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Wirkhypothese Polyvagaltheorie

1. Theoretischer Teil

1.4. Wirkhypothesen

1.4.4. Wirkhypothese Polyvagaltheorie

Eine weitere Wirkhypothese, die von Robert Schwarz in dem Buch „Klinische Anwendungen der Polyvagaltheorie“ veröffentlicht wurde, postuliert, dass das Klopfen auch über eine Stimulation des ventralen, myelinisierten Nervus Vagus seine Wirkung entfaltet. Robert Schwarz geht ebenfalls von einer Wirkung über Erinnerungsmodifizierung aus. Schwarz legt jedoch zusätzlich nahe, dass durch das Klopfen der ventrale Ast des Nervus Vagus stimuliert wird, dessen Funktion in der

Polyvagaltheorie beschrieben wird. Die Polyvagaltheorie wurde im Jahr 1994 basierend auf anatomischen und physiologischen Studien von Dr. Steven Porges veröffentlicht und eignet sich besonders für die Erklärung der physiologischen und körperlichen Komponenten psychischer

74 Erkrankungen. Sie erweitert das sympathisch-parasympathische Modell des autonomen

Nervensystems. Denn neben der über den Sympathikus vermittelten „fight or flight" Stressreaktion und dem durch den Parasympathikus vermittelten „rest and digest" gibt es besonders bei

Traumafolgestörungen eine Komponente der Immobilisierung, die in dem Modell eines zwei geteilten autonomen Nervensystems keine Erklärung findet. Die Polyvagaltheorie beschreibt unser Nervensystem hingegen nicht als duales, sondern als ein hierarchisches System, in dem drei Anteile, der ventrale Vagus, der Sympathikus und der dorsale Vagus drei mögliche physiologische Reaktionen unseres Körpers auf das Umfeld beschreiben.

Der ventrale Vagus ist der phylogenetisch jüngste Anteil. Er wird bei sozialem Verhalten aktiv: Wenn Säugetiere und Menschen sich in einem sozialen Kontext von Sicherheit bewegen, sorgt der ventrale Vagus für eine Homöostase in Körper und Physiologie. Dabei existiert eine Wechselwirkung zwischen Physiologie und Psyche: Wenn der Körper in Harmonie ist, fällt es Menschen leichter, Sicherheit und soziale Verbundenheit zu fühlen und gleichzeitig führen Sicherheit und soziale Verbundenheit zu einem Gleichgewicht im Körper. Droht jedoch eine unmittelbare Gefahr, übernimmt der Sympathikus die führende Rolle: Die Herzfrequenz steigt, genauso die Atemfrequenz und der Blutdruck, die Skelettmuskulatur spannt sich an, die Verdauung wird heruntergefahren. Wenn die Gefahr sogar lebensbedrohlich wird, übernimmt letztendlich der dorsale Vagus, der phylogenetisch älteste Teil unseres Nervensystems, die Führung. Dies geht mit Passivität, Dissoziieren, Reglosigkeit einher. Der Muskeltonus kann stark abfallen, die Atmung flacht ab, der Gesichtsausdruck wird leblos, die Augen wirken leer, es kommt zu gastrointestinalen Symptomen wie Durchfall und Erbrechen. Ebenfalls kann eine Stimulation der Bereiche des ventralen PAGs, über dessen Aktivierung durch den dorsalen Vagus diese Immobilisation erreicht wird, in einer Opioid-vermittelten Analgesie resultieren, wie sie auch von Trauma-Opfern berichtet wird.

Ob und zu welchem Grad eine Person eine Umgebung oder Situation als sicher erachtet, entscheidet darüber, welches System aktiviert wird. Durch diesen größtenteils unbewussten Vorgang der

Neurozeption loten Menschen und Tiere dauerhaft aus, ob sie sich in Sicherheit oder Gefahr befinden. Wie eine Person auf eine mögliche Gefahr reagiert, ist sowohl von der individuellen Physiologie als auch von biographischen früheren Erfahrungen mit Gefahr abhängig. Daher können auch für eine Emotion, beispielsweise Angst, unterschiedliche physiologische Ausdrücke und

behaviorale Reaktionen entstehen. Porges beschreibt ferner zwei weitere physiologische Reaktionen des Körpers, die helfen eine Brücke zwischen den unterschiedlichen Systemen zu bilden: Das „Spiel“

und die „Immobilisierung ohne Angst“. Das Spiel ist sowohl bei Tieren in spielendem Kampf als auch

75 bei Menschen zu beobachten, unter anderem in Ballsportarten aber auch bei sexueller Erregung. Es ist ein Wechselspiel von Sympathikus und ventralem Vagus, in dem Augenkontakt (sowohl im Sport als auch bei Tieren) für das Vergewissern von Sicherheit immer wieder den ventralen Vagus aktiviert.

„Immobilisierung ohne Angst“ ist ein Stadium, das mit der Aktivität des dorsalen Vagus bei

gleichzeitigem Einfluss von Oxytocin und Vasopressin einhergeht. Es setzt eine tiefe angenehme Ruhe ein, die beispielsweise beim Säugen der Jungen oder auch in den Armen eines Geliebten evolutionär von Vorteil ist, jedoch nicht mit der lebendigen Ruhe des ventralen Vagus verwechselt werden sollte.

Bei Menschen, die an einer Angststörung oder posttraumatischen Belastungsstörung leiden, stimmt die Neurozeption oft nicht mit der Realität überein. Deshalb befinden sich diese oft in einem Wechsel von Über- und Untererregung, der mit den physiologischen Korrelaten – Herzklopfen,

Hyperventilation, kalte Akren, Schwitzen, Magen-Darm-Probleme einerseits und Nausea, Schwindel, Dissoziation andererseits einhergeht. Maarten Aalberse schreibt dazu: „Ein Schlüsselelement bei Menschen mit post-traumatischem Stress ist, dass sie sich entweder emotional überwältigt fühlen (Über-Erregung) oder starr und hilflos (Unter-Erregung), wenn sie an ihr Trauma erinnert werden“

(Aalberse et al., 2012, S.201),

Die beiden Zweige des Nervus Vagus gehen aus verschiedenen Kernen in der Medulla oblongata hervor: Dorsale Anteile innervieren Organe unterhalb des Zwerchfells, ventrale Anteile Organe oberhalb des Zwerchfells. Dabei ist allein der ventrale, und phylogenetisch jüngste Zweig des Nervus Vagus myelinisiert, kann daher schneller und akkurater reagieren. Die Kerne des ventralen Vagus sind zudem mit den Kernen anderer Hirnnerven verbunden. Das heißt, dass eine Aktivierung des Vagus beispielsweise mit einer Aktivierung des Musculus orbicularis oculi einhergeht, des Ringmuskels um die Augen. Daher reicht ein Blick in die Augen oft aus, um zu erkennen wie es einem Menschen geht und die Modulation der Stimme verrät oft, welcher Ast des Nervensystems aktiviert ist. Jedoch kann ebenfalls über eine Aktivierung der Hirnnerven der ventrale Vagus aktiviert werden, ein Grund warum Singen, Summen oder Lachen so gut für die Gesundheit sind.

Robert Schwarz argumentiert in seinem Artikel über Klopftechniken, dass diese unter anderem durch eine vagale Aktivierung ihre Wirkung entfalten. Durch die Möglichkeit die Physiologie zu regulieren würden dann die Patienten eine Möglichkeit erhalten, ihre Kognition zu dem Thema zu verändern.

Für Schwarz folgen angsterfüllte Gedanken dem Körpererleben von Gefahr, seine Beobachtung ist somit, dass sich bei Patienten durch zunächst die Physiologie beruhigt und sich in Folge die Gedanken verändern.

76 Für die Wirkung der Klopftechniken auf das Nervensystem beschreibt er zwei Hauptwirkfaktoren:

Erstens: Durch die Stimulierung der Gesichtspunkte, die über eine Stimulierung der Hirnnerven den ventralen Vagus stimulieren, wird die Physiologie des Patienten reguliert, während er mental ein unangenehmes Thema im Gewahrsein hält. Zweitens: Durch diese Möglichkeit haben auch Therapeuten weniger Angst traumatische Themen anzusprechen, da sie eine Intervention parat haben, die eine große Aktivierung des Patienten regulieren kann. Diese Ruhe strahlt auf den Patienten aus. Durch das Klopfen regulieren zudem die Therapeuten ihre eigenen Emotionen und Körperreaktionen, die durch die Narration des Klienten hervorgerufen werden, was erneut hilft eine Atmosphäre von Sicherheit zu kreieren. Aus der Sichtweise der Polyvagaltheorie reagieren

traumatisierte Patienten auf feine Signale und Trigger. Ihre Neurozeption ist darauf ausgerichtet, mögliche Signale für Gefahr zu detektieren, besonders auch in anderen Menschen. Reagiert nun ein Therapeut, bewusst oder unbewusst, mit eigener Angst auf ein beschriebenes traumatisches Ereignis, wird er genau diese Signale aussenden. Reguliert er sich durch das Klopfen selbst, so argumentiert Schwarz, wird er mehr Ruhe aussenden. Zuletzt argumentiert auch er mit einer Wirkung über Erinnerungsmodifizierung.

Durch das Klopfen würden sowohl Therapeut als auch Patienten stark in der Gegenwart verankert und würde mit Ruhe, Leichtigkeit und Humor dem Patienten auf physiologischer Ebene ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Hierdurch wird, wie Schwarz schreibt, es ermöglicht ein wirkliches

"Gegenerlebnis“ aufzubauen. Dies ist wiederum Bedingung für eine mögliche

Erinnerungsmodifizierung. Eine den emotionalen Kern der Erinnerung in Frage stellende

Gegenerfahrung, ein so genanntes Mismatch mit dem, was der Patient erwartet hätte (Schwarz, 2019).