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Zäsuren oder Kontinuitäten?

Im Dokument Studien des Georg-Eckert-Instituts (Seite 31-35)

Wer sich mit den sogenannten »Vorreformatoren«, also etwa mit John Wyclif, Jan Hus und Hieronymus von Prag62auseinandersetzt, wird feststellen, dass vieles von dem, was Martin Luther u. a. mehr als ein Jahrhundert später im Bereich der Kirchen- und Klerusreform theologisch und kirchenpolitisch eingefordert hat, längst auf der Reformagenda der Kirche stand,63und zwar seit 1378, als erstmals die Einheit der abendländischen Kirche an ihrer Spitze zerbrach. Das Große Abendländische Schisma (1378–1417) kann als die größte institutionelle Krise der Kirche vor Ausbruch der Reformation im frühen 16. Jahrhundert bezeichnet werden. Der Kirchenhistoriker Karl August Fink ging sogar so weit zu behaupten, dass Rom durch seine Hinderung konziliarer Arbeit die Reform vereitelt und sich damit die Reformation eingehandelt habe.64

Man sprach von einerreformatio in capite et membris, einer Reformation an Haupt und Gliedern. Die Reformation des 16. Jahrhunderts ist mithin nicht 61 Reinhard,Reformation 1517/2017, 299. Vgl. Schilling,Martin Luther, 16; ders.,Martin Luther

1517/2017, X.

62 Zu Hieronymus, der in der Geschichte des mittelalterlichen Christentums lange übersehen wurde, jetzt Thomas A. Fudge,Jerome of Prague and the Foundations of the Hussite Move-ment, New York: Oxford University Press, 2016, 1, 28.

63 Zum Verhältnis von Jan Hus und Martin Luther vgl. Thomas Kaufmann, »Jan Hus und die frühe Reformation«, in: Martin Kessler und Martin Wallraff (Hg.),Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien. Aus Anlass der Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend, Basel: Schwabe, 2008, 62–109. Siehe auch Schnabel-Schüle,Die Reformation, 48–55.

64 Karl August Fink, »Das abendländische Schisma und die Konzilien«, in: Hans-Georg Beck u. a., Vom kirchlichen Hochmittelalter bis zum Vorabend der Reformation, Freiburg im Breisgau u. a.: Herder, 2. Auflage 1973, 490–515, 539–588, hier 588: »Rom hat die Reform verhindert und dafür wenig später die Reformation erhalten.« Siehe hierzu auch Heribert Müller,Die kirchliche Krise des Spätmittelalters. Schisma, Konziliarismus und Konzilien, (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 90), München: Oldenbourg Verlag, 2012, 120; ders.,

»Ein Weg aus der Krise der spätmittelalterlichen Kirche: Reform und Erneuerung durch die Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449)?«, in:Zeitschrift für Kirchen-geschichte126 (2015), 197–223, 197f. mit Anm. 2, 219, und Hubert Wolf,Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte, Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 2015, 86f.

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grundlegend neu, sondern nur zu verstehen als Fortsetzung der kirchlichen und weltlichen Politik des 15. Jahrhunderts.65Die lutherische Reformbewegung er-scheint als »Fortsetzung der Kirchenreformen des 15. Jahrhunderts«66und des

»Reformbiblizismus«.67Diesola scriptura-Theologie Luthers ist ohne die »bi-blischen Zentrierungsbewegungen« seit Wyclif und Hus jedenfalls nicht zu ver-stehen.68Man muss also nicht nur mit angeblichen Zäsuren, die ja für Diskon-tinuität in der Geschichte stehen, sondern auch mit nachträglich konstruierten Kontinuitäten vorsichtig umgehen.

Es gibt keine gerade Linie von Wyclif über Hus zu Luther, aber es gibt durchaus Zusammenhänge. Diese sind allerdings historisch differenziert zu se-hen.69Man kann eine historische Person nicht auf ihr Vorläufertum reduzieren.

Das geht schon deshalb nicht, weil der »Vorläufer« von seinem »Nachfolger«

nichts wusste. Eine solche Konstruktion ist nur aus der Rückschau und nur aus hermeneutisch-didaktischen Gründen sinnvoll: Luther konnte von Wyclif und Hus, aber Wyclif nicht von Hus und Hus nicht von Luther wissen. Hinzu kommt:

Die mittelalterliche christliche Kirche ist voller Reformer oder Reformatoren.

Das gilt ebenso für das abendländische Mönchtum (»monasterium semper re-formandum«).

Alle diese Reformatoren sind als eigenständige Persönlichkeiten zu werten und auch entsprechend zu unterrichten.70Das hat Thomas A. Fudge in seinen Publikationen zu Jan Hus und Hieronymus von Prag auf beeindruckende Weise gezeigt.71Sowohl Hus als auch Luther waren Menschen ihrer Zeit. Von diesem historischen Hintergrund darf nicht abstrahiert werden, will man die jeweiligen Persönlichkeiten und ihre Intentionen verstehen. Es ist mithin problematisch, von »Vorreformation« und »Vorreformatoren« zu sprechen, weil Geschichte damit verkürzt und nachträglich teleologisiert wird.72

Der australische Reformationshistoriker Robert W. Scribner hatte sich bereits 1986 die Frage gestellt, wie man dieser Form der verkürzenden Geschichtsbe-65 Vgl. Schnabel-Schüle,Die Reformation, 10 und Palmer Wandel,The Reformation, 150.

66 Dürr,Seit 1517, 18.

67 Hamm, »Abschied vom Epochendenken«, 398.

68 Ebd.

69 Hierzu Schäufele, »›Vorreformation‹und›erste Reformation‹«, 213, 216 u. ö. und Jussen und Koslofsky,»Kulturelle Reformation« und der Blick auf die Sinnformationen, 24.

70 Scribner und Dixon,The German Reformation, 9.

71 Vgl. Fudge,Jan Hussowie ders.,Jerome of Prague.

72 Vgl. Carl Ullmann,Reformatoren vor der Reformation, vornehmlich in Deutschland und den Niederlanden, Bde. 1–2, Hamburg: Perthes, 1841–1842. Zum Problem Scribner und Dixon, The German Reformation, 2; Hartmut Boockmann, »Das 15. Jahrhundert und die Refor-mation,« in: Hartmut Boockmann (Hg.),Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts, Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 1994, 9–25, 11–13;

Hamm, »Abschied vom Epochendenken«, 389 und Schäufele, »›Vorreformation‹und›erste Reformation‹«, 213, 229f.

trachtung entgehen und zugleich der »pre-reformation religion« gerecht werden kann.73Seine Antwort lautet: »One important way is to set aside any kind of teleological perspective, to refuse to read history backwards with the view that the outcome of the religious upheavals of the sixteenth century was inevitable, or that what was successful was somehow better than that which failed«.74Eine Ge-schichtsschreibung, die einem teleologischen Muster folgt, tendiert zur »Er-folgsgeschichte«, die nicht das Ziel kritischer Geschichtsbetrachtung sein kann.

»Vorreformation«

Reform und Reformation sind–das sollte im historischen Unterricht an Schule und Hochschule verdeutlicht werden–Grundthemen, die die Kirche durch ihre gesamte Geschichte begleiten. Das gilt für das Früh-, das Hoch- und das Spät-mittelalter. Wer hier Unterscheidungen in dem Sinne treffen will, dass er Ursache und Wirkung trennen möchte, muss der Kirchengeschichte eine überzeitliche Teleologie oder Entelechie unterstellen, die sie, historisch betrachtet, nicht hat, sich also immer als retrospektives Konstrukt erweisen wird. Fest steht, dass der Kirche und ihrer Geschichte der Reformgedanke von Hause aus inhärent ist (»ecclesia semper reformanda«). Reform ist ein Wesensmerkmal der Kirche, und zwar seit ihren Anfängen.75Es wäre deshalb falsch, der Reformation, die ja primär und originär auf eine Kirchenreform setzte, zunächst eine grundsätzlich andere Intention zu unterstellen, als den Weg zurück (nicht nach vorne) zu den Ur-sprüngen zu gehen.

Natürlich hat die erst nachträglich terminologisch so bezeichnete »Reforma-tion«heuteeinen anderen Stellenwert als die vorangehende Kirchenreform, die sich ebenfalls als reformatio verstand, aber der veränderte Stellenwert ist im Wesentlichen ein Produkt der Nachreformationszeit. Er hat auch mit dem Sys-tembruch zu tun, den Luther mit der Papstkirche spätestens mit der Verbren-nung der Bannandrohungsbulle am 10. Dezember 1520 vollzog, der aber so nicht intendiert, dessen Wirkung also zu Beginn der Reformation noch nicht abzu-sehen war. Zunächst knüpfte Luther, wie aus seiner Adelsschrift von 1520 deutlich hervorgeht,76an die ältere Reformtradition an. Das heißt nicht, dass die spätmittelalterliche Kirchenreform die Reformation nicht vorbereitet hätte. Aber 73 Schnabel-Schüle,Die Reformation, 48, spricht im Blick auf Wyclif, Hus und Nikolaus von

Kues von »Reformation vor der Reformation«.

74 Scribner und Dixon,The German Reformation, 2, 9.

75 Vgl. Wolf,Krypta, 15–21.

76 Vgl. Thomas Kaufmann,An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, (Kommentare zu Schriften Luthers, Bd. 3), Tübingen: Mohr Siebeck, 2014.

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das ist die retrospektive Sicht, die wir den Zeitgenossen nicht unterschieben dürfen.

Natürlich haben Petrus Waldes, John Wyclif und Jan Hus –im Rückblick betrachtet–Gedanken der Reformation vorweggenommen.77Natürlich hat der (letztlich gescheiterte) Konziliarismus mit dem Gedanken der Konzilssuperio-rität, wie er zu Konstanz (1414–1418) und zu Basel (1431–1449) gepflegt wurde, zum Reformstau der Papstkirche nicht unerheblich beigetragen. Natürlich hat Luther im Zuge der Leipziger Disputation 1519 auf Hus’Lehre und das Con-stantiense zurückgegriffen. Luther hat den Zusammenhang in einem Brief an Georg Spalatin selbst betont: »Ich habe bis jetzt nichtsahnend alle Lehren des Jan Hus gelehrt und vertreten.«78Was ich damit sagen will, ist: »Luther was not as unique as subsequent church history has made him out to be.«79

Es gibt in der Geschichte unbestreitbar Zusammenhänge und Kontinuitäten.

Diese herauszuarbeiten und zu würdigen, macht den Reiz der Beschäftigung mit Geschichte aus. Aber es ist nicht die einzig zulässige Perspektive auf Geschichte.

Vergangenheit ist immer mehr als ihre nachvollziehbare, aber problematische Verkürzung aus der Perspektive der aktuellen Gegenwart. Das macht etwa Pavel Soukup deutlich, wenn er es, wie bereits betont, ablehnt, Jan Hus zum Vorläufer Luthers zu stilisieren, sondern als Exponenten einer (ersten) erfolgreichen Re-formation sieht.80Insofern ist die Rede von »Vorreformation« und »Vorrefor-matoren« problematisch, weil diese gelehrten Konstrukte theologisch-apologe-tischen Motiven entwachsen sind.81Die hussitische ist nicht nur ein Vorläufer der evangelischen Bewegung, »sondern eine kirchliche Bewegung eigenen Charak-ters, eigenen Rechts und eigener Würde«,82die entsprechende Aufmerksamkeit verdient.

77 Zu Füßen des 1868 zu Worms von Ernst Rietschel errichteten Lutherdenkmals sitzen Petrus Waldes, John Wyclif, Jan Hus und Girolamo Savonarola. Im Jahr 1617, zum Centenarium der Reformation, erschien in Holland ein Kupferstich, auf dem alle Reformatoren von Wyclif und Hus bis zu Luther und Calvin gemeinsam um einen Tisch sitzen. Vgl. Dorothea Wendebourg,

»Die Einheit der Reformation als historisches Problem«, in: Boockmann (Hg.),Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich, 225–240, 225f.

78 Soukup,Jan Hus, 210. Siehe auch Schilling,Martin Luther, 190 mit Anm. 17; Hamm, »Ab-schied vom Epochendenken«, 401 mit Anm. 114 und Schäufele, »›Vorreformation‹und›erste Reformation«, 217 mit Anm. 24.

79 Scribner und Scott,The German Reformation, 16.

80 Vgl. Soukup,Jan Hus, 11 und zum Konzept der »ersten« Reformation Schäufele, »›Vorre-formation‹und›erste Reformation‹«, 209–231.

81 Vgl. Hamm, »Abschied vom Epochendenken«, 389 und Schäufele, »›Vorreformation‹und

›erste Reformation‹«, 229.

82 Ebd., 210, 231.

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