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Neuausrichtung nach dem Krieg

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 115-121)

Allen Arbeitskonflikten zum Trotz trieben Eduard Bally und seine Söhne die Mechanisierung und Arbeitsteilung konsequent voran. Bally mauserte sich zum führenden Unternehmen der schweizerischen Schuhwirtschaft das allein 1913 3,8 Millionen Paar Schuhe herstellte.76 Am Vorabend des Ersten Weltkriegs sinnierten die Verantwortlichen über die optimale Unternehmensgrösse und die Gewichtung von Binnen- und Weltmarkt : « Soll sich die Firma Bally noch vergrössern ? Nach dem Grundsatze : Stillstand ist Rückgang ! Ja, doch soll auf alle Fälle von einer solchen in der Schweiz abgesehen werden, da sich hier schon längst die engen Zollschranken hindernd fühlbar machen. Also aus-wärts ! »77 Weniger der für Bally ausserordentlich wichtige Umschlagplatz und Absatzmarkt London, als der Zollprotektionismus, der in Zentraleuropa seit den 1880er-Jahren zunahm, war der Treiber der Multinationalisierung. Es begann sich der « Grundgedanken » durchzusetzen, dass Schönenwerd auf der einen Seite den schweizerischen Schuhmarkt bedienen und auf der anderen Seite Exportaufträge abdecken wollte, die an Gestaltung und Fertigung höchste An-sprüche stellten.78 Im Ausland hielt man nach möglichen Fabrikübernahmen oder -gründungen Ausschau, um dort Spezialserien herzustellen, die sich von der Schweiz aus Zoll- oder Preisgründen nicht exportieren liessen. 1913 nah-men die Verantwortlichen zu einer in Lyon domizilierten und nach seinem Eigen tümer Camsat benannten Schuhfabrik Kontakt auf, im darauffolgenden Jahr fiel diese zum Schönenwerder Besitz. Dass im Historischen Archiv ver-gleichsweise viele Unterlagen zu den Auslandsmärkten vorhanden sind, lässt sich damit erklären, dass die Verantwortlichen das Exportgeschäft als Grad-messer für den unternehmerischen Erfolg betrachteten.79

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs durchkreuzte die Multinationalisie-rungs-Bestrebungen. Ohne auf die kriegswirtschaftlichen Vorkommnisse und die damit einhergehenden betrieblichen Anpassungen im Einzelnen eingehen zu können,80 seien zwei konträre Trends festgehalten. Einerseits eröffnete der

Krieg auf den internationalen Märkten neue Wachstumschancen, da ausländi-sche Schuhfabriken ihre Produktion von Zivil- auf Militärschuhe umstellen mussten. Die « Konkurrenzferien » kamen dem neutralen Unternehmen sehr gelegen, eine veritable Kriegskonjunktur setzte ein.81 Bis 1916 vermochte Bally die Produktionsziffern auf Vorkriegsniveau zu halten. Wenngleich die unter-nehmerische Planungssicherheit abhandenkam, verlief die Zusammenarbeit mit den Beamten der kriegswirtschaftlichen Überwachungsgesellschaften überraschend gut. Es ist zwar nicht möglich, Profite zu berechnen und kontext-sensibel zu beurteilen,82 die im Rahmen der Eidgenössischen Kriegsgewinn-steuer vorgenommene Selbstdeklaration und deren Berichtigung durch zwei Steuerkommissare lassen aber den Schluss zu, dass Bally beträchtliche Gewin-ne erwirtschaftete.83

Andererseits setzte dem Schönenwerder Grossunternehmen das Gesche-hen am Binnenmarkt zu.84 Die Schuhpreishausse, die sich ab Sommer 1917 mani festierte, machte die von materiellen Entbehrungen gebeutelte Bevölke-rung argwöhnisch ( siehe das Kapitel « Einblick », S. 9 ). Der Vorwurf des « Kriegs-wuchers » wurde laut, die rätselhaften Mechanismen des Schuhmarkts wurden weitherum diskutiert. In diesem Zusammenhang veröffentlichte Bally die 22 Seiten starke Broschüre Ursachen der Schuhteuerung, in der die Öffentlich-keit über kriegsbedingte Preisanstiege auf dem Rohledermarkt und Aufschläge in den Transportauslagen aufgeklärt wurde. Entsprechend dem Untertitel Leichtfassliche Darstellung wurden die marktrelevanten Zusammenhänge als grafische Schlachtvieh-Diagramme und Einfranken-Balken dargebracht. Nach Produzent, Grossist und Detailhändler aufgeschlüsselte Kostenstellen und Ge-winnmargen und anderes mehr sind in dieser Broschüre versammelt. Wiederge-geben wird auf der folgenden Seite ein Auszug, der den marktgenerierten Schuhpreis in seinen einzelnen Bestandteilen zeigt.

Zuallererst sticht ins Auge, dass sich das Preisniveau binnen vier Jahren nahezu verdoppelte. Als wesentliche Ursache hob Bally die stark angestiege-nen Auslagen für « Material, Zutaten, Spesen » hervor. Die verloreangestiege-nen auslän-dischen Beschaffungsmärkte machten dem Schönenwerder Unternehmen tatsächlich zu schaffen. Wann immer eine der seltenen Lederlieferungen in der Schweiz eintraf, liess die Firmenleitung die Eisenbahnwaggons auf einer Fotografie verewigen.

Abbildung 22 ( unten ) Infolge der kriegswirtschaftlichen Blockaden und Exportverbote geriet der Welthandel ins Stocken. Wenn, wie im Jahr 1915, eine Wagenladung deutsches Lackleder in Schönenwerd eintraf, war dies ein Erinnerungsfoto wert.

Abbildung 21 ( oben ) 1917 rätselte die Schweizer Öffentlich-keit über die Ursachen der Schuhpreisteuerung. Um den Verdacht auszuräumen, dass Schuhfabriken von der Kriegs-konjunktur profitierten, veröffentlichte Bally eine Broschü-re, die Kostenstellen und Gewinnmargen offenlegte.

Weiter wurde in der Broschüre Wert auf den Umstand gelegt, dass das Gleich-gewicht von Angebot und Nachfrage nach wie vor spiele — man beachte die gestrichelte Linie — und von den KonsumentInnen wie den Produzenten Abstriche verlange.

Trotz dieser Beschwichtigungen in Wort und Bild erkannte der Bundesrat im Herbst 1917 Handlungsbedarf. Unter Leitung des Volkswirtschaftsdeparte-ments wurde ein strapazierfähiger Volksschuh entwickelt, an dessen Herstel-lung sich alle massgeblichen Schuhfabriken paritätisch zu beteiligen hatten.85 Wie eine amtliche Erhebung zutage förderte, wies Bally im Frühjahrsquartal 1917 eine durchschnittliche Tagesproduktion von 12 542 Schuhen auf, auf vier-stellige Produktionsziffern kamen die Fabriken Walder-Appenzeller & Söhne ( 2197 ), Strub, Glutz & Co AG ( 2000 ), Schuhfabrik Frauenfeld ( 1100 ), Hug & Co ( 1035 ) sowie die Schuhfabrik Kreuzlingen AG ( 1000 ).86 Drei Kontingente à 100 000 Volksschuhe aus Spalt- oder Kalbsleder wurden bei der Volksschuh- Zentrale AG, einer von den Schuhgrossisten gegründeten Vertriebsgesellschaft, bestellt. Im Februar 1918 wurden die ersten Exemplare ausgeliefert, blieben in den 900 Verkaufsstellen aber häufig liegen. Mit der operativen Führung der Volksschuh-Zentrale war das Schönenwerder Unternehmen alles andere als zu-frieden. In seinen persönlichen Aufzeichnungen hielt Eduard Bally dazu fest :

« Aus dem Umstand, dass sich die Volksschuhe nicht verkaufen, geht hervor, dass sich der Bund eben nicht zur Führung einer Industrie eignet, denn in die-sem Falle haben ihm doch die Industriellen ihre Erfahrungen zur Verfügung gestellt und die Sache redlich unterstützt. »87

Das Volksschuh-Fiasko hatte für Bally ein Nachspiel. Der Bundesrat war der Ansicht, dass der Branchenprimus seiner aus der Marktmacht erwachsenen Verantwortung zu wenig nachgekommen sei. Aus diesem Grund nahm Edmund Schulthess, Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartements, Schönenwerd in die Pflicht. Er forderte im Sommer 1919 eine Abgeltung der hohen Gewinne88 und legte sein Veto gegen die Dividendenpolitik ein, die Bally seinen Aktionären in Aussicht gestellt hatte.89 Einem Druckmittel gleich nutzte der Magistrat die Be-willigungspflicht des Zutritts zum Weltmarkt : « Was speziell die Ausfuhrsperre anbelange, so werde diese seinerzeit, d. h. sobald die Schuhindustrie den be-stimmten Willen hinsichtlich des von ihr verlangten Entgegenkommens gezeigt hat, aufgehoben werden. »90 Die politische Linke feierte das unorthodoxe

Ein-greifen des Bundesrats, noch Jahre später erinnerte die Rote Revue an die macht-voll in den Markt eingreifende öffentliche Hand : « Schulthess organisierte die Kriegswirtschaft, schränkte die Freiheit des Unternehmers auf ein Mindestmass ein und vereinigte schliesslich alle wirtschaftlichen Fäden in seiner Hand. »91 Am Ende verständigten sich Bally und weitere Schuhfabriken mit dem Bund auf die Herstellung einer Serie von gleichermassen hochwertigen wie preiswerten Schuhen für « Herrn und Frau Schweizer ». Von der 700 000 Paare umfassenden Serie stemmte Bally den Löwenanteil von 400 000 Stück.

Ernüchternd verlief auch der Eintritt in die Friedenswirtschaft, brachte diese doch erst einmal eine schwere « Nachkriegskrise » hervor. Die Versorgung mit Rohstoffen blieb suboptimal, die Transport- und Versicherungsspesen ver-harrten auf hohem Niveau und in Europa wurden 2000 Kilometer neue Zoll-grenzen errichtet.92 Bis 1921 stand die Wiederaufnahme der Geschäftsbeziehun-gen mit Händlern aus dem In- und Ausland im Zeichen der Ungewissheit und des Zuwartens. Aufgrund der ausbleibenden Aufträge und der im Gefolge von Besteuerung, Sozialgesetzgebung und Achtstundentag gestiegenen Fixkosten schloss Bally die Aarauer Fabrikfiliale und baute — über drei Jahre kumuliert — 2660 ArbeiterInnen und Angestellte ab.93 « Die Verhältnisse des Krieges zeig-ten », so resümierte Eduard Bally, « wie stark das Schwergewicht der Führung eines Grossbetriebes in den eigentlichen, commerziellen Problemen liegt. […]

Nur eine grosszügige commerzielle Leitung kann es fertig bringen, dauernd der Schweiz. Industrie, speziell der Exportindustrie, den gebührenden Platz im Weltmarkt zu sichern. »94 Der 1913 gefasste Entschluss zur Multinationalisie-rung der Schuhfabrik schien zwar noch immer alternativlos, zum Status quo ante konnten und wollten die Schönenwerder Verantwortungsträger gleich-wohl nicht zurückkehren. Ein Portfolio lose verbundener, im In- und Ausland domizilierter Unternehmungen war kein belastbares Geschäftsmodell. Mit-unter gingen aus kriegsgeschädigten Ländern Einladungen zur Errichtung von Fabrikations- und Verkaufsgesellschaften ein — die Generierung von Arbeits-plätzen sollten Bally mit einmaligen Vergünstigungen abgegolten werden.95 Die Geschäftsleitung dachte über einen neuen Marktauftritt nach. Diesen hies-sen die Aktionäre dann am 17. Oktober 1921 gut und wandelten die C. F. Bally AG in einen Schuhkonzern mit gleichnamiger Holdinggesellschaft und die Schuh-fabriken in ein Tochterunternehmen um. Im Wissen, dass die Reorganisation

langwierige Evaluationen, Verhandlungen und Beschlussfassungen erfordern würde, wurde sie auf mehrere Jahre verteilt. Von den in den frühen 1920er-Jah-ren gegründeten oder gerade in Planung begriffenen Tochterunternehmen96 seien genannt :

— die Gerbereien Curtiembres la Federal SA, Argentinien ( 1919 ) und SA Cor-tume Carioca, Brasilien ( 1925 ) ;

— die Schuhfabriken Bally-Schuhfabriken AG, Schweiz ( 1921 ), Etablisse- ment Bally-Camsat SA, Frankreich ( 1914 ), The C. F. Bally Shoe Factory ( in Association with Cuthberts ) Ltd., Südafrika ( 1921 ), Bally’s Shoe Factories ( Norwich ) Ltd., Grossbritannien ( 1923 ) und Bally Wiener Schuhfabrik AG, Österreich ( 1924 ) ;

— die Verkaufsgesellschaften Bally-Schuhgesellschaft mbH, Deutschland ( 1906 ), Bally’s Aarau Shoe Co Ltd., Grossbritannien ( 1908 ), Société Com-merciale des Chaussures Bally-Camsat SA, Frankreich ( 1917 ), Société Commerciale des Chaussures Bally SA, Belgien ( 1921 ), Bally ( Company ) Inc., USA ( 1923 ) und Bally-Schuh-Verkauf AG, Schweiz ( 1926 ) ;

— sowie die Detailorganisationen London Shoe & Co., Grossbritannien ( 1892 ), Egyptian Shoe Co., Ägypten ( 1911 ), Société Commerciale des Chaus-sures Bally-Camsat, Frankreich ( 1917 ), Arola-Schuh AG, Schweiz ( 1926 ), Ballysko A/S, Norwegen ( 1930 ) und die Bally-Schuhverkaufs-GmbH, Öster-reich ( 1933 ).

Von den Tochterunternehmen, die administrativ-kommerzielle Dienstleistun-gen erbrachten, seien neben den Immobiliengesellschaften noch die Agor AG, Schweiz ( 1933 ) erwähnt, die das werbetechnische Erscheinungsbild des Bally- Konzerns verantwortete. Unter dem Dach der Holding war somit die gesamte schuhwirtschaftliche Wertschöpfungskette versammelt. 1924 wurde der Sitz der Holdinggesellschaft nach Zürich verlegt, wofür weniger die steuerlichen Begünstigungen als die Vorteile der Limmatstadt als bedeutsamer Handels-, Banken- und Hochschulplatz den Ausschlag gaben.97 Da mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs die Angst vor einer deutschen Invasion wuchs und Erschwernisse in der Kommunikation mit den ausländischen, vorwiegend im Hoheitsgebiet der Alliierten gelegenen Tochtergesellschaften befürchtet wur-den, wurde der Geschäftssitz im November 1939 nach Lausanne verlegt.

Indirekt lässt sich das Ausmass des Marktauftritts auch an der Entwick-lung des Eigenkapitals ablesen. Die bei der Gründung der Aktiengesellschaft C. F. Bally 1907 einbezahlten 8 Millionen Schweizer Franken wurden im Zug des Ersten Weltkriegs sukzessive auf 12 ( 1914 ), 18 ( 1917 ) und 24 Millionen ( 1919 ) angehoben. Zuhanden der Konzerngründung wurde einer Erhöhung auf 40 Millionen zugestimmt. Die Umbaupläne genossen also Kredit, verursachten

aber auch Kosten : In der Erfolgsrechnung 1921/22 wies Bally einen Verlust von gut 2,1 Millionen aus.98 Unter dem Eindruck der Reorganisation blickte Eduard Bally, der sich als Ehrenpräsident und Delegierter des Verwaltungsrats in die zweite Reihe zurückgezogen hatte, mit einer gehörigen Portion Skepsis in die Zukunft : « Das Jahr 1922 ist wohl für die Ballyfirmen das bedeutungsvollste, denn das nötigte die Firma zu einer completen Neu-Organisation, um sie aus den von den voran gehenden Krisenjahren veranlassten Verlusten zu heben. »99 Übersetzt in die Sprache der Betriebswirtschaftslehre liesse sich von « Pfad-schöpfung » sprechen, das heisst einer Phase, in der betriebliche Pfadabhängig-keiten nicht routinehaft exekutiert, sondern planvoll aufgebrochen werden.

Werner Plumpe ruft dazu auf, ebendiese Phase in den unternehmenshistori-schen Blick zu nehmen, stellt sie doch einen individuellen und situativen Pro-zess dar, der in manchen Fällen gelingen, in vielen aber auch fehlschlagen kann.100 Für ein Buch, das an angewandtem Marktwissen interessiert ist, liesse sich ergänzen, dass in diesen Umbruchsphasen Marktmodelle auf den Prüf-stand gestellt und gegebenenfalls angepasst werden. Es stellt sich die Frage : Von welchen Konzepten und Visionen liessen sich die Schönenwerder Verant-wortungsträger 1921/22 leiten ? Und wer war die treibende Kraft hinter der Re-organisation des Schuhkonzerns ?

Vertikale Organisation

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 115-121)