• Keine Ergebnisse gefunden

In den folgenden Veröffentlichungen (v.a. 1983, 1987, 1994a, 1994b, 1994c, 1996 und 1999) konkretisiert und pointiert Hahn sein Verständnis.

Die Artikel verdeutlichen den begrifflichen Wechsel von ‚sozialer Abhängigkeit’ (1981) über ‚Freiheit’ (1983) zu ‚Selbstbestimmung’ (1987 und folgende). Die Selbstbestimmungsdiskussion in der Geistigbehindertenpädagogik wird dadurch maßgeblich beeinflusst. Im Folgenden versuche ich die neuen und für diese Arbeit wichtigen Argumentationslinien in den Arbeiten von Hahn aufzuzeigen.

5.2.1 Anthropologische Verortung von Selbstbestimmung

Die Frage nach der anthropologischen Verankerung der Selbstbestimmung zieht sich wie ein roter Faden durch seine Veröffentlichungen. Schon 1983 versucht Hahn seine Argumentation, hier noch für Freiheit und gegen soziale Abhängigkeit, anthropologisch zu begründen. In der Schrift ‚Von der Freiheit schwerbehinderter Menschen:

anthropologische Fragmente’ (Hahn 1983) betont er die Funktion der Freiheit für das Menschsein. Freiheit, so Hahn, gehört ‚wesenhaft’ zum

1

Menschen. Im Zusammenspiel mit der notwendigen Abhängigkeit von anderen Menschen sieht Hahn die Funktion von Freiheit in Folgendem:

sie verhilft zu Erfolgserlebnissen und motiviert dadurch

sie ermöglicht Lernprozesse, die zum Erwachsenwerden führen sie legt den Grund für die Entwicklung der Persönlichkeit

sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der menschlichen Sozialisation

sie führt zum Erleben eigener Verantwortung.

1994 argumentiert er, Selbstbestimmung gehöre ‚wesenhaft’ zum Menschsein. 1999 fasst er in einer eigenen Schrift: ‚Anthropologische Aspekte der Selbstbestimmung’ seine anthropologische Argumentation zusammen. Diese, als Hahn (1999) zitierte Schrift, soll hier als Grundlage dienen1.

Die 1994 aufgestellte These ‚Selbstbestimmung sei ein Wesensmerkmal des Menschseins’ begründet er nun umfassender. Er verweist auf Gehlens Vorstellung von einem ‚Hiatus’, einem Graben, der beim Menschen zwischen dem Auslöser eines Instinktes und seiner Reaktion liegt. Daraus folgert er:

„Das heißt: Sein Wohlbefinden wird nicht automatisch biologisch erzeugt. Er ist gezwungen, am Hiatus innezuhalten und sich auf dem Hintergrund seiner Möglichkeiten für einen von mehreren Wegen zu entscheiden, wie sein Bedürfnis bestmöglich befriedigt werden kann - und diesen Weg dann zu beschreiten“ (Hahn 1999, S. 19).

Er geht noch weiter und schreibt:

1 Hahn (1994a) liegt ein Vortrag zur Eröffnung einer WfbM zugrunde. Er argumentiert hier folgendermaßen: Die These 'Selbstbestimmung gehört wesenhaft zum Menschsein’

untermauert er mit Verweisen auf folgende Zusammenhänge:

- die ontogenetische Entwicklung jedes Menschen zu mehr Autonomie - den Freiheitsentzug als gesellschaftliche Strafe

- die (scheinbare) gesellschaftliche Tendenz zu Demokratie als Ausdruck von Selbstbestimmung

- den Zuwachs von Selbsthilfeorganisationen.

Für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den anthropologischen Aussagen ist Hahn (1999) besser geeignet, da dieser umfangreicher ist und einen anderen Adressatenkreis berücksichtigt.

„Der Wegfall der Instinktsteuerung bei der Realisierung von Wohlbefinden korrespondiert beim Menschen mit der Ausbildung des sogenannten ‚intelligenten Verhaltens’ und seiner Unabhängigkeit, die darin potentiell angelegt ist“ (Hahn 1999, S. 19)1.

Zusätzlich stützt er sich auf Jaspers, dessen Sicht er folgendermaßen darstellt:

„Der Mensch existiere, indem er ständig seine Freiheit verwirkliche“

(Hahn 1999, S. 20).

Hahn fasst diese grundlegenden Gedanken im Kontext von Wohlbefinden zusammen:

„Menschenleben ist wesenhaft gekennzeichnet durch die permanente Einflussnahme auf das eigene Wohlbefinden. Mit der Realisierung seines Autonomiepotentials verwirklicht er seine Existenz. Dies gilt für alle Menschen. Menschen mit - sehr schweren - Behinderungen machen keine Ausnahme“ (Hahn 1999, S. 20).

5.2.2 Wohlbefinden und Bedürfnisse

Hahn unterstreicht immer wieder die These 'menschliches Wohlbefinden gründet auf Selbstbestimmung' (1994a, S. 82f). Er verdeutlicht, dass individuelle Bedürfnisse durch selbstbestimmte Entscheidungen eher berücksichtigt werden können. So tragen selbstbestimmte Entscheidungen zur Befriedigung von Bedürfnissen und damit zum Wohlbefinden bei. Es fällt auf, welch große Bedeutung der Bedürfnisbegriff in seiner Argumentation besitzt. Hahn (1999) schreibt dazu:

„Menschlichem Wohlbefinden liegt die Befriedigung von Bedürfnissen zugrunde, die in größtmöglicher Unabhängigkeit selbst verwirklicht werden oder selbstbestimmt in Abhängigkeit von anderen realisiert werden müssen, wobei dies assistierende Hilfe voraussetzt“ (S. 21).

1 Wie problematisch solch eine Sichtweise ist, war sich Hahn hier eventuell gar nicht bewusst. Sie könnte insofern missverstanden werden, dass Menschen mit schwerer geistiger Behinderung stärker instinktgesteuert wären. Es ist schwer vorstellbar, dass

Die These des Zusammenhangs von Selbstbestimmung und Wohlbefinden bezieht Hahn (1994c) explizit auf Menschen mit schwerer geistiger Behinderung.

5.2.3 Selbstbestimmung und Sinn, Identität und Verantwortlichkeit Für das Individuum bedeutet das eigene Handeln selbst zu bestimmen auch dieses als sinnvoll zu erleben. Hahn argumentiert:

"Wir bezeichnen unser Wirken dann als sinnvoll, wenn zwischen ihm und der Realisierung der ihm zugrundeliegenden Zielvorstellungen Einklang besteht" (Hahn 1994a, S. 83f).

Er sieht

"...die grundsätzliche Gefahr, dass mit dem Verlust an Selbstbestimmungsmöglichkeiten ein Verlust der subjektiv erlebbaren Sinnhaltigkeit des Lebens einhergeht" (Hahn 1994a, S. 84).

So gesehen ist menschliches Wohlbefinden an eigenes, selbstbestimmtes, selbstentschiedenes Wirken geknüpft, welches sich durch seinen erlebten Sinngehalt von stärker fremdbestimmtem Handeln unterscheidet. Hahn führt dazu auf:

„Nicht unerwähnt bleiben kann in diesem Zusammenhang, dass das Nichterschließen ‚innerer’ Freiheitsräume für das ausweglos schwer abhängige Individuum einen Verlust an eigener Verantwortlichkeit bedeuten kann, der als Sinndefizit des eigenen Lebens angesehen wird und – ‚reflexiv empfunden’ – zur eigenen Existenzverneinung (mangels erkennbarem Sinn) führen kann“ (Hahn 1981, S. 37).

Auch die Entwicklung individueller Identität ist für Hahn von Selbstbestimmung abhängig. Ohne dass eine Person selbst entscheidet (selbst bestimmt), kann sie weder die eigenen Möglichkeiten und Grenzen, noch ihre Bedürfnisse kennen lernen, und sie ist in Gefahr, Fremddefinitionen ihres eigenen Selbst zu übernehmen (vgl.

Hahn1994a, S. 86). Identität entsteht für Hahn aus der oben zitierten 'oszillierenden Balance' zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Hahn nennt dies 'Identitätsbalance' (vgl. S. 86). Zur Frage der Integration, verstanden als das Einbeziehen eines Einzelnen in eine Gruppe, mit dem

Ziel, sich wohl zu fühlen, nimmt Hahn den Gedanken der Identitätsbalance noch einmal auf. Integration macht nur Sinn, solange sie dem neuen Mitglied eine Identitätsbalance im obigen Sinne ermöglicht. Aber auch die Gruppe und ihre Mitglieder werden nach Hahn eine Integration nur insoweit zulassen, als sie ihre Identität nicht zerstört.

Zur Frage der Beziehung von Verantwortlichkeit und Selbstbestimmung vertritt Hahn eine Mittelposition1. Freiheitsräume für Selbstbestimmung sollen der eigenen Verantwortlichkeit 'angemessen' sein. Sie sollen nach Hahn weder über- noch unterfordern. Einerseits beschreibt Hahn wie Freiheit notwendig sei, um durch das Erleben eigener Verantwortung die Konsequenzen eigener Entscheidungen und Handlungen als selbst verursacht wahr zu nehmen. In dieser Übernahme von Verantwortung konstituiert sich, nach Hahn, Sinn im menschlichen Leben (vgl. 1983, S. 132). Deshalb ist die ‚selbst wahrnehmbare Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz’ an erlebte eigene Freiheit und Verantwortung gebunden.

Menschliches Sein, so proklamiert Hahn, ist durch das Streben nach größtmöglicher Freiheit gekennzeichnet. Anderseits relativiert er sein Freiheitspostulat indem er es an ‚angemessene’ Verantwortlichkeit bindet.

„Wohlbefinden kommt zustande, wenn zur autonomen Bedürfnisbefriedigung der eigenen Verantwortlichkeit angemessene Freiheitsräume zu Verfügung stehen und ausgefüllt werden können -...“ (Hahn 1999, S. 23).

Hahn (1994a) betont die perspektivische Sicht, indem er darauf verweist, dass der Erwerb von Verantwortlichkeit nur durch praktizierte Selbstbestimmung möglich ist (vgl. S. 85).

5.2.4 Selbstbestimmung und die Anderen

In der Selbstbestimmungsdebatte wird die Position, wie sie etwa Hahn vertritt, kritisiert mit dem Verweis, eine solche Position sehe den Menschen viel zu ‚individualistisch’ (vgl. Lindmeier 1999). Dies verwundert

1 Der Begriff Mittelposition ist gemeint bezüglich der Pole keine bzw. volle Verantwortung,

insofern, da es für Hahn außer Frage steht, dass der Mensch als soziales Wesen selbstverständlich auf andere Menschen angewiesen ist1. Er verdeutlicht den Wert ‚bedürfnisbefriedigender’ Abhängigkeiten. Dennoch argumentiert er zuweilen eventuell missverständlich, wenn er schreibt:

„Identität, ein sinnerfülltes menschliches Leben, menschliches Glück, sind an die Balance zwischen einem Maximum an Unabhängigkeit (Freiheit), das der eigenen Verantwortung angemessen ist, und einem Minimum an bedürfnisbefriedigender Abhängigkeit gebunden.“

(Hahn 1983, S. 133).

Dies könnte den Anschein erwecken, als ob per se Unabhängigkeit idealisiert würde. Dagegen steht Hahns sonstiges Verständnis, dass erstens der Mensch ein soziales Wesen ist mit all den daraus resultierenden Umständen und zweitens es ihm darum geht die behinderungsbedingten Abhängigkeiten zu reduzieren (vgl. Hahn 1999, S. 14). Zum Verhältnis von Abhängigkeit und Unabhängigkeit verweist Hahn auf die Notwendigkeit, Abhängigkeitsverhältnisse einzugehen und Fremdbestimmung zuzulassen. Sie sind solange tolerabel, solange sie die eigenen Bedürfnisse befriedigen.

Hahn nennt auch für diesen Punkt das Wohlbefinden als Maßstab und fasst zusammen:

"... Zustände menschlichen Wohlbefindens gründen auf einem Ausgewogensein - im Sinne einer oszillierenden Balance - zwischen größtmöglicher verantwortbarer Unabhängigkeit und bedürfnisbezogener Abhängigkeit" (Hahn 1994a, S. 86).

Er verweist auf die Bedeutung der Kommunikation für die Umsetzung von Selbstbestimmung. Dabei verdeutlicht er immer wieder die erschwerten Kommunikationsmöglichkeiten von Menschen mit schwerer (geistiger) Behinderung. Sie sind in ihren Ausdrucksmöglichkeiten häufig so eingeschränkt, dass eine humane Interaktion ernsthaft gefährdet ist. Hahn

1 Diesbezüglich sei Thimm erwähnt: Thimm kritisiert eine einseitige Überbetonung der Selbstbestimmungsidee und unterstützt gleichzeitig die Position von Hahn zum Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung (vgl. Thimm 1997, S. 224).

erwähnt drei Szenarien: Einmal kann die Interpretation so erschwert sein, dass es zu Fehlinterpretationen kommt. Auch kommt es vor, dass die Betreuer in ihren Interpretationen nicht mehr die einzelne Person mit ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen sehen, sondern nur noch das Störverhalten. Noch schlimmer ist eine vollständige Aufgabe jeglicher Interpretationen und das Abschieben als ‚Pflegefall’. Die Artikulationen von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung lassen sich nur im Sinne von Vermutungen richtig interpretieren. Durch eine längerfristige Beobachtung ist es, so Hahn, möglich zu überprüfen, ob die Vermutungen richtig waren (vgl. Hahn 1983).

5.2.5 Selbstbestimmung und geistige Behinderung

Diese gerade beschriebenen allgemeinen Argumente für Selbstbestimmung bezieht Hahn nun auf Menschen mit geistiger Behinderung und fasst zusammen:

Um das Wohlbefinden von Menschen mit geistiger Behinderung zu gewährleisten, ist es notwendig, dass Menschen mit geistiger Behinderung eine ihrer Verantwortlichkeit angemessene Möglichkeit der Selbstbestimmung praktizieren können. Dem steht die Tatsache entgegen, dass für Menschen mit geistiger Behinderung ihre Behinderung häufig ein 'Mehr' an sozialer Abhängigkeit bedeutet.

Hahn vergleicht hier die ontogenetische Entwicklung von Abhängigkeit zwischen Menschen mit Behinderung und Menschen ohne geistiger Behinderung. Es ist deutlich, dass, abgesehen von Krankheitszeiten, Menschen ohne Behinderung wesentlich weniger abhängig sind. Die Kindheits- und Jugendjahre eines nichtbehinderten Menschen sind durch eine stete Zunahme seiner Selbstbestimmung gekennzeichnet. Dies ist zwar auch bei Menschen mit geistiger Behinderung so, doch ist diese Kurve wesentlich flacher und bleibt für die Erwachsenenzeit auf einem hohem Niveau von Abhängigkeit (vgl. 1994a, S. 87f). Hahn verdeutlicht,

dass für Menschen mit geistiger Behinderung dieses 'Mehr' an sozialer Abhängigkeit gleichzeitig ein 'Weniger' an selbständig realisierbarer Unabhängigkeit (Selbstbestimmung) bedeutet. Daraus zieht er nun die Konsequenz, dass, falls das Leben von Menschen mit geistiger Behinderung die genannten Qualitäten wie Identitätsbalance, Wohlbefinden usw. aufweisen soll, das soziale Umfeld, Selbstbestimmung trotz eigentlicher Abhängigkeit ermöglichen muss. In dieser Konklusion wird der gesellschaftliche Anspruch der Überlegungen von Hahn deutlich:

"Pflege und existenzsichernde äußere Versorgung genügen nicht"

(Hahn 1994a, S. 88).

Da unausgesprochen dieser Anspruch zumindest zur damaligen Zeit nicht realisiert wurde, sucht Hahn nach Gründen, warum das soziale Umfeld den Menschen mit geistiger Behinderung keine Selbstbestimmungs-möglichkeiten zugesteht.

Er nennt folgende:

Menschen mit geistiger Behinderung wird ihr Menschsein abgesprochen

nur die nackte Existenz wird abgesichert, aber keine Lebensqualität zugestanden

Unkenntnis über die Bedeutung von Selbstbestimmung Unkenntnis über die Möglichkeiten der Realisierung von Selbstbestimmung

Verkindlichung von erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung

Überversorgung

Institutionelle Vorgaben und Versorgungsstrukturen, bei der zeitaufwändig praktizierte Selbstbestimmung stört

Machtgefälle zwischen Helfer und Menschen mit geistiger Behinderung

Defizite der Helfer ('Helfersyndrom', 'Burn out') (vgl. Hahn 1994a, S. 88f).

5.2.6 Teufelskreis der Produktion von Abhängigkeit

Die Argumentation von Hahn lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Menschen mit geistiger Behinderung leben in einem ‚Mehr’ an sozialer Abhängigkeit. Dieses ‚Mehr’ an sozialer Abhängigkeit ist Ursache für kaum praktizierte Selbstbestimmung. Das Potential für Selbstbestimmung ist auch bei Menschen mit geistiger Behinderung vorhanden, bedarf aber der Unterstützung durch das Umfeld. Diese Unterstützung ist erschwert, etwa durch Unkenntnis, die Rahmenbedingungen, Machtmissbrauch und pathologische Formen des Helfens. Dies führt zu einer verstärkten Fremdbestimmung. Damit ist der Kreis geschlossen.

Skizze: Teufelskreis der Produktion von Abhängigkeit bei Menschen mit Behinderung (vgl. Hahn 1994a, S. 89 und Hahn 1983, S. 177-232).

‚Mehr’ an sozialer Abhängig keit

Wenig praktizierte

Selbstbestim-mung

Potential für Selbstbestim-mung vorhanden,

benötigt aber Unterstützung

Diese Unterstützung ist erschwert durch

negative Rahmenbedingungen,

Machtmissbrauch usw.

Dies führt zu verstärkter

Fremdbestim-mung