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2.2.1 Selbstreferenz und Autonomie in der Systemtheorie

Auch die Diskussion um die an verschiedenen Disziplinen orientierte Systemtheorie verwendet den Begriff Autonomie (vgl. Wagner 1999, Wilke 1982). Dabei rückt ein am Konstruktivismus (vgl. von Foerster 2000) orientiertes Verständnis in den Mittelpunkt. Innerhalb dieser biologisch orientierten Systemtheorie (Maturana, Varela) wird darauf hingewiesen, dass Lebewesen ‚autopoetisch’ organisiert sind. Damit wird auf die Selbsterzeugung und Selbsterhaltung eines (biologischen) Systems

hingewiesen. Mit dieser Form der Selbsterhaltung und Selbstherstellung geht einher, dass Umweltereignisse nicht direkt steuernd auf Lebewesen einwirken können. Vielmehr ‚bestimmt’ das Lebewesen, wie die Umweltreize verarbeitet werden. Der Zustand des Systems entscheidet über die Form der Verarbeitung der Reize von Außen. So gesehen könnte aus systemtheoretischer Perspektive Selbstbestimmung folgendermaßen beschrieben werden: Autonomie charakterisiert einen Zusammenhang zwischen einem Subjekt (System) und einer seiner Äußerungsformen (Zuständen). Dabei hängt der Inhalt dieser Äußerungsform nicht von seiner Umwelt, sondern von dem Subjekt selbst ab (vgl. auch Wagner 1999). Diese Autonomie findet allerdings im Rahmen der Strukturdeterminiertheit des Systems statt.

Eine Transformation dieser systemtheoretischen Vorstellungen auf Menschen und insbesondere auf das Feld Erziehung finden sich u.a. bei Huschke-Rein, Treml, Luhmann und Schorr1. In der Sonderpädagogik hat Speck (1987 und 1996) ausführlich Bezug auf die Systemtheorie genommen.

Inwieweit Einsichten dieser Diskussion sinnvoll und frei von Missverständnissen und fehlerhaften Reduktionismen auf Fragestellungen dieser Arbeit bezogen werden können, bedürfte einer eigenen Untersuchung.

2.2.2 Konzepte der Selbstbestimmung in der Sonderpädagogik

In der sonderpädagogischen Fachliteratur tritt der Begriff Selbstbestimmung vor 1980 kaum in Erscheinung (vgl. Frühauf nach Grampp 1995). Als Vorläufer sind Speck und Hahn zu nennen, die die Abhängigkeit von behinderten Menschen thematisieren (vgl. Hahn 1981).

Seit dem Einsetzen der Selbstbestimmungsdiskussion in den 90er Jahren

1 Zu nennen sind etwa: Huschke-Rein 1990; Treml 1983, 1987a+b, 1990, Luhmann und Schorr 1979, 1982; kritisch Benner 1979.

findet sich eine Fülle von Veröffentlichungen zu diesem Thema. Dieses Thema dominiert seither die Diskussion innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik.

Waldschmidt (1999) untersucht die unterschiedlichen Verständnisse von Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderungen. Sie zeigt vier Linien auf, die das heutige Verständnis von Selbstbestimmung umfassen und jeweils mit unterschiedlicher Gewichtung zum tragen kommen. Diese sind:

Selbstbeherrschung

Ausgehend von Kant wird Selbstbestimmung als pflichterfüllte, an moralischen Kategorien ausgerichtete Herrschaft des einzelnen über sich verstanden. Im Vordergrund steht das vernunftorientierte Subjekt mit der Frage: Was soll ich tun?

Selbstinstrumentalisierung

Diese Linie versteht Selbstbestimmung als nach den Kriterien von Effizienz und Brauchbarkeit optimierte Beherrschung des eigenen Selbst.

Der Einzelne ist quasi Manager seiner selbst und versucht, um das Optimum an Glück zu erreichen, sich optimal zu positionieren und zu verkaufen.

Selbstthematisierung

Hier bekommt Selbstbestimmung einen psychologischen Impetus.

Selbstbestimmung stellt so die Frage nach der eigenen Identität. Nur durch die immerwährende Suche nach dem eigenen ‚Selbst’ kann der Mensch letztendlich zur Freiheit gelangen. Dazu werden insbesondere Therapien durchgeführt, die von Blockaden, Hemmungen und neurotischen Zwängen befreien sollen.

Selbstgestaltung1

Diese Linie nimmt bezug auf die Antike. Sie meint Selbstbestimmung in der Form des richtigen maßvollen Lebens. Die Frage ist demnach: Wie will ich leben? Sie propagiert ein Leben nach ästhetischen Kriterien.

Gestaltung meint auch die Eingrenzung und den Umgang mit Trieben und Leidenschaften (vgl. Waldschmidt 1999).

2.2.3 Wandel der Zuschreibung von Selbstbestimmung bei Menschen mit Behinderung

Selbstbestimmung als sozial eingebundene Selbstbestimmung ist Menschen ohne Behinderung selbstverständlich. Menschen mit schwerer geistiger Behinderung wurde und wird Selbstbestimmung abgesprochen.

So spricht etwa das Bürgerliche Gesetzbuch ihnen Selbstbestimmung implizit ab, indem es diese Personengruppe als Menschen, die ihre Angelegenheiten nicht selbst besorgen können, beschreibt. Ein Blick in die Geschichte der Heilpädagogik verdeutlicht, dass selbst Menschen, die nur als leicht geistig behindert bezeichnet werden, erst seit kurzem Selbstbestimmung zugesprochen wird.

Die Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik ist bei all ihren positiven Errungenschaften (vgl. Möckel 1988a und 1988b) dadurch geprägt, Menschen mit geistiger Behinderung primär als hilfsbedürftige und abhängige Personen zu sehen. Im Unterschied zu anderen Behinderungsarten wurde davon ausgegangen, dass geistige Behinderung grundsätzlich Selbstbestimmung ausschließt (vgl. Speck 2001 S. 17f). Menschen mit geistiger Behinderung wurden als total abhängig definiert (vgl. ebenda). Die Bildsamkeit dieser Personengruppe wurde lange Zeit in Frage gestellt. Es wurde ein Bild geprägt, der Mensch mit geistiger Behinderung sei passiv, sei nur zum reproduktiven Denken in

1 Wiegand und Winzen (1988, S. 129f) thematisieren zum Begriff ‚Selbstgestaltung’

stärker eine Charakterisierung des Menschen als selbst gestaltende Einheit. Kautter u.a.

(1988) legten mit dem Sammelwerk ‚Das Kind als Akteur der Erziehung’ eine praxisorientierte Konkretisierung der Selbstgestaltungsidee vor.

der Lage und auf die dauerhafte Anleitung anderer angewiesen. Deshalb sollten die Helfer entsprechend dominant sein. Diese Dominanz ging mit der Einschränkung von persönlichen Freiheitsräumen einher.

Auch die in den 60er Jahren einsetzende verstärkte Förderung der Menschen mit geistiger Behinderung änderte nichts am Bild des hilfsbedürftigen und unselbständigen Menschen (vgl. Hähner 1997). Diese Haltung hat sich durch die Selbstbestimmungsdiskussion radikal verändert. Selbstbestimmung wird Menschen mit geistiger Behinderung zumindest theoretisch weitgehend zugestanden. Auch die Konzepte der Einrichtungen haben sich entsprechen geändert. Es existieren eine Anzahl von konkreten Umsetzungsbemühungen in der Praxis. Bei aller Unzulänglichkeit kann doch gesagt werden, dass die Idee der Selbstbestimmung in den Einrichtungen angekommen ist.

2.2.4 Selbstbestimmung und Selbständigkeit

Die Abgrenzung bzw. Eingrenzung der Begriffe Selbstbestimmung und Selbständigkeit1 ist problematisch.

Bradl (2002) betont den Unterschied von Selbstbestimmung und Selbständigkeit. Wagner (1999) macht zu Recht darauf aufmerksam, dass ein hohes Maß an Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit im Sinne von wenig Selbständigkeit keinesfalls zwangsläufig ein geringes Maß an Selbstbestimmung nach sich ziehen muss. So versuchen gerade Assistenzkonzepte etwa Menschen mit körperlicher Behinderung ein selbstbestimmtes Leben dadurch zu ermöglichen, indem die Helfer quasi als verlängerter Arm die Wünsche des behinderten Menschen erfüllen.

Ob der Begriff Selbstbestimmung so stark aus der Lebenswirklichkeit abstrahiert werden kann, dass sich gar keine Beziehung zwischen

1 Vgl. auch Haeberlin 1996c. Er versteht Selbstbestimmung mehr als ‚individuell

Selbständigkeit und Selbstbestimmung mehr ergeben, wage ich zu bezweifeln. Das Assistenzkonzept besitzt nach Meinung des Autors in der Lebenswirklichkeit den Nachteil, dass die Umsetzung von der jeweiligen Verfügbarkeit und Gestimmtheit des Assistenten abhängig ist. Deshalb ist es wichtig, aus Sicht der Lebenswirklichkeit von behinderten Menschen darauf hinzuweisen, dass Selbständigkeit häufig erst die Möglichkeit zur Selbstbestimmung eröffnet. Auch ist zu bedenken, dass das Assistenzkonzept nicht ohne Modifikation von Menschen mit körperlichen Einschränkungen auf Menschen mit schwerer geistiger Behinderung übertragen werden kann.

Häufig wird deshalb Selbständigkeit quasi analog zu Selbstbestimmung gedacht. Selbst, wenn es so jemanden wie den ‚perfekten Assistenten’

gäbe, ist die direkte Umsetzung durch Selbsttätigkeit der indirekten durch einen Assistenten vorzuziehen. Aus diesem Grunde kann etwa eine gestaltete Umgebung für Menschen mit Behinderung durch die damit eröffneten Selbständigkeitsmöglichkeiten durchaus sinnvoller Selbstbestimmung realisieren als ein persönlicher Assistent. Für einen körperlich behinderten Menschen kann eine Prothese eine Maß an Selbstbestimmung ermöglichen, zu dem kein Assistent in der Lage wäre.

Insofern sind die Begriffe aus praktischer Sicht nicht gänzlich zu trennen.