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Problematik des Begriffs ‚Geistige Behinderung’

3.1 Schwierigkeiten der Rahmenbegriffe ‚Behinderung’

3.1.2 Problematik des Begriffs ‚Geistige Behinderung’

Der Begriff ‚geistige’ Behinderung birgt zusätzlich zur Schwierigkeit des Behinderungsbegriffs eine weitere Problematik in sich. Während bei einer Sehbehinderung verständlich ist, dass das Sehen in irgend einer Weise

‚behindert’ ist, lässt sich eine geistige Behinderung nicht einfach als Behinderung des ‚Geistes’ beschreiben1. Auch bei einer Reduktion des Begriffes Geist auf Intellekt ist es in diesem Fall nicht unumstritten, ob dies wirklich dem Sachverhalt einer ‚geistigen’ Behinderung entspricht.

Eingang in die Sonderpädagogik2 fand der Begriff ‚geistige Behinderung’

Ende der fünziger Jahre durch die Elternvereinigung für das behinderte Kind (heute Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung). Der

1 Ganz abgesehen davon, dass der Begriff ‚Geist’ historisch ganz unterschiedliche Bedeutungen umfasst.

2 Es handelte sich genau genommen um die damalige Heilpädagogik. Die Begriffe Sonderpädagogik, Heilpädagogik, Behindertenpädagogik werden hier als Begriff einer

Gesundheitsproblem

Körperfunktionen und -strukturen

Aktivitäten Teilhabe

Umweltfaktoren Personenbezogene

Faktoren

Begriff ermöglichte, auf die stark stigmatisierenden Begriffe wie Blödsinn, Schwachsinn, Idiotie oder Imbezilität zu verzichten1.

Bach (1997) skizziert geistige Behinderung als umfassendes Wesensmerkmal. So charakterisiert er Menschen mit geistiger Behinderung u. a. durch das Vorherrschen des ‚anschauend-vollziehendenden Aufnehmens, Verarbeitens und Speicherns von Lerninhalten’. Zusätzlich beschreibt er eine Konzentration auf die direkte Bedürfnisbefriedigung, einhergehend mit einem Intelligenzquotienten unter 55. Auch der sprachliche, der emotionale und der motorische Bereich seien beeinträchtigt. Personen mit geistiger Behinderung bedürfen, so Bach, dauernder umfänglicher pädagogischer Maßnahmen (vgl. Bach 1979, S. 3ff).

Eine andere Sichtweise versucht, geistige Behinderung im Sinne einer Entwicklungsverzögerung zu fassen. Das heißt, es finden grundsätzlich die gleichen Entwicklungen wie bei Menschen ohne Behinderung statt, nur geschieht diese Entwicklung viel langsamer. Der US-amerikanische Begriff ‚Mental Retardation’ für geistige Behinderung2 legt fälschlicherweise nahe, dass ‚geistige Behinderung’ im Sinne von Entwicklungsverzögerung verstanden wird. Larson u.a. (2001) weisen auf die unterschiedlichen Definitionen von ‚Mental Retardation’ als Analogon zur deutschen ‚Geistigen Behinderung’ und ‚Developmental Disabilities’

als Analogon zur deutschen ‚Entwicklungsverzögerung’ hin.

Auch gab es immer wieder Versuche, Menschen mit geistiger Behinderung durch eine Besonderheit ihres Charakters zu beschreiben.

Thalhammer (nach Thesing 1999, S. 197f) versuchte, Menschen mit geistiger Behinderung durch ein ‚kognitives Anderssein’ zu fassen. Er

1 Dieser Prozess des offiziellen Entstigmatisierens ist nicht zu Ende. So veränderte etwa das hessische Kultusministerium aus schulorganisatorischer Sicht den Begriff ‚Personen mit Behinderung’ in ‚Personen mit sonderpädagogischem Förderbedarf’ um.

2 Der Begriff wird aber auch in den USA diskutiert. Smith u.a. 2001 kritisieren den Begriff Mental Retardation als diagnostischen Klassifikationsbegriff.

unterstellt Menschen mit geistiger Behinderung eine ‚elementare Sensibilität für die Echtheit menschlicher Beziehungen’. Geistige Behinderung wird so als eine Betonung der Gefühlsaspekte des menschlichen Lebens gefasst.

Feuser (1996) vertritt eine provokante radikale Position, als er einem Aufsatz den Titel gab: ‚Geistig Behinderte gibt es nicht’. Er verweist darauf, dass geistige Behinderung nur durch einen phänomenologischen Klassifikationsprozess hervorgebracht wird.

Aus medizinisch-psychiatrischer Perspektive wird eine verminderte Intelligenz im Sinne der Einschränkung der kognitiven Leistungen als Leitkriterium für ‚geistige’ Behinderung verstanden.

Jede dieser Sichtweisen hat meines Erachtens ihre Problematik. Weder umfasst die geistige Behinderung den ganzen Menschen1, noch hat jeder Mensch mit geistiger Behinderung eine besondere emotionale Sensibilität.

Auch die These der Entwicklungsverzögerung trifft insofern nicht zu, als die Entwicklung einzelner Bereiche nicht synchron verläuft2. Menschen mit geistiger Behinderung sind keineswegs ewige Kinder. Feusers Argumentation, dass Begriffe im konstruktivistischen Sinne erzeugt werden, ist sicherlich interessant. Sie trägt insofern nicht zur Klärung bei, da so gesehen keine Begriffe mehr beschrieben werden können, was angesichts der betroffenen Personen keine pragmatische Reichweite besitzt.

1 Gerade die Leistungen von Menschen mit geistiger Behinderung im Bereich Kunst zeugen von den unerwarteten Kompetenzen dieser Menschen.

2 Larson u.a. (2001) beschreiben die unterschiedlichen Definitionen in den USA. Sie verweisen auf die Sichtweise der American Association on Mental Retardation (AAMR), die ‚geistige Behinderung’ als das Auftreten deutlich unterdurchschnittlicher intellektueller Fähigkeit, gepaart mit Einschränkungen in praktischen Bereichen, wie etwa Wohnen oder

Am sinnvollsten erscheint mir die Position der Bundesvereinigung Lebenshilfe. Sie fasst unter der Rubrik 'Was bedeutet geistige Behinderung' kurz und bündig folgendes zusammen:

"Geistige Behinderung ist keine Krankheit. Sie bedeutet vor allem eine Beeinträchtigung der intellektuellen Fähigkeiten eines Menschen, nicht aber seiner sonstigen Wesenszüge, wie z.B. der Fähigkeit, Freude zu empfinden oder sich wohl zu fühlen. Geistig behinderte Menschen benötigen oft viel Hilfe und Unterstützung.

Durch spezielle Förderung und Begleitung können viele geistig behinderte Menschen lernen, ein Leben zu führen, das ihren Bedürfnissen gerecht wird und das dem von Menschen ohne Behinderung weitgehend gleicht" (Lebenshilfe.de vom 10.2.1999).

Den Vorteil dieser Beschreibung sehe ich darin, dass Menschen mit geistiger Behinderung die gleichen Bedürfnisse und, außer den intellektuellen, alle sonstigen Fähigkeiten im Grundsatz zugesprochen werden wie Menschen ohne geistiger Behinderung.

Dennoch ist der Begriff 'geistige Behinderung' bzw. ‚Menschen mit geistiger Behinderung’ nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich seiner Legitimität umstritten (vgl. Speck 1999, S. 38 ff; Fornefeld 2000, S. 44ff) 1.

Aus dieser Unsicherheit heraus eine Definition zu finden für das, was dann später als ‚geistige Behinderung’ bezeichnet werden soll, stellt Speck (1997) die Frage, ob eine Definition überhaupt nötig sei. Er kommt zu dem Schluss:

"Wir belasten uns also nicht mit dem Vorhaben 'endlich' eine klare Definition für das abzugeben, was geistige Behinderung sei , also alle bisherige Vagheit durch ein sprachliches Konzentrat zu beseitigen, sondern versuchen im Sinne einer möglichst sinngerechten praktischen Umsetzung möglichst komplexe und zugleich differenzierte Aussagen über das zu machen, was für diejenige Gruppe von Menschen in ihrer sozialen Situation und bei der pädagogischen Verwirklichung von Menschlichkeit Relevanz zu

1 Einige Autoren versuchen diese Spannung dadurch aufzulösen, indem sie ‚geistige Behinderung’ durch eine Aufzählung verschiedener wissenschaftlicher Perspektiven (Medizin, Psychologie, Soziologie, Epidemiologie, Pädagogik) umschreiben (etwa Speck 1999, Fornefeld 2000).

beanspruchen hat, für deren oberflächliche Kennzeichnung sich die Chiffre 'geistig behindert' eingebürgert hat“ (Speck 1997, S. 42).