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Eigene Begründung der Selbstbestimmung für Menschen

6.2 Zur anthropologischen Begründung von

6.2.1 Eigene Begründung der Selbstbestimmung für Menschen

Angesicht dieser Problemlage, der anthropologischen Argumentation, möchte ich dieser eine andere Begründung gegenüberstellen. Ziel dieser ist es, die Forderung nach Selbstbestimmung für Menschen mit schwerer

1 Speck (1999) bezieht sich auf diese Problemlage, wenn er darauf aufmerksam macht, dass Menschsein eben nicht abhängig von irgendeiner Leistungsfähigkeit ist.

Menschsein und Personsein ist unabhängig vom empirischen Nachweis bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Aus der Teilhabe am Menschsein leitet sich der Anspruch auf

geistiger Behinderung zu begründen. Ich gehe von drei Überlegungen aus.

Erstens: Es geht nicht darum, Menschen mit schwerer geistiger Behinderung etwas besonderes zu gewähren. Im Gegenteil ist ja die Forderung nach Selbstbestimmung die Forderung nach einem Standard an Selbstbestimmung, welcher Menschen ohne Behinderung selbstverständlich ist1.

Zweitens: Es gibt in jeder Kultur einen ungefähren Konsens, welches Maß an Selbstbestimmungsmöglichkeiten den einzelnen Menschen grundsätzlich zugesprochen wird. Dieser, trotz im Einzelfall widersprüchlicher ideengeschichtlicher und sozialgeschichtlicher Daten, beschreibbare Konsens, kann sich etwa in seiner Grundaussage in einer Verfassung wiederspiegeln. Beispielweise bietet das deutsche Grundgesetz eine Fülle von Selbstbestimmungsrechten2. Diese Rechte des Einzelnen können nur aufgrund spezieller Gesetze außer Kraft gesetzt werden. Hier ist etwa der Freiheitsentzug für Straftäter zu nennen.

Drittens: wie bereits erwähnt, besteht kein Zweifel, dass Menschen mit schwerer geistiger Behinderung die gleichen Rechte haben wie andere, eventuell nichtbehinderte Menschen.

Die Konklusion dieser Überlegungen führt zur Begründung der Forderung nach Selbstbestimmung für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung. Das heißt, es muss gute Gründe geben um den Anspruch auf das Maß an Selbstbestimmung, welches jedem zusteht einer bestimmten Personengruppe zu entziehen.

1 An dieser Stelle sei nur auf das sogenannte Normalisierungsprinzip (Nirje 1994) verwiesen, welches eine ähnliche Argumentationsstruktur hat.

2 Da das Grundgesetz für alle Menschen, also auch für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung gilt, wird dadurch der juristische Aspekt der Forderung nach Selbstbestimmung für diesen Personenkreis abgedeckt.

Durch diese Argumentation haben Menschen mit schwerer geistiger Behinderung einen Anspruch auf die Selbstbestimmungsmöglichkeiten, die in ihrer Gesellschaft auch für die anderen nichtbehinderten Personen gelten. Oder umgekehrt; Menschen mit schwerer geistiger Behinderung dürfen nicht Selbstbestimmungsmöglichkeiten entzogen werden, die in einer Gesellschaft üblich sind. Dies mag aus theoretischer Sicht banal klingen. Angesicht der realen Gegebenheiten für viele Menschen mit schwerer geistiger Behinderung (Seifert u.a. 2001) ist dies m. E. ein gewichtiges Argument. Danach darf Menschen mit schwerer geistiger Behinderung nur unter fest umschriebenen und begründbaren Ausnahmetatbeständen die Selbstbestimmungsmöglichkeiten verweigert werden, die gesellschaftlich üblich sind. Zum Beispiel ist es in Deutschland fraglos üblich, dass erwachsene Menschen die Speisen die sie zu sich nehmen, selbst bestimmen. Wenn dem so ist, dann darf Menschen mit schwerer geistiger Behinderung nicht einfach das Essen zwangsweise eingeflößt werden. Noch besser wäre eine, pädagogisch wohlüberlegte, Beteiligung dieser Personen bei der Zusammenstellung des Essens.

Bei dieser Argumentation bleibt die Frage offen, wie Selbstbestimmung konkret umgesetzt werden kann. Mit dieser wichtigen Frage beschäftige ich mich im weiteren Verlauf dieser Arbeit. Ausgangspunkt ist hier zunächst die Begründung der Forderung nach Selbstbestimmung für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung. Wenn nun die Forderung nach Selbstbestimmung legitim ist und hoffentlich im weiteren Verlauf aufgezeigt werden kann, dass sie auch umsetzbar ist, dann hätte diese Arbeit ihren Sinn erfüllt. Warum ich diese Argumentation vorteilhaft finde sei an folgenden vier Aspekten aufgezeigt:

Erster Aspekt: Relativität und bedingungslose Inklusion

Die obige Begründung berücksichtigt, dass Selbstbestimmung ein relativer Begriff ist. Im Eingangsteil wurde Selbstbestimmung zweifach relativiert,

einmal bezüglich den umfassenden Lebensbereichen und zum anderen bezüglich der sozialen Eingebundenheit. Zusätzlich berücksichtigt diese Begründung, dass es kulturell unterschiedliche Ausformungen des Selbstbestimmungsverständnisses geben kann. Ich könnte mir etwa vorstellen, dass in einigen ostasiatischen Kulturen die Gruppe eine größere Bedeutung besitzt, als in der durch stärkeren Individualismus geprägten westeuropäischen Kultur der Moderne. Insofern ist diese Begründung der Forderung nach Selbstbestimmung weniger absolut als die Behauptung eines ‚Wesensmerkmals’. Die Begründung ist aber insofern absolut, als dass die für alle geltenden Selbstbestimmungsformen einer Kultur eben auch für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung gelten. Die Zugehörigkeit zu diesem Konsens ist unabhängig von der Leistungsfähigkeit des Einzelnen. Sie ist unabhängig vom empirischen Nachweis bestimmter Persönlichkeitsmerkmale. Allein aus dem faktischen Dasein leitet sich der Anspruch auf die Teilhabe an diesem Konsens ab1.

Zweiter Aspekt: Offenheit für die konkrete Transformation in die Lebenswelt

Wie erwähnt, bleibt bei dieser Begründung offen, wie Selbstbestimmung konkret umgesetzt werden soll. Sie öffnet beispielweise den Raum dafür, zu fragen, ob die freie Wahl des Wohnortes nicht für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung sich zumindest in der freien Wahl des Ortes in einem Raum realisieren lassen sollte. Diese Vagheit hat den Vorteil die Frage der Transformation, der konkreten Umsetzung in die Lebenswelt von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung offen zu halten und dadurch vor moralischer Überhöhung zu schützen. Die Forderung nach Selbstbestimmung ist eine ethische Fragestellung. Die Frage nach der Art der Umsetzung kann nicht nur ethisch erörtert werden, sondern bedarf auch einer methodischen und empirischen Herangehensweise. Ohne auf die einzelnen schwierigen

1 Speck (1999) verwendet eine ähnliche Argumentation, um den Anspruch auf Bildung für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung zu legitimieren.

Transformationsprozesse hier schon einzugehen, sie sind ja Fragestellung dieser Arbeit und werden im weiteren Verlauf erörtert, sei festgehalten, dass diese Begründung eine Offenheit für diese mitbringt.

Dritter Aspekt: Schutzaspekt

Es ist zu hoffen, dass wenn diese Begründung ernst genommen und umgesetzt wird, Menschen mit schwerer geistiger Behinderung vor unwürdiger Fremdbestimmung geschützt werden können.

Selbstbestimmungsrechte, die jedem Menschen ohne Behinderung selbstverständlich sind, können nun Menschen mit schwerer geistiger Behinderung nicht mehr versagt werden. Die legalistische Argumentation bezieht sich letztendlich auf das Fundament, dass Menschen mit schwerer geistiger Behinderung schlicht und einfach Menschen sind. Angesichts der unbefriedigenden realen Situation in vielen Wohnstätten für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung (Seifert u.a. 2001) halte ich diesen Abgleich an die Normalität für unbedingt geboten. Die erschütternden Bilder, die der Journalist Ernst Klee für das Deutsche Fernsehen dokumentiert hat, machen deutlich, dass in einigen Einrichtungen sich nicht die Frage nach dem Sollen, sondern nach dem Muss stellt, wenn grundlegende Selbstbestimmungsrechte verletzt werden (Hahn 1994c).

Ich denke, die Legalargumentation kann insofern weiterentwickelt werden, dass sie bestimmte Mindeststandards beschreiben kann, die keineswegs unterschritten werden dürfen, wie etwa selbstbestimmtes Essen.

Vierter Aspekt: Bürgerrecht statt Gesinnungspädagogik

Ein Vorteil dieser kulturgebundenen und ethischen Argumentation sehe ich darin, auf politischer Ebene nun mit bürgerrechtlichen und menschenrechtlichen Standards für die Selbstbestimmung von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung argumentieren zu können. Die Frage nach der Forderung von Selbstbestimmung für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung ist mit dieser neuen Begründung keine rein pädagogische Frage mehr. Insofern zielt ein konservativ orientiertes

Bedenken an der Selbstbestimmungsforderung für Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, die sich im Kontext einer Kritik am (post)modernen Individualismus und Pluralismus äußert ins Leere. Die Frage nach der Selbstbestimmung von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung ist nicht im Kontext einer klassischen Bildungsdebatte zwischen unterschiedlichen Lagern zu führen. Es ist weniger die Frage nach antiautoritärer Erziehung, noch die Frage ob der Freiheitsbegriff viel zu individualistisch aufgefasst wird (Lindmeier 1999), sondern es ist die Frage inwiefern Menschen die üblichen selbstverständlichen, bei Menschen ohne Behinderung von niemanden in Frage gestellten,