er muss nicht selbst „gesunde“ Lebens-mittel auswählen.

Also, erst mal das Wichtigste war ja in der ersten Schulung ‘ne gewisse Ernährungsumstellung. Das habe ich dann auch gemacht beziehungsweise meine Frau. Da ich nicht kochen kann, bin ich drauf angewiesen, dass meine Frau kocht, aber die hat das hervorragend […] in [den] Griff gekriegt, äh, da jetzt mehr mit äh, Gemüsen und Säften und, und, Obst und so weiter umzugehen als mit Fleisch und Wurst (3). (P16:0036-0042)

Diese traditionelle Rollenverteilung kann im umgekehrten Fall - wenn die Frau die Er-krankte ist - zur doppelten Belastung werden. Dies hat das Beispiel mit P30 gezeigt, deren Pflichtgefühl, für die Familie schmack- und nahrhaft zu kochen, mit der eigenen Ernährungsumstellung kollidiert (vgl. Kap. 5.3.2). In diesem Zusammenhang geht es auch darum, ob die Familie ihre Ernährungsgewohnheiten anpasst - also wie das be-troffene Familienmitglied verzichtet, oder ob mit entsprechendem Aufwand z.B. zwei verschiedene Gerichte für das gemeinsame Essen zubereitet werden. Die Familie er-lebt in beiden Fällen eine Einschränkung oder einen Mehraufwand.

Also auch nicht jedermanns Sache, mhm, ähm, dreimal in der Woche Kartoffeln und Gemüse oder Kartoffeln und Quark zu essen, ähm, meine Frau hat das dann also sehr oft mitgegessen, äh, hat aber auch sehr oft, für, äh, die Familie ((schaut zur Seite)) selber was gekocht, was Zweites, ne, mhm, denn habe ich eben halt mein auf mich zugeschnittenes Essen bekommen, und öh für unsern Sohn und für sich selber hat sie dann eben halt, äh, auch mal was anderes gekocht und das nicht nur einmal, sondern auch öfter, weil, ähm, ((schluckt)) das so, wie ich es also esse, äh, sag ich mal, das ist nicht jedermanns Sache, öh, pfff, und viele mögen das also auch nicht so, aber, ((Schulterzucken)) mmh, der Partner muss mitziehen. (P16:1761-1772)

Unabhängig von diesen Schwierigkeiten, die Verzicht im Familienleben betreffen, kön-nen Familienmitglieder nie die vollständige Verantwortung für den Lebensstil der Inter-viewten übernehmen. In den meisten alltäglichen Momenten müssen sie selbst Ent-scheidungen treffen, ob und wie sie verzichten.