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Zellstress während der Fermentation

5.7 Diskussion und Fazit

6.1.1 Zellstress während der Fermentation

Hydromechanische Beanspruchung gilt als eine entscheidende Einflussgröße für mehrphasige Pro-zesse im Bereich der Bioverfahrenstechnik. In produktionstechnischen Fermentationen sind viel-fach Rühr- bzw. Mischungsprozesse nötig, um eine ausreichende Sauerstoffversorgung der wach-senden Organismen zu gewährleisten, Masse- und Wärmezufuhr zu unterstützen und die Brühe zu homogenisieren. Die während der Zellkultur in Bioreaktoren entstehenden hydrodynamischen Bedingungen können sowohl die Morphologie [70], den Zellstoffwechsel [153], als auch die Pro-duktionskapazitäten entscheidend beeinflussen [151, 69].

Während des Fermentationsprozesses in Flüssigkultur erfahren Pilzbestandteile verschiedene Arten mechanischer Belastung, darunter insbesondere Prall- und Scherkräfte. Erstere resultieren aus Dichteunterschieden zwischen der Flüssigkeit und den Partikeln bzw. dem Kontaktstress, der zwischen Einzelpartikeln, Partikeln und Rührer oder zwischen Partikeln und der Reaktorwand auftritt [63, 62]. Ist der Dichteunterschied zu vernachlässigen, dominieren die Scherkräfte. Das bedeutet, dass die Partikelbelastung hauptsächlich das Ergebnis der Relativgeschwindigkeit zwi-schen den Partikeln und der sie umgebenden Flüssigkeit ist. Hohe Scherkräfte können gerade bei scher-sensitiven Zellen zu morphologischen Veränderungen wie Bruch oder Lyse führen. Da sich die Dichte von Pilzmyzelien nur sehr geringfügig von der Dichte des sie umgebenden Mediums unterscheidet, folgen Pilzbestandteile in gerührten Medien vor allem den Stromlinien der Flüs-sigkeit. Kelly et al. [70] schlussfolgern daraus, dass die Interaktion vonA. niger-Pellets mit Fluid-Wirbeln die Hauptursache für die Fragmentierung in Rührprozessen darstellt. Örtliche Schergra-dienten werden in Rührreaktoren mit erhöhter Bruchwahrscheinlichkeit von Partikeln in Verbin-dung gebracht [94]. Als für die Pilzkultivierung besonders relevante Beanspruchungsart soll daher der Einfluss von Scherkäften auf das Wachstum vonA. nigerin dieser Arbeit untersucht werden.

Die Quantifizierung der Scherkräfte, die auf einzelne Hyphen während realer Reaktorkultivie-rungen wirken, ist aus verschiedenen Gründen herausfordernd. Bioreaktoren sind komplex ge-formte Behälter, die sich durch bewegliche Bauteile (z. B. Rührer), Strömungsbrecher und Totzonen auszeichnen, d. h., in denen hochdynamische Geschwindigkeitsfelder wirken. Fermentationsbrü-hen filamentöser Organismen sind zudem heterogene Mehrphasengemische, die lokale Akkumula-tionen von Biomasse, hohe Viskositäten und nicht-newtonsches Fließverhalten aufweisen können.

Der Reaktorfahrweise inhärent lassen sich, darüber hinaus, einzelne Beanspruchungsarten wäh-rend Reaktorläufen kaum isoliert quantifizieren. Laut Henzler [62] wird die Belastung auf Partikel

6.1 Stand der Forschung

nur als ein integrales Ergebnis eines langfristigen Prozesses – d. h. der Fermentation – deutlich.

Klassischerweise werden daher ebenfalls integrale Größen wie die globale Scherrate, die Rühr-erdrehzahl, der Leistungseintrag, die Rate der Energiedissipation oder andere Ersatzgrößen zur Quantifizierung der Durchmischung herangezogen [151, 103, 45, 78, 70]. Die Diskrepanz zwischen dem prinzipiellen Wissen um die Arten der auftretenden Kollisionsereignisse auf Partikelebene und den herangezogenen, integralen Rechengrößen zur Quantifizierung erscheint entsprechend groß.

Durch fluiddynamische Simulationen sind Aussagen über die Strömungsfelder – und damit über Regionen erhöhter Scherbelastung – innerhalb von Reaktoren möglich. Die Ausweisung von Zonen maximaler bzw. minimaler mittlerer Scherbelastungen im Reaktor ist jedoch nur bedingt geeignet, um die physikalischen Belastungen auf Einzelpartikel zu beschreiben, da sich Partikel auf zufäl-ligen Trajektorien durch den Reaktor bewegen. Es erscheint plausibel, dass sich die tatsächliche Belastung eines Partikels aus seiner Aufenthaltszeit in scherreichen bzw. -armen Zonen ergibt. In aktuellen Forschungen werden Partikel beispielsweise als masselose Teilchen innerhalb der Scher-umgebung simuliert und ihre Verweilzeithistorie aufgezeichnet [89]. Die Belastungshistorie zweier Einzelpartikel ist in Abbildung 6.1 für vier unterschiedliche Rührerdrehzahlen exemplarisch aufge-tragen. Durch ausreichend viele Reaktorsimulationen kann die mittlere Belastung eines Partikels innerhalb der Kulturbrühe über die Laufzeit einer Fermentation vorhergesagt werden. Weitestge-hend unklar bleibt dabei allerdings, wie der Einzelpartikel – d. h. in Fermentationen das individuelle Pilzmyzel – auf den Belastungsreiz reagiert. Damit ist zwar prinzipiell die Belastungshistorie über Simulationen vorhersagbar, die Reaktorkultivierung erlaubt allerdings keine isolierte Beobachtung von Einzelhyphen oder -myzelien. Die Simulationsergebnisse sind zudem nicht einfach auf andere Reaktortypen oder -geometrien übertragbar.

Aus diesem Grund wurden experimentelle Ersatzsysteme entwickelt, mit denen die Belastun-gen durch Scherkräfte – isoliert von der Gesamtheit und Vielfalt der möglichen KraftwirkunBelastun-gen im Reaktor – im kleinen Maßstab für Einzelzellen nachgestellt werden konnte. Als weitverbrei-tetes Modellsystem für Scherbelastung hat sich die parallele Platten-Strömungskammer (Abk.:

PPFC, engl. Akronym: parallel plate flow chamber) in vielen Bereichen der Lebenswissenschaf-ten etabliert [5, 6, 130, 108]. In einer PPFC durchströmt Nährmedium den Zwischenraum zweier Parallelplatten und überströmt hierbei die auf der unteren Plattenoberfläche fixierten Zellen.

Durch den üblicherweise laminaren Charakter der Strömung ergeben sich parallele Stromlinien.

In der Nähe zur Oberfläche kommt es zur Ausbildung einer Wandgrenzschicht, in welcher die Fluidgeschwindigkeit zur unbeweglichen Wand abfällt. Die aus diesem Gradienten resultierende Wandschubspannung ist in der PPFC weitestgehend homogen verteilt, was wiederum auf die Laminarität der Strömung in einem flachen Kanal zurückzuführen ist [6]. Durch die Montage der PPFC auf einem Mikroskop kann das Wachstum von Mikroorganimen über die Zeit erfasst und anschließend bildanalytisch ausgewertet werden. Der praktische Erfolg der PPFC ist laut Brown [22] auf die Homogenität des Belastungsreizes, die Einfachheit der Ausrüstung, die Leichtigkeit der Probenahme, die Austauschbarkeit des Mediums und den leichten Zugang zur Probenkultur zurückzuführen. Die Eignung einer PPFC als Reaktormodellsystem gilt jedoch als gering, da die turbulenten Strömungsphänomene im Reaktor nicht durch laminare Ersatzsysteme abgebildet werden können [62].

lokalerScherstressproPartikel/Pa

Zeit / s

Partikel 1 Partikel 2 100rad/min

200rad/min

300rad/min

400rad/min 60

60

60

60 40

40

40

40 20

20

20

20 0

0

0

0

12 14 16 18 20 22 24

Abbildung 6.1: Belastungshistorie über die lokal erfahrenen Scherkräfte zweier zufällig ausge-wählter Partikel bei unterschiedlichen Rührerdrehzahlen (𝑁rot =100,200,300,400rad/min) in einem 5 L-Reaktor. Übersetzte Abbildung aus Liu et al. [89].

Es erscheint naheliegend, die Idee der PPFC aufzugreifen und diesen Kammertyp so weiterzu-entwickeln, dass ebenfalls zeit- bzw. ortsvariable Scherbelastungen eingestellt werden können. Der in dieser Arbeit verfolgte Ansatz ergänzt die PPFC um eine rückwärts-gewandte Stufe, um Verwir-belungen im Stufennachlauf zu induzieren. Um die rückwärts-gewandte Stufe geht es im folgenden Abschnitt. Die Gesamtheit von PPFC und rückwärts-gewandte Stufe wird in dieser Arbeit als „spe-zielle Wachstumskammer” bzw. als „Stufenkammer” bezeichnet.

6.1 Stand der Forschung