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Zur konkreten Umsetzung von Selbstbestimmung

Hahn spricht davon, dass Selbstbestimmung ‚angemessen’ sein soll und führt dazu aus, dass sie weder ‚über- noch unterfordern’ soll. Es scheint mir nötig, diese Aussage etwas spezifischer zu formulieren.

Verantwortlichkeit wohnt in Bezug auf Menschen mit schwerer geistiger Behinderung eine grundsätzliche Problematik inne1. Wird Verantwortlichkeit als objektiv fassbares Kriterium verstanden, begibt sich der Pädagoge in ein Dilemma. Denn dann kann er einem Menschen mit schwerer geistiger Behinderung nur ganz bestimmte (geringe) Verantwortlichkeiten zugestehen. Werden etwa die klassische Entwicklungsskalen der moralischen Entwicklung von Kohlberg oder Piaget auf Menschen mit schwerer geistiger Behinderung bezogen, kann dies zur Konsequenz haben, dass Menschen mit schwerer geistiger Behinderung kaum mehr für ihr Handeln verantwortlich gesehen werden.

Die Gefahr sehe ich darin, dass mit dem Absprechen von Verantwortlichkeit gleichzeitig auch ein Verlust der Menschlichkeit einhergeht. Auf der anderen Seite widerspricht es unseren Vorstellungen, einem Menschen Verantwortlichkeit für etwas zuzusprechen, was er

‚objektiv’ nicht überschauen kann. Meines Erachtens kann dieses Dilemma nur in der Praxis aufgelöst werden, indem Menschen mit schwerer geistiger Behinderung mehr Selbstbestimmung und eine sogenannte ‚positive’2 Verantwortlichkeit zugesprochen wird.

6.5 Zur konkreten Umsetzung von Selbstbestimmung

Zur konkreten Umsetzung von Selbstbestimmung finden sich bei Hahn, wie beschrieben, zwei Ansätze. Zum einen schlägt Hahn das Prinzip

‚Entscheidenlassen’ (Autonomieprinzip) als das Umsetzungsprinzip von

1 Vgl. auch die Darlegung des Autors zu diesem Thema in Weingärtner (2000).

2 Positive Verantwortlichkeit soll Menschen mit schwerer geistiger Behinderung davor schützen, negative Konsequenzen für Handlungen zu tragen.

Selbstbestimmung vor. Dabei sollen Menschen mit schwerer geistiger Behinderung gefragt werden, welche von zwei Alternativen sie denn gerne möchten: Orangensaft oder Apfelsaft? Zum anderen wird ausgehend von den Erfahrungen des Wista Projekts versucht Selbstbestimmung bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung zu beschreiben. Ich möchte die Ansätze nacheinander durchgehen.

6.5.1 Zum Prinzip ’Entscheidenlassen’ oder Autonomieprinzip

Ich stimme Hahn zu, dass dieser Ansatz ein wichtiges und richtiges Instrument ist, um Selbstbestimmung zu ermöglichen. Es stimmt sicherlich, dass im Alltag häufig über erfragbare Wünsche von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung hinweggegangen wird. Durch dieses Prinzip ‚Entscheidenlassen’ kann als konkrete Handlungsanleitung die Fremdbestimmung zurückgedrängt werden und dadurch Menschen mit schwerer geistiger Behinderung ein Stück mehr Autonomie ermöglicht werden.

Dennoch reicht m. E. für die Umsetzung der Forderung nach Selbstbestimmung im konkreten Alltag der Menschen mit schwerer geistiger Behinderung dieses Prinzip ‚Entscheidenlassen’ nicht aus.

Alleine schon die Konstruktion einer Fragestellung (‚Wollen Sie dies oder jenes?’) schränkt die Selbstbestimmungsmöglichkeiten ein. Es ist zu fragen, ob es nicht jenseits dieser reagierenden Form von Selbstbestimmung eine selbstinduzierte Form von Selbstbestimmung gibt.

Im weiteren Verlauf des theoretischen Teils versuche ich mit dem Konzept der ‚Basalen Selbstbestimmung’ diese Frage zu erörtern. Im empirischen Teil wird dann versucht aufzuzeigen, welche Bedeutung diese anderen Formen von Selbstbestimmung im Alltag haben können.

Ein Beispiel wäre etwa die Situation, wenn eine Person ihren Platz im Raum ‚selbst bestimmen’ sollen kann. Dies ist m. E. weniger durch eine Fragesituation, denn durch ein selbsttätiges Tun möglich. Deshalb meine

ich, dass gerade im Alltag von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung noch weiter Aspekte zu berücksichtigen sind, will man die vollständigen Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung erfassen. Diese werden von mir im Kontext der Beschreibung der ‚Basalen Selbstbestimmung’ ausführlich dargestellt. Ein Fragstellung ist beispielweise, ob die angebotenen Alternativen kognitiv erfasst und die Folgen antizipieren werden können.

Dies ist m. E. in Abhängigkeit von der betreffenden Person nur bei ganz bestimmten Situationen möglich.

Ich versuche im weiteren Verlauf dieser Arbeit einen Ansatz zu beschreiben, dessen Anliegen es ist, aus der Erfahrung in der Arbeit für diesen Personenkreis zusätzliche Selbstbestimmungsmöglichkeiten zu beschreiben, die auch mit geringen kognitiven Vorrausetzungen Selbstbestimmung im konkreten (Schul-)Alltag ermöglichen.

6.5.2 Zur Beschreibung von Selbstbestimmung beim Wohnen

Hahn (1994c) beschreibt, wie erwähnt, einige Beispiele für Selbstbestimmung bei Menschen mit schwerer geistiger Behinderung.

Schaut man sich die Beispiele näher an, fällt folgendes auf: die Beispiele beschreiben weniger konkrete selbstbestimmte Handlungen, sondern eher äußere Rahmenbedingungen, die im Bereich Wohnen Selbstbestimmung ermöglichen können. (Die Gegenstände des eigenen Zimmers stehen für Aktivitäten zur Verfügung. Vom eigenen Zimmer aus können andere Bewohner/innen in ihren Zimmern bzw. im Gemeinschaftsraum aufgesucht werden.) Dabei bleibt im Unklaren, wie die Gegenstände im eigenen Zimmer in konkreten Handlungen selbstbestimmt genutzt werden. Aus der Perspektive dieser Arbeit wäre es interessant, die Handlungen konkret zu beschreiben, um sie dann auf die Frage der Selbstbestimmung beziehen zu können. Auch ist das Vorhandensein von persönlichen Einzelzimmern, die auch tagsüber genutzt werden können, zu begrüßen. Unter dem Aspekt der

Selbstbestimmung wäre interessant zu fragen, inwiefern offene Einzelzimmer welche Art von Selbstbestimmung ermöglichen, und wie sie tatsächlich auch genutzt werden. Aus Sicht des Autors ist nicht auszuschließen, dass ein zweiter, interessant gestalteter Gemeinschaftsraum eventuell mehr Selbstbestimmung ermöglichen kann, auch wenn dann zwei Personen einen Raum gemeinsam benutzen. Um dies diskutieren zu können, wäre es notwendig, Selbstbestimmung auf der konkreten Handlungsebene zu beschreiben. Hahn schreibt:

„– Die einzelnen Zimmer [sind] unter Berücksichtigung der erkennbaren Wünsche und Bedürfnissen ihrer Bewohner von den Eltern möbliert und ausgestattet [sind]“ (Hahn, 1994b, S. 330 Modifikationen in eckigen Klammern durch C.W.).

Hier wäre es jedoch näher interessant, wie die ‚erkennbaren Wünsche’ der Bewohner zur Umsetzung kamen. Wurden etwa Möbelprospekte gewälzt oder eine Möbelhaus besucht (vgl. Seifert 1996, 1997a) oder haben die Eltern die ‚Bedürfnisse’ ihrer Kinder festgelegt. Ohne eine Beschreibung der konkreten Handlungen bleibt die Selbstbestimmungsfrage vage. Nur bei der Beschreibung der Handlungen unter Berücksichtigung der Situation und des einzelnen Bewohners, lässt sich klären, was nun Selbstbestimmung konkret bedeutet. Es könnte ja sein, dass das Durchblättern von Möbelkatalogen, um etwas für das eigene Zimmer zu finden, eine Abstraktion erfordert, die der einzelne Heimbewohner gar nicht leisten kann. Dann wäre dies für diese konkrete Situation keine geeignete Form von Selbstbestimmung. Auch der Besuch eines Möbelhauses bedarf, um ihn mit dem eigenen Zimmer in Verbindung zu bringen, eines gedanklichen Transfers. Es wäre also zu fragen, ob der Heimbewohner dies versteht.

Vielleicht sind es aber auch die kleinen Dinge, die Wohlbefinden und Selbstbestimmung ausmachen. Es ist doch nicht grundsätzlich auszuschließen, dass ein freundliches ‚Ins Bett gebracht werden’ von einer Bezugsperson, die der Heimbewohner schon einige Jahre kennt, das bedeutsame Wohlbefinden für ihn bedeutet. Selbstbestimmung

könnte sich dann zum Beispiel in einem Dialog äußern, der nicht notwendigerweise sprachlich sein muss, sondern sich eventuell dadurch vollzieht, dass verschiedene Orte für das Kuscheltier (das durchaus auch nichtbehinderte Erwachsene besitzen können) ausprobiert werden und die jeweilige Reaktion wahrgenommen wird, bis der richtige Platz gefunden ist. Das Problem bei solchen Beschreibungen auf der Handlungsebene ist, dass sie banal, fast lächerlich wirken. Dennoch ist diese Ebene aus Sicht des Autors für die Beschreibung von Selbstbestimmung notwendig, weil nur so deutlich werden kann, wie sich Selbstbestimmung für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung manifestiert. Eine Diskussion darüber, ob und inwiefern es sich hierbei um Selbstbestimmung handelt, bedarf diesen konkreten Zugang. Erst danach erscheint eine Abstraktion sinnvoll.

Konkreter ist die Aussage von Hahn:

„Es sind erwachsene Frauen und Männer, die z.B. zu unterschiedlichen Zeiten zu Bett gehen wollen. Dies wird ermöglicht“

(Hahn 1994c, S. 330).

Dennoch wäre auch hier die Frage interessant, wie dies ermöglicht wird, welche Grenzen es da gibt usw. Einen Hauch dieser Grenze lässt sich aus der Bemerkung herauslesen:

„– Bei den gemeinsamen Mahlzeiten, z. T. unter Mithilfe in der Küche zubereitet, werden Vorlieben für bestimmte Speisen berücksichtigt und entsprechende Mengen beim Essen nach Möglichkeit, selbst bestimmt“ (Hahn 1994c, S. 330).

Hier fragt sich, was denn ‚nach Möglichkeit’ bedeutet? Leider nennt Hahn nur die ‚Überschriften’ der Geschichten.

„Geschichten liessen sich dazu erzählen mit Überschriften wie z.B.:

‚Herr Müller lernt sich zu behaupten.’

‚Herr Schmidt geniesst Bewegungsfreiheit und wird neugierig.’

‚Herr Hausmann will seine Ruhe haben.’

‚Frau Maier hat eine Lieblingsecke.’

‚Herr Braun ist stolz auf sein Zimmer.’

‚Herr Hausmann legt den Weg zur Tagesförderstätte allein zurück.’

‚Frau Maier und Herr Schulze machen sich nachts am Kühlschrank zu schaffen.’“ (Hahn 1994c S. 330f, Aufzählungszeichen und Absätze durch C.W.)

Spannend wären gerade diese Geschichten selbst. Der empirische Teil dieser Arbeit versucht deshalb, so gut es möglich ist, und im Bewusstsein, dass es sich, zumal für Menschen die noch nie mit Menschen mit schwerer geistiger Behinderung gelebt haben, banal, fast lächerlich anhören kann, diese Geschichten zu erzählen.