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Wider das Jahrmarktwesen

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 72-76)

Die für Beuttner handlungsleitende Marktvorstellung wird um der besse-ren Anschaulichkeit willen in zwei Schritten dargestellt. Für den ersten, das Jahrmarktwesen betreffenden Schritt, kann sein Kommentar zu einem vom TGV am 1. Oktober 1929 an das Thurgauische Polizeidepartement überstellten Revisionsentwurf herhalten. Zu erinnern ist an dieser Stelle, dass Artikel 31 der Bundesverfassung die Kantone ermächtigte, mit der Handels- und Gewerbe-freiheit konforme gewerbepolizeiliche Rechtssätze zu erlassen. Der Verband war entschlossen, das noch im vorangegangenen Jahrhundert ausgearbeitete und vom Stimmbürger 1898 verabschiedete Gesetzespaket zu reformieren.161 Inhalt dieses 47 Seiten starken, mit Das thurgauische Markt-, Hausier- und Aus-verkaufswesen in geschichtlicher Bedeutung überschriebenen Kommentars sind grundlegende mittelstandspolitische Betrachtungen ;162 speziell der Abschnitt zur Geschichte und zum gesellschaftlichen Charakter des Markts sucht seines-gleichen.

Beuttner beginnt mit der Feststellung, dass das Recht zu räumlich und zeitlich begrenzten Marktveranstaltungen ( Jahr-, Wochen- und Warenmärkte ) seit je durch weltliche oder kirchliche Obrigkeiten gewährt wurde. Um die Funktion der lokalen Warenvermittlung erfüllen zu können, musste eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein ; als wichtigste seien ein ausreichend grosses geo-grafisches Einzugsgebiet, das Vorhandensein sicherer Wegstrecken und schiff-barer Flüsse sowie die « Klugheit des Grundherren » zu nennen.163 Unerlässlich für jedes Marktgeschehen sei zudem eine institutionelle Absicherung in Form von Marktgerichten, die Tauschmasse und -modalitäten inspizierten und bei Ungereimtheiten oder Konflikten fallweise Recht sprächen. So weit, so gut.

Nach der Würdigung der historischen Tiefendimension konstatierte Beuttner

missbilligend, dass das Jahrmarktwesen neuerdings wieder im Aufschwung begriffen sei.164 Seinen Nachforschungen zufolge wurden auf thurgauischem Kantonsgebiet im Jahr 1929 folgende Marktveranstaltungen abgehalten :

Ort Typus und Anzahl

Zeitpunkt Amriswil 2 Jahrmärkte

3. Mittwoch in den Monaten März und Oktober

Arbon 2 Jahrmärkte

Mittfastenmarkt — 1. Montag nach Martini Bischofszell 4 Jahrmärkte

Donnerstag vor Herrenfasnacht, Montag vor Auffahrt ( Maimarkt ),

Donnerstag vor Jakob ( Jakobimarkt ), Donnerstag nach Martini ( Martinimarkt ) Diessenhofen 1 Jahrmarkt

2. Mittwoch im Mai ( Maimarkt ), 2. Mittwoch im November ( Herbstmarkt ), 2. Mittwoch im Dezember ( Klausmarkt )

Tabelle 2 Marktorte und Markttypen im Kanton Thurgau, 1929 165

In Erinnerung an die Schwierigkeiten beim Übergang in die Nachkriegszeit und in Vorwegnahme möglicher künftiger Wirtschaftsdepressionen merkte Beutt-ner an, dass Lebensmittel-, Genussmittel- und Gelegenheitshändler sowie Ver-käufer von « Eisenwaren, Schmiedewaren, Schuh- und Hutwaren » Jahrmärkte als attraktive Absatzchancen auffassten,166 und ( dis- )qualifizierte dieses Marktgeschehen als Anachronismus. Die Bedarfsbefriedigung sei im Lauf des 19. Jahrhunderts so weit gediehen, dass sich die Menschen auch abseits der Marktveranstaltungen mit Lebensmitteln und Alltagsdingen eindecken könn-ten.167 Er brachte dies in Zusammenhang mit der flächendeckenden Verkehrs-infrastruktur, dem dichten Netz an Kreditinstitutionen und — so wollte es sei-ne Funktion als mittelstandspolitisches Sprachrohr der Detailhändler — der umfassenden Rationalisierung des Warenhandels.168 Vor diesem Hintergrund tat Beuttner das Jahrmarktwesen als eine « überlebte Institution früherer Jahr-hunderte » ab, auf die nicht nur aus gewerbepolitischer, sondern auch aus volkswirtschaftlicher Perspektive verzichtet werden könne.169

Unschwer zu erkennen ist, dass der TGV-Sekretär seine Argumentation dem Umfeld der jüngeren Historischen Schule der Nationalökonomie entlehnte.

Der in Strassburg und Berlin lehrende Gustav Schmoller ( 1838 —1917 ) war der wichtigste Exponent dieser von den 1860er-Jahren bis zum Ende des Ersten Weltkriegs tonangebenden Richtung. Ihre Anhänger setzten sich mit der Theo-riebildung der klassischen englischen Ökonomie ( « Methodenstreit » ) auseinan-der, waren am sozioökonomischen Transformationsprozess ( « Soziale Frage » ) interessiert und traten für die normative Implementierung der ökonomischen Expertise ( « Werturteilsstreit » ) ein.170 Aus dem Netzwerk um Gustav Schmoller, Lujo Brentano, Karl Bücher und Georg Friedrich Knapp stammende Schüler wurden auf Lehrstühle an die Universitäten Zürich und Bern berufen. Deren nationalökonomische Konzepte standen in der Schweiz bis in die 1940er-Jahre hoch im Kurs. Wichtige Werke der Historischen Schule der Nationalökonomie zeichnen sich durch Analysen von Wirtschaftssystemen aus, die als evolutionäre Abfolge von Hauswirtschafts-, Stadt-, Territorial-, Volks- und Weltwirtschafts-

Stufen gedacht wurden. Isoliert-abstrakte Begriffe wurden zugunsten einer detaillierten Beschreibung historischer Singularitäten und gesellschaftlich ge-prägter Prozesse zurückgestellt. Auch Beuttner übte sich im Stufen-Denken und zog dieses Modell als normativen Massstab zur Beurteilung des zeitgenössi-schen Marktgeschehens heran. Die « Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen », die die Theoretiker durchaus berücksichtigt hatten, überging er geflissentlich.171 Die wissenschaft liche Stimmigkeit seines Kommentars zum Jahrmarktwesen versuchte Beuttner durch die namentliche ( orthographisch indes fehlerhafte ) Erwähnung des von 1907 bis 1921 in Zürich lehrenden Heinrich Sieveking her-auszustreichen.172 Der Nachweis der Historizität war, so lässt sich festhalten, kein Argument für, sondern gegen die Fortführung des Jahrmarktwesens im Kanton Thurgau.

Beuttner war sich bewusst, dass mit einer historischen Erörterung keine Mehrheit für eine gewerbepolitische Revision zu erreichen war. In den gegen-wartsbezogenen Abschnitten seines Kommentars ging er deshalb auf die schädlichen volkswirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen des Jahrmarkt-wesens ein. Hinsichtlich der ökonomischen Begleiterscheinungen warnte er vor den Waren, die den BesucherInnen angeboten wurden. « Die Warenmärkte wirken im ausgesprochenen Sinne einer verderblichen Geschmacksverirrung

und -verwirrung zum allgemeinen Schaden der Volkswirtschaft. Was heute im allgemeinen auf den Warenjahrmärkten feilgeboten wird, spricht vielfach Hohn auf den guten Ruf der schweizerischen Qualitätsproduktion », bringt Beuttner seine Sorge um den Warencharakter auf den Punkt.173 Namentlich die « ländlichen Marktbesucher » drohten von der « kitschige[n] Auslandsware » verdorben zu werden.174 Werden ergänzende Quellen aus dem Kontext der Schuhwirtschaft beigezogen, findet Beuttners Marktkritik ansatzweise Bestäti-gung. Einerseits hatte sich das Bodenseegebiet Mitte des 19. Jahrhunderts den Ruf als Zentrum der hausindustriellen Schuhproduktion erworben.175 « In ver-schiedenen Gegenden des Kantons Thurgau hat sich die Marktschuhmacherei gerade so eingebürgert, wie die Uhrmacherei in Locle, sodass in jedem Hause neben der Landwirtschaft Schusterei getrieben wird .»176 Unter Markt- oder Vor-ratsschuhmacherei werden gemeinhin die von kaufmännischen Verlegern finanzierten, in handwerklicher Tradition hergestellten und auf Jahrmärkten abgesetzten Schuhwaren gefasst.177 Vertreter des Schuhgewerbes bemängelten, dass die aus Lederabfällen der Massschuhmacherei gearbeiteten Schuhwaren-

« Wanderlager » von minderwertiger Qualität seien.178 Andererseits fürchtete die Schuhfabrik Rigi AG eine « Schmutzkonkurrenz ». Die in Kreuzlingen domi-zilierte Schuhfabrik hatte zu Beginn der 1930er-Jahre mit rückläufigen Um-satzzahlen zu kämpfen. Unter der bildlich illustrierten Überschrift « Zum Jahr-markt … Tingel-Tangel im Schuhhandel » begann sie Annoncen zu schalten, in denen sie ihre industriell gefertigten und in Läden verkauften Qualitätsschuhe anpries.179 Sie tat dies vor der Negativfolie des « billige[n] Jakob », der die Besu-cherInnen von Jahrmärkten mit einem « Schundangebot » behellige.180

Auch in sozialer Hinsicht reklamierte Beuttner gesetzlichen Handlungs-bedarf. Zu seinem Missfallen boten die Märkte nicht nur Gelegenheit zu Kauf und Verkauf, sondern auch zu Verpflegung, Geselligkeit und Unterhaltung.

Im Duktus eines kulturpessimistischen Pädagogen erteilte er den « kleinen Jahrmarktfreuden »181 eine Absage : « In jedem Falle vermögen Karussells, Schiess- und Zauberbuden vom jugenderzieherischen Standpunkte aus herz-lich wenig zu bieten. Die heutige Jugendbewegung ist glückherz-licherweise in der Lage, der Schuljugend durch Ferienwanderungen, Strandbad, Pfadfinderorga-nisation, Handfertigkeitskurs usw. weit grössere und tiefere Erziehungswerte zu geben und die Jugendseele zur höheren Lebensfreude zu erziehen, als [es]

die Karussellmusik zu bewerkstelligen vermag. Wo Schaubudenbetriebe als Sorgenbrecher dienen müssen, ist es mit der Geistesverfassung des Betreffen-den verzweifelt bestellt. »182

Dass Märkte multiple Funktionen ausüben und den involvierten Akteuren Erwerbs- wie auch Konsumchancen bieten, hat Laurence Fontaine jüngst zu einer weit ausgreifenden und in anwaltschaftlicher Manier vorgetragenen These ausgebaut. 2014 unter dem Titel Le marché : histoire et usages d’une conquête sociale erschienen, hat das Buch eine lebhafte Rezeption erfahren.183 Ihre über mehrere Jahrhunderte gespannte und mit buntem Quellenmaterial unterlegte Hauptaussage lautet, dass der Markt eine Institution darstelle, die Akteure zur materiellen Lebenssicherung, geschlechterspezifischen Befreiung und bis-weilen auch zum sozialen Aufstieg verhelfen könne. Messen, Jahrmärkte und Basare wohne eine emanzipatorische Kraft inne, die die Obrigkeit — in den von Fontaine präsentierten Fällen handelt es sich zumeist um aristokratische oder klerikale Eliten — sehr häufig zu bändigen suche. Eine Schlüsselpassage findet sich im Abschnitt « Die Exklusion oder die Marginalisierung der Schwächsten » :

« Der freie Zutritt zum Markt ist eine Obliegenheit, die die Mächtigen stets nur sich selbst zugestehen wollten. Seit dem Mittelalter erliessen sie Regeln, um Migranten, Frauen und alle diejenigen, die mit Hilfe des Krämerhandels ein Nebeneinkommen erzielen oder schlicht und einfach ihren Lebensunterhalt be-streiten wollten, auszuschliessen. Verschärft wurde die Dominanz sesshafter Händler gegen Ende des Ancien Régime, als neue, kapitalintensive Hygiene-normen aufkamen, an die sich die Armen, die von kleinen Transaktionen und kleiner Produktion lebten, nicht anzupassen vermochten. »184 Auf das Fallbei-spiel der thurgauischen Gesetzesrevision übertragen, könnte der von Beuttner vorgebrachte Kommentar als ein weiterer Versuch gedeutet werden, den Markt gewerbepolizeilich zu schliessen. Was Beuttner im Namen des TGV forderte, war eine gegen soziale und kommerzielle Minoritäten gerichtete Marktschranke.

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 72-76)