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Verzicht bei Diabetes Typ 2 - eine fast ungerechte Forderung

3. Fragestellung und Ziel

6.2 Verzicht bei Diabetes Typ 2 - eine fast ungerechte Forderung

Der Druck, nach der Diagnose plötzlich auf frühere Genüsse verzichten zu müssen erscheint den Interviewten schmerzhaft, „hart“, wie es eine Interviewte beschreibt.

„Harte“ Regeln, „hart“ sein müssen - das scheint einem lebendigen Alltag zu wider-sprechen. Die meisten Interviewten empfinden die (ärztliche) Aufforderung, ihren Le-bensstil zu verändern, als pauschale, diffuse Forderung auf alle und gerade ihnen emotional wichtigen Genüsse zu verzichten. Sie fühlen sich gegenüber Menschen ohne Diabetes Typ 2 benachteiligt und ungerecht behandelt: wenn z.B. Menschen, die

„beleibter“ sind21, offensichtlich einen ungesünderen Lebensstil als sie betrieben ha-ben, aber nicht verzichten müssen, weil sie gute Laborwerte haben. Es scheint den Interviewten, als dürften andere sich auf eine Weise verhalten, die bei ihnen selbst als

„maßlos“ tituliert und als ursächlich für Diabetes (und Übergewicht) gelten würde.

Viele klagen darüber, im Gegensatz zu anderen nicht mehr unbeschwert essen und trinken zu können. P21 hat das Gefühl, nicht mehr „frei“ zu sein22, sondern die ganze Zeit daran denken zu müssen. Viele Interviewte fühlen sich von sozialen Anlässen, die von gemeinsamem Essen geprägt sind, ausgeschlossen oder glauben sich aus Schutz vor Verführungen ausschließen zu müssen.

Während Diabetes selbst nicht zu spüren ist, bringt Verzicht schmerzhafte Empfindun-gen mit sich, z.B. „permanent Hunger“ zu haben23. Die Krankheit setzt keine äußere Grenze, sondern die Interviewten müssen sich selbst Grenzen auferlegen. Statt wie bei anderen Krankheiten die Wiederherstellung des eigenen Wohlbefindens zum Ziel zu bestimmen, sollen sie gegen ihre Bedürfnisse ankämpfen. Weiterhin fühlen sich mehrere Interviewte allein gelassen. Sie erleben die ärztliche Behandlung als reduziert auf die Aufforderung zu verzichten. Insgesamt hat also Verzicht für die Interviewten zunächst einmal eine negative Bedeutung.

Wenn auch nicht mit dem Begriff Verzicht bezeichnet, hat der als schmerzhaft erlebte Druck, den Lebensstil zu verändern, bereits einige Beachtung in der Forschungslitera-tur zu Diabetes Typ 2 gefunden. Wesentliches Ergebnis der qualitativen Analyse von Ahlin and Billhult (2012) ist, dass die von ihnen in Schweden interviewten zehn Frauen mit Diabetes Typ 2 den Druck, den Lebensstil zu verändern, als ununterbrochenen innerlichen und äußeren Kampf („continuous struggle“) empfanden. Sie fühlten sich als Opfer der Krankheit und unfair vom Leben behandelt, geradezu ihrer Lebensfreude beraubt und leer. Auch in der hier vorliegenden Analyse hatten viele Interviewte das Gefühl, dass ihnen ein ihnen zustehender Genuss vorenthalten würde. Beispielhaft sei P21 erwähnt, die sich im Alter auf Verabredungen zu Kaffee und Kuchen gefreut hat.

Diesem Vergnügen soll sie nun entsagen, während es anderen erlaubt ist zu genießen.

21 vgl. Zitat (P21:602), S. 68

22 vgl. Zitat (P21:318), S. 52

23 vgl. Zitat (P16:1226), S. 58

Yannakoulia (2006) weist in einem Review zu Ernährungsgewohnheiten bei Diabetes Typ 2 darauf hin, dass Betroffene sich häufig durch die Diätempfehlungen eingeengt fühlen und diese als nicht zu ihren Bedürfnissen passend erleben. Besonders zu Be-ginn der Ernährungsumstellung verfolgen viele Erkrankte den Anspruch, sehr restrik-tive Diäten einzuhalten, z.B. Zucker vollkommen zu vermeiden. Der große Druck, sich gesund zu ernähren, kann dazu führen, dass sie nicht ehrlich über ihre Ernährungsge-wohnheiten sprechen, nur über den Verzehr von „erwünschten“ Lebensmitteln berich-ten und Schwierigkeiberich-ten verschweigen. Der Druck kann auch ein Gefühl der Gleich-gültigkeit gegenüber den Verhaltensempfehlungen verursachen. Yannakoulias Ausar-beitung stützt unser zentrales Ergebnis: dass nämlich der Begriff „Verzicht“ angemes-sen die von Menschen mit Diabetes Typ 2 als restriktiv erlebte Lebensstilumstellung beschreibt.

Péres et al. (2008) berichten von starken Gefühlen der Angst und Wut, die Frauen in Brasilien kurz nach der Diagnose von Diabetes Typ 2 empfanden. Sie vermuten, dass dies besonders durch den Eindruck, „alles“ sei verboten, erzeugt wird. Diese emotio-nalen Reaktionen finden sich auch in den Ergebnissen der vorliegenden Studie, z.B.

bei P2, der kritisiert, dass ihm „alles verboten“ wird.24 Ähnliches entdeckten Whittemore et al. (2002) in ihrer qualitativen Untersuchung im Rahmen eines Interven-tionsprogramms mit dem Ziel, zu einem „besseren“ Selbstmanagement bei Diabetes Typ 2 zu motivieren. Besonders das Streben nach Befriedigung der eigenen Bedürf-nisse („Striving for satisfaction“) erwies sich dabei als besondere Herausforderung bei der Integration von Diätmaßnahmen in die frühere Lebensweise. So äußerten die von ihnen in den USA interviewten neun Frauen, einigen Personen unserer Studie ähnlich, das Gefühl, bei Einhaltung der Diätempfehlungen nicht richtig satt zu werden und die Umstellung des Lebens daher als zu drastisch und gar unmenschlich zu empfinden.

Die hier vorliegenden Ergebnisse weisen außerdem auf das Dilemma hin, dass Dia-betes (zunächst) keine spürbaren Nachteile bietet, der Verzicht jedoch umso schmerz-licher spürbar ist. Verzicht ist schwer zu ertragen, da dem eigenen Verhalten von au-ßen keine Grenzen gesetzt sind, z.B. durch Schmerzen oder durch erzwungene Bett-lägerigkeit, wie z.B. nach einer Operation25, sondern die Personen aufgefordert sind,

24 Vgl. Zitat (P2:055), S. 59

25 Vgl. Zitat (P2:029), S. 56

aus eigener Kraft ihren Genüssen zu widerstehen, sich zu „quälen“, um sich langfristig vor Komplikationen zu schützen. Dies ergänzt die Überlegungen von Whittemore et al.

(2002), die den Mangel an Symptomen als Hindernis für die Umstellung der Lebens-weise erkannten, so dass sich Erkrankte nicht persönlich durch den Diabetes gefähr-det fühlen.

Vorstellbar ist, dass Verzicht bei Diabetes Typ 2 deshalb als besonders schmerzhaft erlebt wird, weil die Forderung ungerecht erscheint, gleichzeitig aber ein hoher Anpas-sungsdruck durch die moralische Bewertung von Verzicht besteht. Beispielhaft möchte ich noch einmal die Frage erwähnen, um die P30 kreist: „Was dürfte ich?“26. Dieser Ausspruch eröffnet den Blick auf einen interessanten Zusammenhang: P30 erlebt, dass sie laut einer äußeren Autorität oder einem moralischen Gebot nicht alles „darf“, gleichzeitig wird sie aber im Unklaren darüber gelassen, was genau ihr verboten ist.

Alle Interviewten scheinen sich zerrissen zu fühlen zwischen dem Gefühl der Unge-rechtigkeit, im Gegensatz zu ihren Mitmenschen verzichten zu müssen, die wie ein Rechtsentzug, also wie eine Strafe erlebt wird (vgl. Ahlin and Billhult 2012), und der äußeren Erwartung, sich als maßvoll darzustellen und die von ihnen erwartete Motiva-tion zu beweisen. Möglicherweise kommt es Menschen mit Diabetes Typ 2 so vor, als ob bei ihnen wegen der Diagnose Diabetes ein anderes und höheres moralisches Maß angelegt wird als bei den Mitmenschen. Woher kommt die moralische Bewertung, die das Erleben von Verzicht maßgeblich bestimmt?