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Beginn der Neuzeit oder Fortsetzung des Mittelalters?

Im Dokument Studien des Georg-Eckert-Instituts (Seite 38-42)

Die Rolle der Reformation im Entstehungsprozess der Moderne wird bis heute kontrovers diskutiert. Die »Neuzeit« hat bekanntlich das Mittelalter »erfunden«, um sich selbst als »neue Zeit« zu konstituieren. Die Reformation war in diesem Zusammenhang von großer Bedeutung. Sie wurde historiografisch als revolu-tionärer Bruch mit der mittelalterlichen Kirche inszeniert. Die Aufklärung und der Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts hatten die evangelische Kon-fession zum Vorläufer der modernen Welt stilisiert.99Die nationale Heldenrolle kam in diesem Zusammenhang Luther zu. Der Mythos vom Hammer schwin-genden Reformator spielte dabei eine wichtige Rolle. Er wird bis heute kolpor-tiert.100

Doch die Zeitgenossen der Reformation selbst sahen sich völlig anders. Es waren die Aufklärer und ihre Nachfahren, die ihre eigene vorwärtsgewandte Haltung auf die Reformationszeit zurückprojizierten und damit deren eigenes Selbstverständnis geradezu auf den Kopf stellten. Der Epochenbruch, wie ihn die Neuzeitmetaphorik indizierte, war von den Reformatoren nie intendiert.101Denn diese erwarteten nichts von der Geschichte, es sei denn ihr Ende. Man glaubte vielmehr, im eschatologischen Sinne in der letzten aller Zeiten und im letzten aller Reiche zu leben und stand unter dem Eindruck des nahenden Weltunter-gangs.102

Geplant war kein revolutionärer Neubeginn, sondern eine Rückkehr zu den Traditionen der alten, apostolischen Kirche. Man liegt also falsch, wenn man den Reformbegriff, wie er in dem Wort »reformatio« enthalten ist, neuzeitlich deutet.

Wer sich mit der Geschichte der religiösen Toleranz bzw. der Glaubens- und 98 Schnabel-Schüle,Die Reformation, 9.

99 Vgl. Chaix, »Die Reformation«, (Anm. 24) S. 13 und Schilling,Martin Luther, 613.

100 Im Rahmen des Lutherjubiläums 2017 wird es drei nationale Sonderausstellungen in Berlin, Wittenberg und auf der Wartburg geben. Sie werden unter dem Slogan »3xhammer.deDie volle Wucht der Reformation« beworben. Vgl. Ralph Bollmann, »Luther. Ein Sommer-märchen. Millionen Besucher, Milliarden Umsatz: Das Reformationsjubiläum wird ein großes Geschäft. Und jeder will dabei sein«, in:Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 28. August 2016, Nr. 34, S. 23.

101 Vgl. Burkhardt,Das Reformationsjahrhundert, 16.

102 Luther glaubte an die Vier-Reiche-Lehre und dachte eschatologisch. Vgl. Scribner und Dixon,The German Reformation, 15; Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert, 16, 78;

MacCulloch,Die Reformation, 714–721.

Gewissensfreiheit beschäftigt, wird ohnehin skeptisch sein, wenn mit der Re-formation oder mit Martin Luther der Beginn der Neuzeit angesetzt werden soll, wie dies in der älteren Forschung teilweise der Fall war.103 Das Zeitalter der Konfessionsbildung war im Gegenteil von einer strukturellen Intoleranz geprägt.

Alle Religionsfrieden der Epoche wurden mit dem Vorbehalt einer künftigen Wiederherstellung der Religionseinheit geschlossen.

Wann etwas Neues beginnt, hängt immer auch von der Perspektive ab, die man selbst einnimmt. Es ist falsch, die Vormoderne nur als Vorgeschichte der Mo-derne zu sehen und demgemäß nur ihr Modernitätspotential zu reflektieren. Die Reformation hat gewiss nicht unwesentlich zur Herausbildung des frühmoder-nen Staates beigetragen. Der Erfolg der Reformation ist nicht ohne die starken Territorien zu erklären (»landesherrliches Kirchenregiment«). Aber ihre ur-sprüngliche Absicht lag doch nicht in dieser Richtung, obwohl dieses Moment ganz erheblich zu ihrer machtpolitischen Durchsetzung beigetragen hat.104

Peter Marshall hat sein kleines Büchlein über die Reformation sogar mit dem Satz begonnen: »The Reformation created modern Europe, and left an indelible mark on the history of the world.«105Aber die nachfolgende Frage, ob die Re-formation für Fortschritt, Freiheit und Modernität oder doch eher für Konflikt, Teilung und Unterdrückung stehe, lässt er offen. Bernd Moeller hat die Refor-mation, worauf Volker Leppin hinwies, als »neues Mönchtum« interpretiert.106 C. Scott Dixon lässt das Ereignis selbst zwischen Mittelalter und Moderne changieren.107Für ihn erzählt die Reformation eine vieldeutige Geschichte, und zwar in dem Sinne, »that there is as much regress as progress, as much medieval as modern […]«.108

Max Weber sprach in seiner Analyse zum Verhältnis von Calvinismus und Kapitalismus von »innerweltlicher Askese«, um die Einstellung zur Welt vor

103 Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sieht das allerdings nach wie vor so.

Siehe etwa den anlässlich des Jubiläums veröffentlichten Text des Kirchenamtes der EKD, Rechtfertigung und Freiheit, wo es auf Seite 9 heißt, die Reformation habe »zur Ausbildung der modernen Grundrechte von Religions- und Gewissensfreiheit« beigetragen. Siehe hierzu aber Eike Wolgast, »Gewissenszwang bei Konfessionswandel? Staatliches Kirchenregiment und Untertanengehorsam in der Kurpfalz«, in: Werner Greiling u. a. (Hg.),Negative Impli-kationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620, Köln u. a.:

Böhlau Verlag, 2015, 223–253, 224; Schilling,Martin Luther, 621, 627–630; Dixon,Contesting the Reformation, 147f.; MacCulloch,Die Reformation, 865–871; Schnabel-Schüle,Die Re-formation, 13f., und Schnyder,Reformation, 10.

104 Vgl. Scribner und Dixon,The German Reformation, 34. Siehe auch Schilling,Martin Luther, 624–627.

105 Marshall,The Reformation, 1.

106 Vgl. Leppin,Die fremde Reformation, 189.

107 Vgl. Dixon,Contesting the Reformation, 4, 181–204. Siehe auch Mörke,Die Reformation, 82;

Schorn-Schütte,Die Reformation, 27, und Hamm, »Abschied vom Epochendenken«, 399.

108 Dixon,Contesting the Reformation, 4.

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allem des Calvinismus zu kennzeichnen. Er sah die Reformation–ähnlich wie der Religionssoziologe Ernst Troeltsch – mithin nicht als »Durchbruch der Moderne«.109Die religiöse Sondererfahrung, die bislang Mönchen und Nonnen vorbehalten war, sollte nun allen Christinnen und Christeninundnicht außer-halbder Welt zugänglich sein. Wolfgang Reinhard hat erst unlängst im Rahmen einer Tagung des Historischen Kollegs die These aufgestellt, dass nicht der Protestantismus die Moderne, sondern die Anläufe zur Moderne den Protes-tantismus hervorgebracht hätten.110Es hängt also von der Perspektive ab, wie

»modern« oder wie »mittelalterlich« die Reformation war.111

Lutherbilder

Nach dem Göttinger Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann war Martin Luther der erste »Medienstar« der Geschichte, der die Medienrevolution seiner Zeit kongenial zu nutzen wusste, zugleich aber auch von den »neuen Medien«, dem Druck mit beweglichen Lettern, benutzt wurde.112Das heißt, er war in gewisser Hinsicht auch das Opfer der Öffentlichkeit, die er selbst durch sein Leben und Wirken geschaffen hatte. Er war, wenn man das für die Frühe Neuzeit so sagen darf, in gewisser Hinsicht eine öffentliche Person und damit auch »ein Objekt polemischer Wertungen, fragwürdiger Inanspruchnahmen, interessegeleiteter Projektionen«.113

Wir haben es also, wenn wir uns heute mit Luther beschäftigen, mit historisch gewachsenen Bildern und Zeitschichten zu tun, die wir gewissermaßen archäo-logisch abtragen müssen, wenn wir zur historischen Gestalt vordringen wollen.114 Das gilt für sein Leben, aber auch für sein Werk. Methodische Schlüsselbegriffe, die in diesem Zusammenhang zur Dekonstruktion dessen führen, was Robert W.

Scribner als »Luther Myth« bezeichnet hat,115sind nach Heinz Schilling

»Kon-109 Vgl. Schilling,Martin Luther, 33, 350.

110 Vgl. Reinhard,Reformation 1517/2017, 300.

111 Jussen und Koslofsky,»Kulturelle Reformation« und der Blick auf die Sinnformationen, 25f.

votieren aus kulturwissenschaftlicher Sicht gegen einen »Systembruch«, der angeblich von der Reformation herbeigeführt worden sei.

112 Thomas Kaufmann,Martin Luther, München: Beck, 2006, 8. Siehe auch Schilling,Martin Luther, 212, 620; Leppin,Die fremde Reformation, 131.

113 Kaufmann,Martin Luther, 8. Siehe hierzu auch Schilling,Martin Luther 1517/2017, IX.

114 Ebd., X: »Die über fünf Jahrhunderte angehäuften Schichten sind abzutragen und gleichsam archäologisch zu analysieren, um das uns nur zu vertraute, in vielem aber verzerrte, nicht selten durch Mythen verstellte Bild von Luther, seiner Reformation und deren Weltwir-kungen zu dekonstruieren und durch eine wissenschaftlich fundierte Interpretation zu ersetzen«.

115 Robert W. Scribner, »Luther Myth: A popular historiography of the reformer«, in: ders.,

textualisierung« und »Verfremdung«.116 Nur so ließen sich Glaubens- und Denkstrukturen, die nicht mehr die unseren sind, angemessen verstehen.

Jonas Schirrmacher spricht diesbezüglich von einer »doppelten Historisie-rung«.117 Zum einen müssen wir das Andersartige der reformatorischen Ge-schichte herausarbeiten. Zum anderen–und das gilt insbesondere für Luther– die historische Person von ihrer nachträglichen Rezeption trennen. Es kommt in der Geschichte immer auf die Perspektive an, unter der wir einen Sachverhalt betrachten. Volker Reinhardt stellt Luther beispielsweise aus der Perspektive Roms, also der Papstkirche, dar,118Volker Leppin sucht in seinem Buch über die

»fremde Reformation« die spätmittelalterlich-mystischen Ursprünge Luthers deutlich zu machen. Das sind zwei legitime Perspektiven auf ein und dasselbe Ereignis, sie führen aber zu unterschiedlichen Ergebnissen.

Die Ansätze ließen sich multiplizieren. Jeder macht sich sein Bild von der Vergangenheit. Alle Bilder zusammen ergeben aber noch nicht die Wahrheit. Ein Geschichtsunterricht, der reflektiertes Geschichtsbewusstsein fördern und ent-wickeln will, müsste also zunächst einmal ins Bewusstsein heben, dass uns die zahlreichen Lutherbilder den Zugang zum historischen Luther eher verstellen als öffnen. Sie sind nicht selten Projektionen der Nachgeborenen und damit Teil der Luther-Rezeption und dokumentieren den Umgang mit Luther und seinem Werk in der Nach-Luther-Zeit. Das heißt nicht, dass diese Projektionen nicht selbst Gegenstand von Unterricht werden können, aber es muss klar sein, dass es sich um Projektionen handelt und Geschichte hier mithin zu einem bestimmten Zweck aufbereitet und funktionalisiert wird.

Im Falle Luthers geht es, wie Wolfgang Reinhard zeigt, nicht zuletzt darum, kritisch aufzuzeigen und zu reflektieren, »was wann wem als brauchbar erschien und erscheint«.119Dass Luther auf unterschiedliche Weise memorialisiert, he-roisiert und monumentalisiert wurde, hat die Berliner Kirchenhistorikerin Do-rothea Wendebourg am Beispiel der Lutherjubiläen von 1617 bis 2017 heraus-gearbeitet.120Dabei wird deutlich: Die Lutherbilder sind integraler Bestandteil

Popular Culture and popular movements in Reformation Germany, London u. a.: Hamble-don, 1987, 301–322.

116 Schilling,Martin Luther 1517/2017, IX.

117 Jonas Schirrmacher, »Der Reformator Martin Luther 2017eine wissenschaftliche und gedenkpolitische Bestandsaufnahme«, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsbe richte/id=5260, zuletzt geprüft am 05. Mai 2017.

118 Vgl. Volker Reinhardt,Luther der Ketzer. Rom und die Reformation, München: Beck, 2016, 9–16, bes. 15.

119 Reinhard,Reformation 1517/2017, 297.

120 Dorothea Wendebourg, »Vergangene Reformationsjubiläen. Ein Rückblick im Vorfeld von 2017«, in: Schilling (Hg.),Der Reformator Martin Luther 2017, 261–281. Siehe auch Schulin, Luther und die Reformation, 41–61.

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einer politisch motivierten Memorial- und Gedächtniskultur, die sich mit dem Reformationsjubiläum 2017 bis in unsere Zeit zieht.

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