• Keine Ergebnisse gefunden

Misserfolge und Missverständnisse: Zuschreibung von Verantwort- Verantwort-lichkeit

Als Grund für Behandlungsmisserfolge, z.B. sichtbar durch ein Fortschreiten der Er-krankung oder Komplikationen, galt lange der Mangel an Wissen der Menschen mit

Diabetes über die Krankheit. So richtete sich die Hoffnung auf die Verbesserung von Schulungen. Recht bald hat sich aber herausgestellt, dass Fachwissen allein zum Ge-lingen des Selbstmanagements nicht ausreicht, sondern vielmehr das Krankheitsver-ständnis entscheidend ist (Harvey und Lawson 2009). Daneben, so kritisieren Mühl-hauser und Lenz (2008), dürfen Menschen mit chronischen Krankheiten nicht aufgrund von fehlender Compliance für schlechte Behandlungsergebnisse verantwortlich ge-macht werden. Sie beklagen die „non-compliance der Leistungserbringer zur Bereit-stellung von angemessenen Patienteninformationen“ als Ursache von Therapieversa-gen (S. 223). Statt evidenzbasierter Information werde oft „Medikamentenwerbung an Patienten und Bürger für rezeptpflichtige Medikamente durch die Industrie unter dem Deckmantel der Information“ ausgegeben - mit der Gefahr der „Verpflichtung von Pa-tienten zu therapiegerechtem Verhalten“ (ebd.).

Holmström und Rosenqvist (2005) beschäftigten sich mit „Missverständnissen“ in der Behandlung von Diabetes. Sie beschrieben das Problem, dass sich trotz des großen Aufwandes zu fachgerechter Versorgung und Aufklärung weniger als die Hälfte der Behandelten in einer guten Stoffwechsellage befinde. Als Ursache für den Misserfolg sehen sie „Missverständnisse“ der Menschen bezüglich ihrer Krankheit und deren Be-handlung. Sie zeichneten Arzt-Patient-Begegnungen in Sprechstunden auf Video auf.

Die Forscher zeigten den untersuchten Menschen mit Diabetes die Aufnahmen und befragten sie danach, ob sie die jeweilige Begegnung als gut oder schlecht empfunden hätten, um auf diese Weise Einblicke in das Krankheitsverständnis zu erhalten. Als Missverständnisse bewertete Aussagen waren z.B. die Annahmen, „Diabetes Typ 2 ist kein richtiger Diabetes“, „In der Diät ist das Wichtigste, Fett zu reduzieren“ und „Kör-perliche Aktivität ist gut“. Holmström und Rosenqvist hoben hervor, dass einige Kranke die Zahlen der Blutzuckerwerte nicht immer mit dem „realen Leben“ in Verbindung brachten und nicht glaubten, diese beeinflussen zu können. Bedenklich schien ihnen auch, dass viele die Funktion der Bauchspeicheldrüse nicht verstehen und selbst bei medikamentöser Behandlung von Komplikationen wie z.B. einer Angina pectoris nicht wahrnehmen, dass Spätfolgen bereits manifest seien. In der Studie wird betont, dass die Erkrankten auf keinen Fall als dumm“ oder „non-compliant“ betitelt werden dürfen.

Viele halten sich sogar zu strikt an das Therapieregime. Aus Sicht von Holmström und

Rosenqvist müssen Schulungen einen Wechsel von passiver Therapietreue (Compli-ance) zu aktivem Selbstmanagement leisten. Interessanterweise wurden aber vier der achtzehn Studienteilnehmer gelobt, die nichts „missverstanden“ und demzufolge den medizinischen Wissensstand und die eigenen Erfahrungen integriert hätten. Maßstab für diese positive Bewertung ist dann letztlich doch medizinische Wissenschaft - und nicht ein patientenorientiertes Kriterium. Die Autoren schließen mit der Empfehlung, dass das individuelle Krankheitsverständnis erkundet werden müsse und die Kranken angeregt werden sollen, darüber nachzudenken. Die Reflexion ihrer Erfahrungen sei für diese ein wichtiger Schritt, Expertise über ihre Krankheit zu erlangen.

In dieser Studie wird deutlich, dass selbst Forschungsgruppen, die das Krankheitsver-ständnis von Patienten wichtig finden und wahrnehmen möchten, bewusst oder unbe-wusst metabolische Outcomes bzw. Lehrbuchwissen über Diabetes als Maßstab ver-wenden. Damit deutet sich eine Grenzziehung zwischen guten und schlechten Patien-tinnen und Patienten an. Selbst wenn Holmström and Rosenqvist gegenüber dem „ver-alteten“ Konzept der Compliance ein aktives Selbstmanagement für sinnvoller zum Erreichen des gewünschten Outcomes erachten, analysierten sie die Interviews mit einer festen Vorstellung von korrekten und falschen Aussagen. Dabei möchte ich nicht die Absicht der Studie anzweifeln, die Versorgung zu verbessern und ein aktives Selbstmanagement zu fördern. Die Wortwahl „Missverständnis“ weist aber darauf hin, dass für die Autoren eine Sichtweise die Richtige ist, nämlich die der evidenzbasierten Medizin. Krankheitstheorien erscheinen dann insofern interessant, als dass Menschen mit Diabetes durch Reflexion in Richtung einer besseren Krankheitssicht korrigiert wer-den sollen. Daneben stellt sich die Frage, ob Holmström and Rosenqvist (2005) die in den gefilmten Sprechstunden vorkommenden Aussagen des medizinischen Personals ebenfalls zur Aufklärung von kommunikativen Missverständnissen in die Analyse der Patienteninterviews einbezogen haben.

Eine Studie aus Österreich behandelt ebenfalls Erfahrungen von Menschen mit Dia-betes Typ 2 und deren Motivation zur Lebensstilveränderung (Seidl et al. 2007). Seidl et al. interessierten sich für den „Wissenstand der PatientInnen in Bezug auf ihre Krankheit“, „Probleme und Schwierigkeiten, die betreffenden PatientInnen in Bezug auf die erforderlichen Maßnahmen wie zum Beispiel Diätzubereitung und Prävention

in ihrem Alltag erleben.“ „Besondere Beachtung“ wollten die Autorinnen „Lebensbedin-gungen“ widmen, „ebenso wie den Umweltfaktoren, die dazu beitragen könnten, dass die/der Einzelne die Richtlinien nicht einhält und eine Rehospitalisierung notwendig wird“ (S. 73).

In diesem Forschungsvorhaben wird deutlich, dass die Erfahrungen vor dem Hinter-grund der scheinbar mangelnden Beteiligung der Kranken betrachtet werden. Neben einer themenzentrierten Auswertung führten Seidl et al. eine theoriegeleitete Auswer-tung der Interviews unter Einbeziehung des „sozial-kognitiven Prozessmodells ge-sundheitlichen Handelns nach Ralf Schwarzer“ durch (Seidl et al., S.131). Dies gliedert sich in verschiedene Schritte: „von der Wahrnehmung einer bestehenden oder poten-ziellen Gesundheitsgefährdung bis zur Realisierung gesundheitsfördernden Verhal-tens“ (ebd.). Dabei wird angenommen, dass für die Motivation zu einem bestimmten Verhalten die Selbstwirksamkeitserwartung von Bedeutung ist, also die Überzeugung der eigenen Befähigung, sich in gewisser Weise zu verhalten (s.a. Schwarzer und Je-rusalem 2002; Bandura 1977). Seidl et al. beschrieben, dass sich die Interviewten in ihrer Kompetenz- oder Selbstwirksamkeitserwartung unterscheiden. Während einer der von ihnen Interviewten sich z.B. zutraut, „Topfenstrudel ohne Zucker“ zu backen (S. 155), sind andere der Überzeugung, z.B. wegen ihrer Berufstätigkeit nicht in der Lage zu sein, ihre Lebensgewohnheiten zu ändern.

Ingadottir und Halldorsdottir (2008) sind in ihrer Studie zum subjektiven Erleben mit Diabetes Typ 2 sicherlich hinsichtlich der Zuschreibung von Verantwortung für thera-peutische Misserfolge von einem „patientenfreundlicheren“ Ansatz ausgegangen. Sie führten Interviews mit 11 Personen mit Diabetes (alle bis auf eine hatten Typ 1) in Island und explorierten Erfahrungen mit Diagnose, Behandlung und eigener Ad-herence und Non-AdAd-herence. Dabei stellten sie fest, dass die Menschen sich einer widersprüchlichen Forderung ausgesetzt fühlen: “Be in charge and responsible for y-our life” und gleichzeitig “Do what we [health care professionals] tell you to do.” (S.

615). Ingadottir und Halldorsdottir argumentieren gegen die Annahme, mangelnde Therapietreue sei irrational und unverantwortlich. Vielmehr zeigten ihre Ergebnisse, dass die Interviewten die Verantwortung für ihre Gesundheit übernehmen und dies auf komplexe Weise verhandeln. Sie betonen, dass die Menschen ernsthaft versuchten

alles „richtig“ zu „machen“, auch wenn ihnen die Kontrolle der Laborwerte nicht immer gelänge.