• Keine Ergebnisse gefunden

Laborwerte und Gewicht (nicht) kontrollieren können

3. Fragestellung und Ziel

5.6 Subkategorie 3: Verzicht wird geübt

5.6.2 Laborwerte und Gewicht (nicht) kontrollieren können

Die ärztlichen Blutzuckermessungen, bei denen der Verzicht bewertet wird, sind von

„privaten“ zu unterscheiden, die die Interviewten selbst zuhause durchführen: Bei der ärztlichen Messung werden sie kontrolliert. Beim privaten Messen des Blutzuckerspie-gels ist der Druck nicht so stark; es droht kein „Todesurteil“ bei erhöhtem Blutzucker-spiegel. Es dient vielmehr dazu, dass Interviewte ihre Blutzuckerspiegel kontrollieren.

Das Messen der Blutzuckerwerte kann dabei helfen, die diffuse Forderung nach Ver-zicht durch Ausprobieren verschiedener Verhaltensweisen und anschließendem Mes-sen des Effekts („trial and error“) konkret zu realisieren. Viele Interviewte erzählen,

dass sie sowohl Gewichts- als auch Blutzuckerspiegelmessungen nutzen, um Stück für Stück für sich persönlich herauszufinden, auf welche Dinge sie verzichten sollten und wie viel Verzicht nötig ist.

Also, sehr wichtig ist eben, dass man versucht, sehr viel Fett wegzulassen. Also das macht sich doch stark bemerk-bar. Und dann bringt das mit dem Zuckerspiegel reichlich in die Höhe. Also eher könnte man da was Süßes essen, als dass man Fett zu sich nimmt, mindestens habe ich das bei mir festgestellt. (P22:70)

Nicht nur geht es darum, Lebensmittel zu identifizieren, auf die streng verzichtet wer-den muss, oder die Nahrungsmenge zu begrenzen. Es ist gewissermaßen kontrolliert möglich, Ausnahmen beim Verzichten zu machen, wenn die Parameter dabei im ge-wünschten Bereich bleiben. Daneben können Ausnahmen durch späteres Ess- und Bewegungsverhalten kompensiert werden, bis erwünschte Werte erreicht werden. P16 kontrolliert auf diese Weise seine Ernährung - bei ihm ist das Gewicht der entschei-dende Kontrollparameter, während die Blutzuckerwerte sich kaum verändern.

Ich hab also das ganze Wochenende, äh, immer was gegessen, was ich also sonst nicht esse, ich habe also am Montag vier Pfund mehr drauf gehabt, ne, sofort, ne, und ich bin dann also Montag wieder zu meiner alten Lebens-weise äh zurückgekehrt. Habe eben halt, äh, Kartoffeln und Gemüse gegessen, ähm und gestern hab ich Kartoffeln und ‘n paar Eier gegessen und das war‘s dann. Wie ich mich heute Morgen gewogen habe, da war ich also wieder fast auf meinem alten Gewicht runter, […] man muss […] gucken, dass man das Gewicht also hält, ne, und ich habe also festgestellt, dem Zucker macht das, äh, der Diabetes macht das eigentlich von Werten her, ((Schulter-zucken)) pfff, so gut wie nichts aus, wenn man also auch mal sündigt, ne. (P16:1281-1292)

Für einige Interviewte, die den Eindruck haben, ihre Laborwerte beeinflussen zu kön-nen, werden „schöne Werte“ zu einem „Erfolgserlebnis“ (P29:063), zu einem abstrak-ten Ziel, das zu einem fast schon sportlichen Ehrgeiz führen kann:

Habe also im Krankenhaus schon angefangen mit Abnehmen, und das hab ich also dann weiterverfolgt, und zwar hab ich dann gesagt: ich mache das jetzt, also ich zieh das also durch, ich nehme also ab, bis ich wieder also irgendwo auf vernünftigen Werte bin. (P16:0201-0203)

Ich hab sogar schon mal ‘n vier neun geschafft, aber, äh, das ist dann natürlich, das war während der Zeit, wo ich also abgenommen habe, wo ich also, sag ich mal, so gut wie gar nix zu mir genommen habe. (P16:1474-1483) Ich bin sehr ehrgeizig und, und will natürlich Spitzenwerte haben, und immer, der Doktor sieht das anders, es müssen nicht immer Spitzenwerte sein, wenn es normal ist, ist es auch so, aber ich habe mich da so ‘n bisschen vernachlässigt gefühlt. (P29:095)

Für P29, die im letzten der drei Ausschnitte zitiert wird, ist das Erreichen guter Labor-werte wichtiger als für ihren Arzt. Hier entsteht eine interessante Umkehr von dem sonst in den Daten gefundenen Muster: Fühlen sich viele Interviewte von Ärztinnen

und Ärzten dazu gedrängt, gute Laborwerte zu erreichen, sind sie hier für die Inter-viewte von größerer Bedeutung als für den Arzt. P29 fühlt sich in ihren Anstrengungen, die sogar „sichtbar“ sind, nicht genügend wertgeschätzt.

Entscheidend für das Verzichten, für das „Eisern bleiben“, ist für P21 die Bestärkung durch die regelmäßigen ärztlichen Kontrollen und die guten Blutzuckerwerte. Der Ver-zicht ist ihr nur möglich, weil ein positiver Effekt messbar ist:

Also mir wär’s schon schwer gefallen, wenn jetzt die Werte erhöht wären trotz meines, also Weglassens, eh weniger leckerer Sachen, sag ich mal, aber so waren die Werte zufrieden, auch dieser Diabetesarzt sag ich mal, bei der Schulung, war mit mir eben auch zufrieden. Die Werte waren okay und so mach ich also im Grunde weiter.

(P21:277)

P21 (626) fasst ihre Vorstellung von Ernährung unter folgendem Satz zusammen:

„Aber meine Devise ist, wie gesagt, von allen ja, aber wenig. Und wirklich in Maßen.“

In diesem Prinzip deutet sich die Hoffnung an, dass es gelingen kann, sich trotz einer Diät frei zu fühlen. Eine Voraussetzung dafür ist die von P21 sich selbst zugeschrie-bene Eigenschaft, „maßvoll“ zu sein. Mit der Erarbeitung der persönlichen Wertschät-zung geht in gewisser Weise auch eine „Absolution“ durch die Ärztin einher, die die Auflage zu verzichten lockert (vgl. Kap. 5.6.1). Fast schon schildert P21 es als Tri-umph, wenn sie es sich erlaubt, von ihrem Ernährungsplan abzuweichen - letztlich aber mit der Zustimmung durch die Medizin, symbolisiert in den „Werten“:

Jahh und das hat ja bewiesen, bis jetzt, dass, wenn ich denn noch mal rüber gehe nachmittags zum Bäcker und da, der hat dann am Mittwoch frische Windbeutel, ne, denn esse [ich] auch mal ‘n Windbeutel, ja? Und lass mir den schmecken. Ja und die Werte zeigen ja, dass so nicht falsch ist. (P21:534)

Die Laborwerte, die - wie bereits erläutert - von medizinischem Personal als Erfolgs-kontrolle, aber auch von den Kranken als Verhaltensorientierung herangezogen wer-den, scheinen oft, aber nicht immer die erwarteten Effekte des Verzichtens abzubilden.

Zum Teil erweisen sich die Ergebnisse der Blutuntersuchungen geradezu als unlo-gisch bezogen auf das Verzicht-Paradigma („Man muss nur verzichten - dann erreicht man den erwünschten Blutzuckerspiegel“). P30 kommt im Laufe des Interviews immer wieder auf diese Enttäuschung zurück:

Ja, ich esse morgens eine halbe Scheibe Schwarzbrot mit ein bisschen was drauf und meinen Kaffee, Milchkaffe.

Und habe aber nach zwei Stunden immer noch, also 180 oder 200 Zucker. Und nach zwei Stunden, da sagt man sich, müsste er eigentlich weiter [gesunken sein], für die Menge. Andere essen verbotenerweise ihre Semmel und haben bei weitem nicht so viel wie ich. Und das, obwohl ich schon eben halt die Tabletten nehme. Und das ist mir manchmal unverständlich. […] Okay, manchmal esse ich ein bisschen zu viel. Wenn ich doch noch eine zweite Portion esse, dann weiß ich, dass er dann hoch ist, ne. Aber bei einigen Sachen, das kommt auf die Tagesform

auch drauf an. Manchmal ist er dann, esse ich zwei Tage hintereinander [das Gleiche], habe ich zwei unterschied-liche Ergebnisse. Das ist eben halt so. Aber ich bin jetzt schon fast so weit, dass ich mir sage, obwohl ich nur auf eigentlich Diät und Tabletten lebe, dass ich schon fast am Abwiegen immer bin. Dass ich, äh, die Portionsgrößen mir abwiege, um eben halt nicht zu viel zu bekommen. Und das ist gar nicht mal so einfach. (P30:093)

Da sage ich auch immer: "Ich esse weniger, und trotzdem nehme ich zu." […] Ich habe schon gesagt, jetzt, äh, werde ich nur noch von Luft und Liebe mich ernähren. […] Jedes Mal, wenn ich auf die Waage mich hinstelle, und dann sehe ich: äh, Scheiße! Schon wieder zugenommen. Also das frustriert schon, weil man so vieles versucht, und so viel macht. Und dann kein Ergebnis, sondern so ein Negativergebnis dann hat. (P30:331)

Nicht einmal das genaue Abwiegen der Lebensmittel - im Sinne einer „Gegenprobe“

zu den gemessenen Laborwerten - führt P30 zum Erfolg. Ironisch bietet sie die Lösung des Problems an: sich allein von „Luft und Liebe“ zu ernähren, da sich aus den Verän-derungen ihrer Laborwerte offensichtlich keine vernünftigen Alltagsregeln ableiten las-sen.

Besteht dauerhaft der Eindruck, das Gewicht bzw. die Laborwerte nicht durch Verzicht beeinflussen zu können, kann eine Abkehr von „den Werten“ (und damit auch vom ärztlichen Maßstab) die Folge sein.

Also, seitdem ich eigentlich in dieser Selbsthilfegruppe bin, ist zwar mein Zucker immer schlechter geworden, statt besser, mit diesen ganzen Tipps, und hier und da und so, ne. Aber ich sehe eben halt auch, ähm, die Tipps, die gegeben werden, die sind goldrichtig und gut. (P30:302)

P30 hat in der Selbsthilfegruppe konkrete Hilfestellung erhalten, wie sie verzichten kann, erlebt aber, dass sich ihre Bemühungen nicht in den Laborwerten zeigen. Den-noch hält sie an den Tipps fest, von denen sie überzeugt ist, dass sie ihr guttun. Statt sich an den Werten zu orientieren, „hört“ sie auf ihr Wohlbefinden.