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Reformation als Epochenwende in der Geschichtswissenschaft

Im Dokument Studien des Georg-Eckert-Instituts (Seite 77-85)

Mythos Reformation. Epochenwende im Licht der Dunkelheitsmetapher

2. Reformation als Epochenwende in der Geschichtswissenschaft

Die Reformatoren und viele ihrer Zeitgenossen wähnten sich in einer neuen Zeit, oder besser am »Ende aller Zeiten«. Zumindest –so hebt Thomas Kaufmann hervor –besaßen sie ein Bewusstsein davon, in einer Zeit des beschleunigten Wandels und des Umbruchs zu leben:fere novum saeculum.82Dieses Bewusstsein wurde von Gegnern wie Johannes Cochläus (1479–1552) geteilt, der 1549 eine erste Luther-Biografie vorlegte, die für lange Jahrhunderte das katholische Lutherbild prägte und dem Wittenberger Mönch attestierte, er habe ganz Deutschland in Unordnung und viele Tausende Menschen um ihr Seelenheil gebracht.83 Protestantischerseits konnte der Neuanfang geradezu heilsge-schichtlich überhöht werden, indem die Reformation eine lange Zeit des kirch-lichen Verfalls zum Stoppen gebracht und den Glauben auf seinen biblischen Ursprung zurückgeführt habe. Aufklärern wie Gotthold Ephraim Lessing (1729– 1781) und Salomon Semmler (1725–1791) »wurde die Reformation zur natürli-chen Entwicklungsstufe auf dem Weg zur Freiheit des Geistes und der Ver-nunft.«84Und für einen Idealisten wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–

1831) stand sie selbstverständlich am Beginn der neuen Zeit, weil er sie als

»Haupt-Revolution« in der Geschichte der menschlichen Kultur erachtete, da sie den Eigensinn respektive die Subjektivität als Prinzip der Weltaneignung her-vorgebracht habe.85

Ob in heilsgeschichtlicher oder ideengeschichtlicher Perspektive –ganz im Sinne der griechischen Bedeutung vonέποχήals eine Zeit des Stillstands und des Innehaltens, in dem Neues entstehen kann,86konnte die Reformation somit zum Symbol des Beginns einer neuen Zeit, der Neuzeit, werden.

Nimmt man den Epochenband von Immanuel Geiss’ (1931–2012) Über-blickswerk zur Hand, findet man den Abschnitt zur Reformation einigermaßen frappierend eingeleitet mit den Worten: »Der erste, sofort und nachhaltig das lateinische Europa berührende Vorgang der Neuzeit nach 1492/98 war die Re-formation (ab 1517).«87Allerdings: so recht zu überzeugen vermag das nicht.

Reformation wird nicht als Epoche, sondern als Ereignis beschrieben, das am

82 Kaufmann,Erlöste und Verdammte, 349–355, 352.

83 Zitiert nach ebd., 349f.

84 Chaix, »Die Reformation«, 13.

85 Georg Wilhelm Friedrich Hegel,Vorlesungen über diePhilosophie derGeschichte(Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970, 491–520, insb. 493f.

86 Vgl. Wolfgang Hasberg, »Lobbyismus oder Epochenverliebtheit? Epochen als kategoriale Größe in der Didaktik der Geschichte«, in:Zeitschrift für Geschichtsdidaktik7 (2008), 8–20.

87 Immanuel Geiss, Geschichte griffbereit, Bd. 6 [Epochen. Die universale Dimension der Weltgeschichte], München: Wissen Media Verlag, 3. Auflage 2002, 356.

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Beginn einer Epoche steht, die bis zur Französischen Revolution reicht. Vor-aussetzung für die Entstehung des neuen Europas als Träger dieser Epoche ist die europäische Expansion nach Übersee, die als eigentlicher Aufbruch in die Neuzeit veranschlagt wird.88Nicht 1517, 1492 ist mithin das Wendejahr, mit dem die Neuzeit eingeleitet wird.

Obwohl doch Leopold von Ranke (1795–1886) kurz vor der Mitte des 19.

Jahrhunderts für klare Verhältnisse gesorgt hatte, indem er die Reformation als eine eigenständige Epoche ausgewiesen hatte, die von 1517 bis 1555 gewährt habe, die er indes bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges ausdehnte, als er 1854 seine Vorstellungen dem bayerischen König Maximilian II. (1848–1864) darlegte.89Dabei hatte Johann Gustav Droysen (1808–1884) zwischenzeitlich den Begriff der »Gegenreformation« geprägt, mit dem bereits vor ihm die Maßnah-men der katholischen Kirche gegen die Ausbreitung des Protestantismus be-zeichnet worden waren.90Damit war ein Begriffspaar gebildet, das lange Zeit den Parameter für die epochale Einteilung der Frühen Neuzeit bildete.91Der katho-lische Kirchenhistoriker Hubert Jedin (1900–1980) war es, der nicht zuletzt auf der Basis seiner Studien zum Tridentinum den Begriff der »Gegenreformation«

durch den der »katholischen Reform« ersetzte,92mit dem nicht nur die kir-chenamtlichen Maßnahmen, sondern zugleich die von Laien initiierten Neue-rungen (bspw. Ignatius von Loyola) erfasst werden konnten. Zudem ließ er die katholischen Maßnahmen nicht ausschließlich als Reaktion auf die protestan-tischen Reformen erscheinen, sondern betonte die Kontinuität zu den Erneue-rungsbewegungen, die bereits die Phase des Konziliarismus bewegt hatten.93

88 Ebd., 338.

89 Leopold von Ranke,Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, 6 Bde., Berlin:

Dun-cker&Humblot, 1839–1847 und ders.,Über die Epochen der Neueren Geschichte.

Historisch-kritische Ausgabe, hg. v. Theodor Schieder und Helmut Berding, München/Wien: Oldenbourg Verlag, 1971, 311–327.

90 Johann Gustav Droysen,Geschichte der Gegenreformation, Berlin: Grote, 1893.

91 S. noch Heinrich Lutz,Reformation und Gegenreformation(Oldenbourg Grundriß der Ge-schichte 10), München: Oldenbourg Verlag, 5. Auflage 2002.

92 Hubert Jedin, »Die historischen Begriffe«, in: ders. (Hg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. IV:Reformation. Katholische Reform und Gegenreformation, Sonderausgabe Freiburg im Breisgau: Herder, 1999, 449f. (1. Aufl. ebd. 1967). Vgl. Erwin Iserloh, »Reformation ka-tholische ReformGegenreformation«, in: ders. (Hg.),Reformation und Gegenreformation in den Schulbüchern Westeuropas, (Schriftenreihe des internationalen Schulbuchinstituts, Bd. 20), Braunschweig: Limbach, 1974, 7–10.

93 Zum Konziliarismus s. Heribert Smolinsky, »Konziliarismus«, in:Lexikon für Theologie und Kirche 6, Sonderausg. der 3. durchgesh. Aufl., Freiburg/Basel/Wien 2009: Verlag Herder, 349–

351 und die historische Entwicklung zusammenfassend den Überblicksartikel von Jürgen Miethke, »Konziliarismus«, in: Karl-Heinz Braun u. a. (Hg.), Das Konstanzer Konzil. Essays.

1414–1418. Weltereignis des Mittelalters, Darmstadt: Theiss, 2013, 77–81. Zu Froschunsge-schichte s. Remigius Bäumer,Die Entwicklung des Konziliarismus. Werden und Nachwirken der konziliaren Idee, (WdF 279), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1976.

Anders als Immanuel Geiss hält das weit verbreitete Lehrbuch des Oldenbourg Verlags zur Frühen Neuzeit für den europäischen Raum an der Periodisierung von 1517 bis 1648 fest,94 obwohl die Herausgeberin sich der Schwierigkeiten bewusst zeigt, die mit jeder Periodisierung einhergehen. Zuförderst die Kriterien der Einteilung sind es, die erklärungsbedürftig sind, weil sie Bedeutungen zu-messen und Deutungen schaffen.95

Das ist auch der Gießener Kirchenhistorikerin Athina Lexutt nicht entgangen, die ihre Monografie zur Reformation mit dem Untertitel versehen hat: »Ein Ereignis macht Epoche.«96Ist also das Ereignis eine Epoche? In der ursprüngli-chen Bedeutung vonέποχήmacht das–wie bereits erläutert–durchaus Sinn. War die Reformation–auch wenn man sie sich schwerlich als Ereignis vorstellen kann –ein solcher Stillstand oder zumindest ein solches Innehalten, aus dem Neues hervorgegangen ist? Athina Lexutt plädiert für eine solche Sichtweise und will damit dem Begriff der »Konfessionalisierung« entgegentreten, der die Bedeut-samkeit der Ereignisse des frühen 16. Jahrhunderts nivelliere, indem er sie in einen längerfristigen Prozessverlauf eingliedere, der erst mit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu Ende gekommen sei. Dem hält die Kirchenhistorikerin entgegen, als das Reformatorische sei die Pauluslektüre eines Wittenberger Mönches auszumachen, dem nachhaltige Wirkung beschieden gewesen sei, so dass von der Reformation als Epoche gesprochen werden könne:

Die epochale Wirkung liegt darin, das menschliche Leben in theologischer Deutung als aus Beziehung und in Beziehung extistierendes entdeckt und aus Gottes unverdient gnädiger Zuwendung atmendes beschrieben zu haben, vom ersten Schrei bis zum letzten Seufzer, in allen Dimensionen, in seiner ganzen Vielfalt, in seinem Gelingen und in seinem Scheitern.97

Das kann man als Theologin so sehen, muss es aber nicht. So macht ein anderer Kirchenhistoriker, Volker Leppin, in seiner großen Luther-Biografie erneut darauf aufmerksam, dass eine genaue Quellenanalyse schwerlich die These von einem abrupten reformatorischen Durchbruch stützen kann, wie ihn Athina Lexutt suggeriert. Bekanntlich geht das sogenannte Turmerlebnis auf eine Selbstaussage Luthers aus dem Jahr 1545 zurück und erweist sich somit wohl als

94 Renate Dürr, »Seit 1517. Religion und Politik«, in: Anette Völker-Rasor (Hg.),Frühe Neuzeit (Oldenbourg Geschichte Lehrbuch), München: Oldenbourg 2000, 17–34.

95 Anette Völker-Rasor, »Zu diesem Buch«, in: dies. (Hg.),Frühe Neuzeit, 7f. zu den Schwie-rigkeiten, das Neue der Neuzeit zu beschreiben, s. auch Bea Lund,Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500–1800. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2009, 9–16.

96 Lexutt,Reformation, vgl. die Rezension von Wolfgang Hasberg, in:Das Historisch-Politische Buch57 (2009), 478f.

97 Ebd., 212.

eine dramatische Verdichtung der eigenen Biografie.98Das gilt auch für Luthers Bericht, wie er im Gespräch mit Johann von Staupitz (1465–1524) zu seinem neuen Bußverständnis gelangt sei.

Da für beide Ereignisse nur diese autobiografischen Rekonstruktionen vorliegen, die zeitgenössischen Quellen aber über plötzliche Durchbruchserfahrungen schweigen, liegt die Folgerung nahe, dass ein psychologisch greifbarer reformatorischer Durch-bruch nicht stattfand.99

Stattdessen ist von einem längerwierigen Prozess auszugehen, in dem sich die reformatorischen Einsichten gebildet haben, und sie wären wohl kaum in der Form gereift, wie sie in den Grundschriften von 1520 Ausdruck gefunden haben, ohne die äußeren Einflüsse, die vielfältig auf den Reformator einprasselten und die Traditionen, auf denen sein Denken basierte.100

Von daher ist es wenig überzeugend, der Lutherforschung zu folgen, wie sie die ältere Reformationsforschung dominierte.101Das bedeutet indes auch, die zeit-lichen Grenzen des Phänomens, das mit Reformation bezeichnet wird, deutlich über die biografischen Grenzen des Reformators hinauszuziehen. Dafür sprach sich nicht zuletzt der anglikanische Kirchenhistoriker Diarmaid MacCulloch aus, der ausgehend vom Begriff katholikos die gemeinsamen kulturellen Wurzeln aller Reformbestrebungen hervorhebt, die sich innerhalb wie außerhalb der rö-misch-katholischen Kirche im 16. und 17. Jahrhundert entfaltet haben. Zu diesen Reformen zählt er ausdrücklich neben den Reformversuchen des 15. Jahrhun-derts, die von den Jesuiten ausgegangenen Maßnahmen und die Beschlüsse des Tridentinums (1545–63), die früher unter der Sammelbezeichnung »Gegenre-formation« firmierten.102Damit wandelt er ganz auf den Spuren der Konfessio-nalisierungstheorie, die von Ernst Walter Zeeden (1916–2011) begründet, ins-besondere durch Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard ausgearbeitet und verbreitet wurde.103 Demnach ist das Zeitalter der Konfessionalisierung

98 Volker Leppin, »Reformatorische Erkenntnis. Ein reformatorischer Durchbruch?«, in: Danz (Hg.),Martin Luther, 27–38. Vgl. Leppin,Martin Luther. Vom Mönch zum Feind des Papstes, insb. 41–57.

99 Leppin, »Reformatorische Erkenntnis«, 35.

100 Vgl. dazu die Hinweise auf den Einfluss der Luther durch Johann von Staupitz vermittelten Mystik bei Leppin, Die fremde Reformation, der unmissverständlich darauf hinweist:

»Während Luther sich noch ganz innerhalb der Welt des spätmittelalterlichen geistlichen Austauschs bewegte, Seite an Seite mit seinem Beichtvater, im Vertrauen auf Christus und seine Heiligen, entwickelte sich der Streit um seine Lehre und Person, den er selbst mit angestoßen und doch wohl in diesem Ausmaß nicht beabsichtigt hatte.« Ebd., 65.

101 Vgl. Anm. 60.

102 MacCulloch,Die Reformation.

103 Um nur die grundlegenden Überlegungen zu nennen, sei verwiesen auf Ernst Walter Zeeden,

»Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe«, in:

Historische Zeitschrift185 (1958), 249–299; Heinz Schilling, »Die Konfessionalisierung im

(ca. 1520–1700) eine Epoche, in der ausgehend von der Reformation und im Verein mit der frühneuzeitlichen Staatswerdung alle Bereiche der Gesellschaft einen Modernisierungsschub erfuhren. Zugleich wurde damit eine Begrenzung der Forschung auf das Reichsgebiet überwunden.

Auch wenn das Konzept nicht unwidersprochen geblieben ist,104konnte es sich in der Geschichtswissenschaft weitgehend durchsetzen und eine Sichtweise eröffnen, in der religiöse und theologische Aspekte zwar eine zentrale Rolle spielen, eingebunden aber in ein ganzes Bündel von gesellschaftlichen, politi-schen, ökonomischen und kulturellen Entwicklungssträngen, die mit ihnen in einem reziproken Verhältnis stehen.

Das gestaltet sich in der Kirchengeschichtsforschung anders, wie bereits an der These von Athina Lexhutt deutlich geworden ist. Der Tübinger Kirchenhis-toriker Volker Leppin fragte indes 2002 danach, was überhaupt reformatorisch an der Reformation gewesen sei, und kam zu dem Ergebnis, dass die Reformation durchaus ein bedeutendes Ereignis gewesen sei, das aber keine Epoche gemacht habe, sondern vielmehr in den Fluss zwischen Humanismus und Aufklärung einzubetten sei.105Deshalb war sie

nicht in der Weise reformatorisch, daß die heutige Anwendung des Adjektivs ›refor-matorisch‹als einfache Ableitung vom Substantiv »Reformation« gelten könnte. Die Kriterien nämlich zur Benennung dessen, was reformatorisch ist oder sein soll, ent-springen letztlich nicht dem historischen Prozess der Reformation selbst, die in ihnen ausgedrückte theologische Normsetzung verdankt sich vielmehr der nachholenden Interpretation.106

Dies beteuert Volker Leppin, der dabei noch grundsätzlicher hätte argumentie-ren können: Schon der Begriff »Reformation«, noch vielmehr der des »Refor-mators«, erweist sich letztlich als ein Konstrukt der Nachwelt, dem bereits mannigfaltige Bedeutungszuschreibungen inhärieren, die sich nicht zuletzt aus

Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620«, in:

Historische Zeitschrift246 (1988), 1–45, und Wolfgang Reinhard, »Zwang zur Konfessi-onalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters«, in:Zeitschrift für historische Forschung10 (1983), 257–277. Zur Forschungsgeschichte s. Helga Schnabel-Schüle, »Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung. Eine Standortbestimmung«, in: Peer Frieß und Rolf Kießling (Hg.),Konfessionalisierung und Region, Konstanz: Universitäts-verlag Konstanz, 1999, 23–40.

104 S. Winfried Schulze, »Vom Gemeinnutz zum Eigennutz. Über den Normwandel in dem ständischen Gesellschaften der frühen Neuzeit«, in:Historische Zeitschrift243 (1986), 591–

626, der darauf aufmerksam macht, dass Maßnahmen der katholischen Reform moderni-sierend gewirkt haben, obwohl sie dies nicht beabsichtigt hätten.

105 Volker Leppin, »Wie reformatorisch war die Reformation?«, in:Zeitschrift für Theologie und Kirche99 (2002), 162–176.

106 Ebd., 173f.

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dem Identitätsbestreben der protestantischen Kirchentümer speisen,107welche für sich in Anspruch nahmen, den Glauben und die Kirche auf die ursprüngliche Form zurückgeführt zu haben.

Vielleicht hatte der »Reformator« sie niemals beabsichtigt, die Reformation, wie neuerdings Brad Gregory behauptet, dessen Buch zur »Unintended Refor-mation« allerdings massive Kritik hervorgerufen hat, zumal er aufzeigen wollte, dass die Reformation die Tür für die Gleichberechtigung unterschiedlichster religiöser Praktiken geöffnet und diese legitimiert habe, da sie die institutionellen Bindungen der Religion aufgehob.108Soweit muss man dem nicht folgen. Viel-leicht aber kann dem Wiener Theologen Christian Danz zugestimmt werden, der ausführt: Für den »einen erneuerte […] [Luther] den wahren Sinn des Chris-tentums, für die anderen zerstörte er die Einheit der Kirche. Wieder andere sehen in der Lutherischen Reformation die Morgenröte der Neuzeit anbrechen, welche das dunkle Mittelalter weit hinter sich läßt.«109

Zweifelsohne aber wird »das klassische protestantische Meisternarrativ einer gleichsam aus der Reformation entsprungenen Neuzeit […] der Komplexität der Transformationsprozesse seit dem 16. Jahrhundert, aber auch der Dynamik des späten Mittelalters nicht gerecht.«110Vielmehr finden sich in der Reformations-, die längst als Konfessionalisierungsforschung firmiert, die Kontinuitätslinien hervorgehoben, wobei die Reformation zu einem Quell des Übergangs wird, zu einem Ereigniszusammenhang, der am Beginn einer lang währenden Um-bruchsphase steht,111von der ohne Zweifel zahlreiche Impulse ausgegangen sind, die nachhaltigen Einfluss auf die Moderne und die Gegenwart genommen haben.

Davon waren einige mittelbarer, andere unmittelbarer Art.112Zu den unmittel-baren gehört die Entstehung von »Konfessionskulturen«, die sich einerseits als eine positive Wirkung betrachten lässt, insofern sie die Subjektivierung und Emanzipation der Individuen beförderte, die in religiösen Belangen ernst ge-nommen und folglich auf kulturellem Sektor befördert wurden. Das hatte nicht nur die Teilhabe der Laien am Kirchenregime und an der Bildung zur Folge,113

107 Thomas Kaufmann, »Die Reformation als Epoche?«, in:Verkündigung und Forschung47, 2 (2002), 49–63, 49.

108 Brad Gregory,The Unintended Reformation. How a Religious Revolution Secularized So-ciety, Cambridge, Mass.: Harvard University Press, 2012. Vgl. o. Anm. 98.

109 Christian Danz, »Martin Luther im Spiegel der neueren Forschung. Eine Einführung«, in:

ders. (Hg.), Martin Luther, (Neue Wege der Forschung), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2015, 926, 9.

110 Kaufmann,Erlöste und Verdammte, 356.

111 So Heinz Schilling,Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250 bis 1750, Berlin: Siedler, 1999. Aufgenommen von Kaufmann,Die Reformation als Epoche?, 62f.

112 So Kaufmann, Erlöste und Verdammte, 356 in offenkundig impliziter Reminiszenz an Schulze,Vom Gemeinnutz zum Eigennutz.

113 In diesem Zusammenhang hebt Kaufmann,Erlöste und Verdammte, 360 und vor allem ders.,

sondern unter anderem auch die Entstehung des Pietismus im 17. Jahrhundert.

Dabei eröffnete die Aufwertung der Volkssprache ebenso neue Möglichkeiten wie die Neuerungen der Sexualmoral, die nicht zuletzt den evangelischen Pfarrhaushalt hervorbrachte. Einmal errungene Freiheiten konnten indes auch regridieren, wenn einzelne Kirchentümer sich dogmatisch verfestigten. Und schließlich führten Konfessionskulturen auch zu gegenseitigen Abgrenzungen, indem sie sich dem Regime der Landesherrschaften unterstellten und mit den im Entstehen begriffenen nationalen Ideen verbanden, was langfristig einen »Clash of Cultures« erzeugte.114Weniger dramatisch ausgedrückt, hat die von der Re-formation ausgehende Umbruchsphase die Nationalstaaten hervorgebracht, deren Konkurrenz auch auf konfessionelle Unterschiede zurückgeführt werden kann.

Ob die protestantische Ethik tatsächlich den Geist des Kapitalismus erzeugte, wie Max Weber (1864–1920) zu Beginn des 20. Jahrhunderts behauptet hat,115 mag dahingestellt bleiben. Dass die Hinwendung zur Welt als Konsequenz des reformatorischen Denkens nicht ohne Wirkung auf diverse Einrichtungen des Alltags und des Arbeitslebens bleiben konnte, liegt aber auf der Hand. Nicht nur die Arbeitsethik änderte sich, weil die Bewährung im Leben zum Auftrag für die protestantischen Christen wurde. Aus demselben Grund änderte sich auch die Praxis, die aus Sicht der Prädestinationslehre tatsächlich durchaus Ausdruck für die Auserwähltheit der wirtschaftlich Erfolgreichen werden konnte. Vor allem durch die Verbindung mit den aufstrebenden Territorial- und später National-staaten änderte sich auch das Rechtsgefüge, das nunmehr positiv gesetzt wurde und in manifester Form Sorge dafür zu tragen hatte, dass sittliches Verhalten und die Einhaltung religiöser Pflichten durch staatliche Rechtsvorschriften sicher-gestellt wurde. Demgegenüber trat die Bedeutung des Kirchenrechts–auch im katholischen Bereich–zurück.116

Einen letzten Bereich der durch die Reformation ausgelösten Folgen nehmen im Katalog von Thomas Kaufmann »Rationalität und Individualität« ein.

Demnach hat sie bereits die Spuren gelegt, die in der Aufklärung zur »Entzau-berung der Welt« (Max Weber) führen sollten. Das drückt sich auch in Äußer-lichkeiten wie der Reduzierung der Zahl der Sakramente aus. In erster Linie ist dabei aber die Individualisierung ins Auge zu fassen, die nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass die Schriftlesung und damit auch die

Heilsver-»Luther kopernikanische Wende«, in:Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. Oktober 2013, Nr. 250, 7, die Bedeutung von Luthers Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation«

(1520) hervor. S. auch Leppin,Die fremde Reformation, 139–150.

114 Reinhardt,Luther, der Ketzer, 325–328.

115 Max Weber,Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Köln: Anaconda Verlag, 2009.

116 Kaufmann,Erlöste und Verdammte,362–364.

mittlung keine unmittelbare kirchliche Gemeinschaft voraussetzt. Zum einen prägte diese Individualisierung die Religiosität der Moderne, zum anderen ist es die Befreiung des Geistes, die noch Johann Wilhelm Friedrich Hegel als Errun-genschaft der Reformation gepriesen hat. Sie eröffnet den Weg zur Rationalität als Erkenntnisprinzip und ebnete damit den Weg zur Aufklärung.

Es ließen sich weitere Entwicklungen auflisten, die von der Reformation ausgegangen und in die Moderne eingegangen sind.117Von diesen soll im An-schluss an Heinz Schilling vor allem noch der Verlust der Universalität hervor-gehoben werden. Denn die Wittenberger Reformation mit ihrem auf dem neuen Bibelverständnis fußenden Allgemeingültigkeitsanspruch geriet nicht nur in Konkurrenz zur römischen Kirche, die an ihrem universalen Geltungsanspruch festhielt, sondern sah sich unversehens anderen reformatorischen Bewegungen gegenüber, die gleich ihr nicht nur von überdauernder Wirkung waren, sondern wie sie kirchliche Strukturen ausbildeten. An die Stelle des einen katholischen Glaubens waren Konfessionen getreten, die mit ihrem je eigenen Universali-tätsanspruch fortan nicht nur das westliche Europa prägten, sondern sich mit den Entdeckungs- und Eroberungsfahrten sowie den Siedlungsbewegungen global etablierten. Die Welt, zumindest Europa, begann eine neue Gestalt an-zunehmen; sie trat in eine Entwicklung ein, in der sich die Konfessionalisierung in nahezu allen Bereichen bemerkbar machte. So hat

die Reformation in der Vielfalt ihrer Erscheinungen […] jene Entwicklung, an deren Ende die westliche Moderne steht, in mannigfacher Weise beeinflusst, gefördert und beschleunigt. Doch allein oder maßgeblich hervorgebracht hat sie diese ebenso wenig wie irgendeine andere Kraft. Die westliche moderne Welt ist das Ergebnis eines sehr komplexen Transformationsprozesses, der ohne die Reformation aber gewiss anders verlaufen wäre.118

Transformation ist das neue Erklärungsmuster, um Veränderungen als schlei-chende oder rasche Prozesse zu beschreiben. Deshalb muss man »nicht von einer

Transformation ist das neue Erklärungsmuster, um Veränderungen als schlei-chende oder rasche Prozesse zu beschreiben. Deshalb muss man »nicht von einer

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