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3. Fragestellung und Ziel

5.4 Subkategorie 1: Verzicht ist schmerzhaft

5.4.2 Benachteiligt sein

Verzicht kollidiert mit sozialen Anlässen, die traditionell von bestimmten Ernährungs-gewohnheiten geprägt sind, z.B. mit Einladungen oder Festen. Einer Interviewten fällt

16 Bei den eingeklammerten Zahlen handelt es sich um die Angabe, wie viele Sekunden die interviewte Person zwischen Sätzen oder Wörtern geschwiegen hat. Diese Erzählverzögerungen können, genau wie die Wiederholung von Silben („Stottern“) oder in doppelten Klammern [((…))] angegebene Gesten oder Lachen, Räuspern etc., wich-tig für das Verständnis der Erzählung sein oder Hinweise auf emotional bedeutsame Stellen geben

es sehr schwer, auf den Genuss der „wohlverdienten“ Kaffeerunde mit Kuchen zu ver-zichten.

Und gerade so jetzt im Rentenalter habe ich mich eigentlich auf diese Nachmittagskaffeerunde gefreut. […] Ja und die, also hat mir denn auch ‘ne Kollegin gesagt, nun nimm es mal nicht so ernst und so, aber ich hab‘s wirklich gelassen. Ja, mit dem Kuchen. Aber es fällt mir schwer, ja. Nachmittags dann irgend ‘n Knäckebrot zu knabbern.

(P21:265-269)

Aber irgendwie im Hinterkopf ist immer, wenn andere jahrelang doch zum Kaffee gehen (…), dann- ist man doch

‘n bisschen handi- gehandicapt. (P21:334)

In diese Enttäuschung hinein spielt vermutlich eine lebenslange Erwartung, es sich im Alter gut gehen zu lassen, sich zu belohnen und nicht mehr disziplinieren zu müssen.

Die genannte Alternative zum Kuchen - „irgend ’n Knäckebrot knabbern“ - klingt trost-los. Durch die Formulierung, sie sei „gehandicapt“, veranschaulicht P21, dass sie sich aufgrund ihres „Anders-Seins“ eingeschränkt fühlt, wohlmöglich auch benachteiligt. An anderer Stelle zeigt P21 ihre Enttäuschung über die Ungerechtigkeit an Diabetes er-krankt zu sein, weil sie doch - überspitzt ausgedrückt - im Vergleich mit anderen zu

„den Guten“ gehört.

[…] ja, war ich auch immer schockiert, und Kolleginnen und Freundinnen die beleibter sind und, eh, haben nichts und ich als schlanke Person, sag ich mal, haben da diese hohen Werte, ja? (P21:622)

Hier klingt eine Kategorisierung in schlank und übergewichtig an, ein Thema, das in Kap. 5.5.2 näher betrachtet wird.

Obwohl „Verzicht“ eine häufig von außen herangetragene Erwartung ist, gibt es gleich-zeitig auch gegenteilige Forderungen: einen starken Anpassungsdruck und -wunsch vom eigenen sozialen Umfeld, weiterhin so wie früher zu leben. Das erschwert das Verzichten. Im Fall einer Interviewten (P30) bedeutet das, für ihre Kinder und ihren Partner „ungesunde“ Gerichte zu kochen. Sie muss sich beherrschen, während die anderen unbeschwert „sündigen“ und nicht Diabetes Typ 2 haben. Diese Ungerechtig-keit löst in ihr ein einen starken Widerwillen, einen „Ekel“ aus, insbesondere, da sie sich von ihrem Partner unverstanden fühlt.

Dann wieder die Fragen […], „Was gibt es zum Essen?" - von den Kindern. Es kommt ja immer, ständig diese Frage: „Was gibt es?" […] Die essen nun nämlich auch alles. Sprich, also, ich koche eigentlich das, was die am liebsten mögen. Und das ist leider nicht immer das gesündeste. […] und mehrere Sachen zu kochen, dass ich praktisch für mich alleine koche, ist irgendwie blöd […]. Jetzt versuche ich schon immer, so eine gesunde Richtung einzuschlagen. Aber da stellen sie sich immer quer. […] Auch mein Mann. Der stellt sich manchmal ganz arg quer.

Weil er ist so ein Typ, er macht viel mit Butter, und, und, und, die schön deftigen Sachen. Und ich versuche das alles, zu reduzieren. Sage ich: "Du, es geht auch mit weniger. Versuche es mal." ((lacht)) Es ist nicht einfach, dagegen anzukämpfen. Dann sagt er wieder: "Hmm, das schmeckt mir nicht." So andersherum, wenn er kochen

soll, dann sage ich auch: "Hm, schmeckt mir nicht, weil es mir zu fettig ist", ne. Und, ähm, das ist dann auch nicht einfach in der, also selbst in der eigenen Familie dann da einen Einklang zu bekommen. Weil er ja weiß, äh, ich bin zwar krank, ich dürfte vieles nicht, aber das interessiert ihn nicht. Er will sein Essen haben, er will das, was ihm schmeckt. (P30:252-256)

Während P30 in diesem Zitat darstellt, dass es vor allem die Erwartungen und Bedürf-nisse anderer sind, gegen die sie den Willen zu verzichten verteidigen muss, be-schreibt sie an andere Stelle ihren inneren Kampf gegen eigene Bedürfnisse und Ver-führungen. Wenn ihre Tochter ihr empfiehlt, nicht an Essen zu denken, hilft ihr das gar nicht und unterstreicht noch die Ungerechtigkeit, dass diese ein lockeres Verhältnis zu Essen hat, während sich P30 selbst so quält. Das fast zwanghafte „Kreisen“ um das Thema „Verzicht“ ist gewissermaßen eine Steigerung des von P21 angesprochenen Gefühls, nicht mehr unbeschwert leben zu können: „nun hat man doch immer irgend-was zu denken“ (P21:318).

Und wenn man dann so sieht: die Kinder kommen nach Hause, die essen was, und so, und Du hattest schon Deine Portion. "Nein, es darf nicht genascht werden!" Aber man kommt in der Küche vorbei: Hmm, einmal kurz Topfgu-cken. Oh, da ist noch was drin. Und schwupps ist schon wieder was drin. Und das geht, manchmal sage ich mir, ich müsste eigentlich die Küche absperren, um einfach nicht-. Weil, wenn der Gedanke da ist, dass ich weiß, ich habe da was, dann bohrt das sich unwahrscheinlich tief rein, und: Hmm, das Verlangen wird immer größer und größer, und Du bist dann da und: "Nein, Du darfst nicht!" Das ist ein ewiger Kampf, den man schon seit Jahren eigentlich kämpft. Und weil meine Tochter sagt auch: "Wieso? Ist doch ganz einfach: Denk doch nicht dran!" Naja, toll! Ich denke aber an nichts anderes mehr. Weil, weil das immer, ständig, ähm, in einem kreist, äh: Was dürfte ich? Was könnte ich? (P30:248)

Indem P30 vorschlägt, die Küche „abzusperren“, erklärt sie ihren Wunsch, sich nicht ununterbrochen mit Verzicht auseinandersetzen zu müssen. Sie braucht die Tür als

„Grenze“, die sie vor Verführungen schützt.

So wie „Verzicht“ vom sozialen Umfeld als Forderung an die Patientin herangetragen wird, kann es auch sein, dass das soziale Umfeld die Bemühungen um Verzicht unter-läuft, besonders deutlich bei Festen:

Wenn man eben halt auf, ähm, Feierlichkeiten ist, und sagt: "Nein, man trinkt keinen Alkohol […]Und wenn ich dann jetzt jedes Mal erklären muss, so wie jetzt, es war Wiesenanstich gewesen bei uns, in unserer Wirtschaft […] ich dann mein Wasser bestellt habe, und die mich alle angucken: "Willst Du nicht Dein Bierchen haben?" Sage ich:

"Nein, will ich nicht […]. Aber es wird jedes Mal von den anderen immer, so irgendein schräger Blick kommt schon manchmal, wenn man in dieser Gemeinschaft nicht mittrinkt, oder mitisst. Weil, wenn man dann sagt: "Nein, ich hatte meine Portion. Es langt. […] Ihr wisst, ich habe Zucker. […]“ Aber die, die reiten drauf rum.

Warum andere Leute das immer so machen? Keine Ahnung. […] Vielleicht um auf ihr, äh, ihr Essen da eben halt, was die da in sich- vielleicht zu beschönigen. […] Also, ich bin standhaft, ich, also, das sage ich auch jedes Mal den Ärzten […]. "Ihr, ihr wisst gar nicht, wie, wie schwierig das ist, manchmal für mich, da zu stehen, und, ähm, drauf zu verzichten." […] Also es ist jedes Mal ein Kampf aufs Neue und nicht einfach. (P30:093-108)

Für das Unverständnis, dass P30 entgegenschlägt, wenn sie in Gesellschaft nicht mit-isst und -trinkt, hat sie eine besondere Erklärung: Es gefalle anderen nicht, sie verzich-ten zu sehen, weil sie ihren eigenen „ungesunden“ Lebensstil dann in Zweifel gezogen sehen. Wie ihr Partner und ihre Kinder „sündigen“ auch ihre Bekannten. Man spürt deutlich den Versuch von P30, ihr Verhalten im Kontrast zu den anderen als „richtig“

zu beschreiben. Diese eigene moralische Erhöhung tröstet P30 möglicherweise bei dem Gefühl, benachteiligt zu sein.

Der Ausschluss von „normalen“ sozialen Essgewohnheiten ist schmerzlich und kann für die sozialen Beziehungen schädlich sein.

Auch wenn man so am Wochenende sich dann getroffen hat, auch, äh, Bekannte eingeladen hat, das, das war, das entfiel. Vieles entfiel. Weil es ging einfach nicht, auch für mich nicht. Äh, wenn man da sitzt, alle essen, und dann, Du hast dann Deinen [Diät-]Shake in der Hand, das ist sehr ungewöhnlich, auch für-. Wenn ich einen Gast einlade, ist das bei uns, äh, sehr, einen Gast einzuladen, den Gast musst Du bewirten und da-. Wenn Du nichts isst, dann denkt der: "Was ist jetzt los?“ (P32:701)

P16 entscheidet sich nach der Diagnose Diabetes gegen eine weitere Teilnahme am Stammtisch, weil sich Verzicht für ihn nicht mit der Idee eines Stammtischs vereinba-ren lässt. Für ihn sind Essen und soziale Interaktion kaum voneinander zu tvereinba-rennen.

Na ja, gut mit der Gewohnheit da geht das also los, äh, zum Beispiel Stammtisch äh, wo man also hingegangen ist, hat sonst ‘n paar schöne Bierchen irgendwo getrunken […]. Ich will abnehmen, ich äh, ich geh nicht essen, ich geh nicht in eine Kneipe. Das geht also einfach nicht, ich krieg das nicht auf die Reihe, ne, weil, das passt also einfach nicht, ääh, eben halt, äh, auf der einen Seite diese drei Broteinheiten essen und auf der andern Seite in

‘ner Kneipe, äh, essen so ‘n Teller voll oder so und dann hab ich gesagt, dann bleib ich lieber zuhause. (P16:0826-0828)

Das Gefühl, durch den Verzicht von sozialen Ereignissen - innerhalb und außerhalb des Familienlebens - ausgeschlossen zu werden oder sich selbst zum Schutz vor „Ver-führungen“ ausschließen zu müssen, spielt eine große Rolle im Alltag.

Familie [ist] sehr, sehr wichtig für mich, dass sie mich dabei unterstützt. Sie tut es, auch in, bei diesem [Diät-]Pro-gramm. [In den] Anfangszeiten, dass sie dann in der Küche gegessen haben, dass ich dann nicht, äh, Appetit gekriegt habe. Das war so. Auch, äh, in diesen drei Monaten, wo ich nichts gegessen habe, hat das Familienleben ein bisschen [gelitten]. Weil am Wochenende war es, ist Tradition, dass man am Frühstückstisch sitzt, alle gemein-sam, wo man dann gefrühstückt hat, wo man dann, äh, erzählt hat, die Woche, was alles passiert. Das entfiel. Das war auch für sie eine Einschränkung, für meine Familie. Für mich sowieso. (P32:697)

Diese Passage bezieht sich auf die Zeit, in der P32 während eines ärztlich begleiteten Diätprogramms nur Trinknahrung zu sich nehmen durfte. In dieser Passage deutet P32 an, dass er eine räumliche Trennung von seiner Familie, die alles essen durfte, brauchte, um sich vor seinem Appetit zu schützen. Dadurch wird aber das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, richtig greifbar.