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Interpretation im Rahmen der Basalen Selbstbestimmung . 177

11.2 Frau (B)erger geht nach Hause

11.2.3 Interpretation im Rahmen der Basalen Selbstbestimmung . 177

Frau (B)erger entscheidet sich eines Tages, ohne dass es eine Aufforderung seitens der Lehrkräfte gegeben hat, selbständig von der Schule in ihre Wohngruppe zu laufen1. Welche Motive Frau (B)erger hier hatte, weiß sie nur selbst. Aus den vorhergehenden Zeugnissen lässt sich herauslesen, dass sie diese Handlungen selten aber hin und wieder schon früher vollzogen hatte. Diesem Akt des Selbstentscheidens folgt ein zweiter, indem sie in der folgenden Woche selbst entscheidet, ob sie dies noch einmal macht oder nicht. In der folgenden Woche geht sie zweimal selbständig nach Hause und zweimal entscheidet sie sich, nicht zu selbständig zu gehen2. Gerade diese Mittelposition zwischen Zufälligkeit und Routine verdeutlicht den Akt des (Selbst-)entscheidens.

Auch nachdem Frau (B)erger sich entschieden hat, loszugehen, ergeben sich viele Entscheidungsprozesse für sie. Es ist ihre Entscheidung, wohin sie geht, mit wem sie spricht, ob sie noch ein wenig stehen bleibt und dem Treiben der anderen Schüler zuschaut. Eine interessante Situation ist in einem Video festgehalten:

Frau (B)erger läuft zu ihrem Wohngruppenhaus und wird davor von einer älteren Frau mit Behinderung direkt angesprochen. In dieser Situation wirkt sie leicht verunsichert und dennoch schafft sie es, weiter auf ihre Wohngruppe zu gehen.

(Videomittschnitt)

Sie muss sich hier selbst entscheiden, wieder auf ihren alten (inneren) Weg zurückzukommen.

Der Aspekt des Selbstentscheidens innerhalb der Basalen Selbstbestimmung bekommt in diesem Beispiel noch eine zusätzliche

1 Dass ihr dies ermöglicht wurde, ist nicht selbstverständlich. Die Sicherheit der Schülerin musste selbstverständlich stets gewährleistet werden.

2 An einem Tag in der Woche war der Nachhauseweg aufgrund des Schwimmunterrichts anders.

Bedeutung. Die Entwicklung hin zum selbständigen Nachhausegehen ist keineswegs als das Durchlaufen eines von den Lehrkräften organisierten Lernprogramms zu verstehen. Vielmehr bestimmt Frau (B)erger in wichtigen Punkten selbst, wie und ob sie den ‚Lernweg’ durchschreitet:

Sie setzt den Impuls, wenn sie geht.

Sie entscheidet, ob sie geht oder nicht.

An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass sich das sich Selbstentscheiden keineswegs auf die Auswahl der vom Betreuer vorgegebenen Optionen reduzieren lässt. Von daher könnte die schlagwortartige These illustriert werden: Selbstbestimmung durch Selbstbestimmung. Komplexer formuliert heißt dies: Selbstbestimmung und der selbständige Nachhauseweg beinhaltet mehr Selbstbestimmung als der begleitete oder gar der mit Handführung vollzogene Nachhauseweg, lässt sich nicht nur als Ziel postulieren, vielmehr ist der Weg durch ein hohes Maß an selbstbestimmtem Verhalten gekennzeichnet. Wird diese These akzeptiert, hat dies zwei Konsequenzen:

Es ist dann notwendig, selbst kleinste Selbstbestimmungsimpulse zuzulassen.

Die in den USA existierenden ‚Selbstbestimmungsprogramme’

müssen zumindest diesbezüglich kritisch hinterfragt werden1.

Selbsttätigkeit:

Frau (B)erger blieb manchmal stehen und beobachtete bestimmte Dinge.

Aus der Entfernung hatte ich den Eindruck, Frau (B)erger würde danach innerlich Anlauf nehmen, um weiterzugehen. Sie wippte ein wenig hin und her und plötzlich ging sie weiter. Sie tat dies aus ihrem Impuls, niemand forderte sie dazu auf. So gesehen ermöglichte dieses Gehen ohne Begleitung Frau (B)erger, sich selbst für ein Weitergehen zu entscheiden.

1 Lindmeier und Lindmeier (2003, S. 119f) skizzieren den US-amerikanischen

Im Gegensatz zu Situationen, in denen sie direkt zu etwas aufgefordert wurde, bot diese indirekte Situation die Chance, stärker verinnerlichte Prozesse zu ermöglichen. Frau B(erger) wechselte zwischen Gehen und Stehen in ihrem Rhythmus.

Erfahren der eigenen Wirkung

Dieser Aspekt kann in der folgenden Szene markant illustriert werden:

Frau (B)erger steht vor der (elektrischen) Wohnhaustüre. Es scheint so, als ob sie warten würde, dass diese von selbst aufgeht, was auch ab und zu geschieht, wenn eine andere Person den Taster drückt. Nach einiger Zeit öffnet Frau (B)erger selbst die Tür. So hat sie die Chance, ihre eigene Wirkung zu erfahren. Das Besondere ist, dass sie diese Wirkung in verhältnismäßig großer Selbstbestimmung bzw. Autonomie erfährt.

Selbstverständlich könnte Frau (B)erger die Funktion des Türöffners auch unter der Anleitung der Lehrkräfte ‚lernen’. Hierbei würde Frau (B)erger aufgefordert, den Türöffner zu betätigen, damit die Tür sich öffnet. Unter dem Aspekt des Erfahrens der eigenen Wirkung ist dies aber nur die zweitbeste Lösung. Die Aufforderung durch eine Lehrkraft schwächt die Differenzierung zwischen Eigen- und Fremderfahrung. Der Vorteil der stärker selbstbestimmten Situation, wie sie oben beschrieben wurde, ist, dass Frau (B)erger den Effekt ihrer Handlungen auf sich zurückbeziehen kann.

11.2.4 Zusammenfassung

Eine junge Frau mit schwerer geistiger Behinderung lernt in einem ihrer letzten Schulbesuchsjahre alleine von der Schule in ihre nahe gelegene Wohngruppe zurückzukehren. Diese Veränderung, mag sie auch banal erscheinen, hat für Frau (B)erger eine Bedeutung, die sich am besten durch den Vergleich der Situationen davor und danach erschließen lässt.

Situation mit weniger Selbstbestimmung

Durch das ständige Begleiten bei Aktivitäten, wie etwa dem Heimgehen nach der Schule, ist die behinderte Person in Gefahr, dass die Abhängigkeit von den Lehrkräften immer stärker steigt. Besonders besteht die Gefahr, wenn eine deutliche Führung durch die Begleiter stattfindet.

So banale Vorkommnisse wie ein kurzes Stehenbleiben beim Treffen eines Kollegen kann der behinderten Person ihre Marginalität verdeutlichen. Werden gleichaltrige Menschen ohne Behinderung zum Vergleich genommen, wird die Einschränkung deutlicher. Es wäre ein Missverständnis, dies so zu interpretieren, dass der einzelne begleitete Gang problematisch wäre. Vielmehr denke ich, dass die Summe der vielen kleinen alltäglichen, von außen vorgegebenen Handlungen verstärkt (unnötig) abhängig macht.

Situation mit mehr Selbstbestimmung

Dadurch, dass Frau (B)erger nun selbständig nach Hause geht, ergeben sich für sie eine Vielzahl von Selbstbestimmungsmöglichkeiten. Sie kann in ihrem Tempo laufen, sie kann stehen bleiben und dem Treiben zuschauen, sie erfährt ihre Wirksamkeit, wenn sie die Türe aufmacht usw.

Neben der Freiheit dies zu tun, ist besonders die Entwicklung dorthin interessant. Diese Entwicklung fand nur statt, da Frau (B)erger einen großen eigenen Anteil an Initiative übernahm und ihre Impulse aufgenommen wurden.

Ohne Begleitung auf die Wohngruppe zu gehen, bedeutet für einen Menschen, der sonst wenig eigene Verantwortlichkeitsbereiche hat, eine große Verantwortung. Konkret ist Frau (B)erger nach der Verabschiedung im Schulhaus oder an der Schulhaustüre bis zum Eintreffen auf der Wohngruppe ganz für sich verantwortlich1.

1 Andererseits wurde Frau (B)erger selbstverständlich, ohne dass sie es bemerkte, permanent beaufsichtigt, wobei nur ein mittelbares Eingreifen möglich gewesen wäre.

Die Verantwortlichkeit von Wohngruppe und Schule wechselte beim Eintritt Frau