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Gegenstand, Quellen, Aufbau der Arbeit

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 26-35)

Der hier porträtierte schweizerische Schuhmarkt beinhaltet eine Fülle an Akteuren, Episoden und Entwicklungen. Konflikte schwelten in der Zwischen-kriegszeit auf der horizontalen Ebene zwischen Marktkonkurrenten gleicher Stufe ebenso wie auf der vertikalen Ebene, wo Marktteilnehmer benachbarter Stufen miteinander wirtschafteten. Es waren dies Konflikte, die für viele Wirt-schaftsbranchen der Schweiz charakteristisch waren und von den Zeitgenos-sen mit grossem Interesse verfolgt und kommentiert wurden.62 Nach dem Take-off der Industrialisierung musste das Schuhmachergewerbe, vormals eines der zahlenmässig stärksten und dichtesten Metiers, die Neuproduktion von Schuhen aufgeben ; für den Unterhalt von Schuhgeschäften fehlte den Ein-Mann-Betrieben nicht selten das Kapital. Die 11 772 im Jahr 1929 als Schuh-macher gemeldeten Gewerbetreibenden bestritten ihren Lebensunterhalt mit dem Instandsetzen abgetragener Schuhe und besorgten Massanfertigungen oder orthopädische Arbeiten nur mehr in Ausnahmefällen. Die Neuproduk- tion von Schuhen oblag den gut kapitalisierten Fabrikbetrieben.63 Während im

gleichen Stichjahr 98 hauptsächlich auf der Achse Aarau — Olten angesiedelte Schuhfabriken am Binnenmarkt konkurrierten, vermochten sich auf dem Welt-markt nur drei — darunter ein schuhwirtschaftliches Grossunternehmen — zu behaupten. Zur Erringung eines Wettbewerbsvorteils waren weniger Werk-zeugmaschinen und Produktionsverfahren, deren Verbreitung in der Schweiz früh und gleichförmig erfolgte, als ein optimales Ineinandergreifen der betrieblichen Herstellungs- und Vertriebsprozesse ausschlaggebend. Die Schuhfabriken buhlten mit Strategien der Individualisierung, Ästhetisierung und Kommerzialisierung um die Gunst von « Herrn und Frau Schweizer ». Das Warensortiment, das über betriebseigene wie betriebsfremde Verkaufskanäle auf den Markt gelangte, war aus Leder-, Textil-, Holz- und — vergleichsweise neu — auch Gummiwerkstoffen gearbeitet. Das Angebot beinhaltete Arbeits-, Gesundheits-, Sport-, Militär-, Haus-, Halb- und Abendschuhe für jeden Ge-schmack und Geldbeutel. Im Stichjahr 1929 wurden schweizweit ungefähr 8 870 000 Schuhe umgesetzt. Für deren Kauf und Reparatur wendeten die gut 4 Millionen EinwohnerInnen durchschnittlich 2 Prozent ihrer Haushaltsbud-gets auf. In städtischen Angestellten- und Beamtenfamilien tätigten Frauen mit 28 Schweizer Franken pro Jahr die höchsten Ausgaben, Männer schlugen mit 23 und Kinder mit 21 Franken zu Buche. In der Zwischenkriegszeit ver-schwand das Barfussgehen, das während vieler Jahrzehnte gepflegt worden war, fast vollständig aus den ( vor- )alpinen Randgebieten ; auf die physische Schutz- und symbolische Kommunikationsfunktion der Schuhe wollte kaum mehr jemand verzichten.

Das Marktgeschehen war, nicht zuletzt wegen der wechselnden Jahres-zeiten und Modesaisons, in stetem Wandel begriffen und mit zahllosen Unwäg-barkeiten gespickt. Vertrackt war das Spiel von Angebot und Nachfrage nach Schuhen vor allem in Momenten des konjunkturellen Auf- beziehungsweise Abschwungs und in Phasen struktureller Brüche und Neuausrichtungen. So ge-schehen zur Zeit der globalen Weltwirtschaftskrise, als die Schweiz vergleichs-weise spät, dafür aber langwierig von den wirtschaftlichen Schockwellen er-fasst wurde. Bis 1936/37 wurden grössere Quantitäten auf den Schuhmarkt geführt, als abgesetzt werden konnten. Vor diesem Hintergrund geriet das Preisgefüge unter Druck. Ausgedrückt im nominalen Preisindex für Schuhe ( 1914 = 100 ) betrug der Rückgang 80 Punkte. Nicht wenige Gewerbe- und

F a brikbetriebe standen am Rand des finanziellen Ruins und drohten aus dem Schuhmarkt auszuscheiden. Unter diesem Eindruck strebten die Berufs- und Branchenverbände einen kollektiven Interessenausgleich an und suchten bei Politik und Behörden um Unterstützung nach — mit dem Ergebnis, dass sich kontrovers beurteilte Machtballungs- und Regulierungsprozesse entfalteten.

Im Rückblick fiel das Urteil über den Epochencharakter der schweizerischen Schuhwirtschaft düster aus. Der Direktor einer mittelgrossen Schuhfabrik resümierte 1940 : « Ein bis in die Grundfesten erschütterter Wirtschaftszweig unseres Landes als Ausfluss und Folge der Nachkriegswehen des Völkerringens 1914/18 hat nicht Zeit gefunden, bis zum Ausbruch des neuen Kriegs, also wäh-rend 20 Jahren, für sein weiteres Fortbestehen eine gesunde Lebensbasis zu finden. Im Gegenteil, der neue Krieg überraschte eine unendlich viel schwä-chere schweizerische Schuhwirtschaft als der Krieg 1914. »64

Grundsätzlich lässt sich die Geschichte des schweizerischen Schuhmarkts auf verschiedene Arten erzählen. Um das Marktwissen in Aktion identifizieren und analysieren zu können, habe ich mich gegen eine geschlossene und chro-nologisch angelegte Erzählweise entschieden. Hierfür waren mehrere Gründe ausschlaggebend : Zum einen musste ich der disparaten Quellenlage Rechnung tragen. Wie bei anderen Themen der Alltagsgeschichte sprudeln die Quellen zu den marktförmigen Imaginationen und Praktiken weder reichlich noch regel-mässig. In der Recherchephase zeigte sich, dass die allzu gut vertrauten, die tägliche Lebensführung bestimmenden Vorstellungen, Handlungen und Dinge weniger oft verschriftlicht wurden, als ich erhofft hatte.65 Nach den Spuren des schweizerischen Schuhmarkts Ausschau zu halten, bringt es mit sich, private, kommunale, kantonale, nationale und auf Fragen der Wirtschafts- und Sozial-geschichte spezialisierte Gedächtnisinstitutionen zu konsultieren. Doch nicht einmal eine « industrielle und obsessive Tätigkeit » bietet Gewähr,66 auf sach-dienliches Quellenmaterial zu stossen. Die Zuhilfenahme informationstechno-logischer Instrumente ebenso wie das Einbeziehen digitalisierter Findmittel und Datenbanken entschärfte die Quellenproblematik zwar, löste sie aber nicht.67 In der Zusammenschau bietet dieses Material, das kapitelweise vorge-stellt und diskutiert wird, die Chance, implizit ablaufende und zu Routinen verfestigte Deutungs- und Handlungsmuster rund um den schweizerischen Schuhmarkt sichtbar zu machen.

Erschwerend kommt im Falle einer Wissensgeschichte ökonomischer Prak-tiken hinzu, dass sich die routinehaften Handlungen niemals ungebrochen beob-achten lassen. Selbst die als Ratgeberliteratur angepriesenen « Alltagsanleitun-gen » sind « Vorbild und Abbild der gelebten Wirklichkeit zugleich », so dass sich ein direkter Rückschluss von den Texten auf die Praxis verbietet.68 Abhilfe schaf-fen theoretische Anleihen aus den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen und forschungspraktische Umwege. Nach Jakob Tanner besteht die Herausforde-rung gerade darin, der « Unsichtbarkeit » anthropologischer Handlungsfelder und der relativen Quellenarmut « mit produktiven Fragestellungen » zu begegnen, um die wenigen eruierbaren « Spuren erkennbar zu machen, welche diese verborge-ne Geschichte erzählbar machen ».69 Als produktiv haben sich in erster Linie dis-ruptive Ereignisse70 erwiesen : Sei es, dass neuartige Techniken und Verfahren bei ihrer Einführung Irritationen und Probleme hervorriefen und nach einer zeit-nahen Behebung verlangten ; sei es, dass die Schuhmarktakteure im Falle offener Kritik oder handfester Konflikte von Schlichtungsinstanzen zur Offenlegung ihrer Sichtweisen und Routinen aufgefordert wurden ; oder sei es, dass mit Autorität ausgestattete Wissenschaftler eine Bestandsaufnahme des Status quo vornahmen und Empfehlungen aussprachen. Paradoxerweise waren es häufig ausseralltägliche Episoden, die Rückschlüsse auf Abläufe im Alltag erlauben.

Zum anderen messe ich der Multiperspektivität einen hohen Stellenwert bei. Um die Anstrengungen von ( schuhwirtschaftlichen ) Handwerkern, Fabri-kanten, Händlern, KonsumentInnen, Behördenmitgliedern und Wissenschaft-lern abbilden zu können, war es unerlässlich, nicht nur die Forschungs-, son-dern auch die Erzählperspektive zu dezentralisieren. Zu ein und demselben Zeitpunkt gab es jeweils ein buntes Neben- und Gegeneinander heterogener Wissensbestände und Marktpraktiken. Aus diesem Grund wird in Auf Schritt und Tritt eine einheitliche temporale Struktur und ein eindimensionales Zeitmodell verworfen. Als Untersuchungszeitraum habe ich die symbolischen Eckdaten 1918 und 1948 gewählt ; sie sollen die bewegte, von zahlreichen Markt- wie Nicht-Marktsystemen geprägte Zwischenkriegszeit kenntlich ma-chen und ausgewählte Begebenheiten aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg miteinschliessen. Um die schuhspezifischen Ereignisse erklärbar zu machen, werde ich ab und an auch erklärende Vor- und Rückgriffe vornehmen, die über den Untersuchungszeitraum hinausweisen.

Nach einer Beobachtung von Peter Burke pflegen SozialhistorikerInnen ihre Untersuchungsgegenstände gewöhnlich durch das Teleskop zu betrach-ten, wohingegen HistorikerInnen mit einem anthropologischen Erkenntnisin-teresse dem Mikroskop zuneigen.71 Das Analyseobjekt dieses Buches soll gleich einem Blick durch das Kaleidoskop zerlegt und gespiegelt werden und so die Berührungspunkte und Bruchstellen des schweizerischen Schuhmarkts hervortreten lassen. Mittels Drehung lässt sich der Gegenstand spielerisch in Bewegung setzen und in neuer Gestalt einsehbar machen. Weiter erlaubt ein kaleidoskopähnlicher Aufbau, Perspektivenwechsel vorzunehmen und ein Spiel mit Grössenordnungen zu initiieren ; auch mag es durch minimales Dre-hen gelingen, erklärungsbedürftige Facetten in einen neuen Zusammenhang zu stellen. In jedem Kapitel wird ein zentraler, am schweizerischen Schuh-markt teilnehmender Akteur in den analytischen Blick genommen. Eine line-are Lektüre ist zweckmässig, aber nicht zwingend. Wie beim Kaleidoskop, wo sich der Gegenstand durch Spiegelungen immer wieder neu bildet, wird der schweizerische Schuhmarkt durch die aufbereiteten Quellen, das wirt-schaftshistorische Vorwissen und die wirtschaftssoziologischen Diskussions-zusammenhänge mitgeformt. Im Wissen um diese Bedingtheiten lege ich zu Beginn jedes Kapitels die Chancen und Grenzen der gewählten Perspektivie-rung offen ; in diesen Abschnitten ist auch die ausführliche SchildePerspektivie-rung der akteursspezifischen Quellenüberlieferung enthalten. Am Kapitelende werden die zentralen Entwicklungs- und Bruchlinien in einer « Zusammenfassung » benannt.

In fünf Kapiteln werde ich diejenigen Akteure vorstellen, die die soziale Struktur des schweizerischen Schuhmarkts im Wesentlichen ausmachten. Be-gonnen wird im Kapitel « Marktverlierer » mit den von vielen Seiten totgesagten Schuhmachern und Schuhhändlern. Wider Erwarten vermochten sich die In-haber kleingewerblicher Betriebe in der Zwischenkriegszeit am Rand des Schuhmarkts festzusetzen und die Marktkräfte zu unterlaufen. Zur mittel-standspolitischen Einheitsfront vereinigt, begannen sie seit den späten 1920er-Jahren, politischen Druck auf die in der Verfassung verankerte Handels- und Gewerbefreiheit auszuüben. Ihre Hinwendung zu politischen Mitteln der Marktbeeinflussung läutete einen sich über mehrere Jahre erstreckenden Prozess der statistischen Transformation des Schuhmarkts ein. Das Kapitel

« Marktmacht » führt dann den Primus der schweizerischen Schuhwirtschaft, die C. F. Bally AG, ein. Die Mitte des 19. Jahrhunderts in kleingewerblichen Verhältnissen gegründete Unternehmung, die ihre Rohstoff- und Warenströme bald auf dem Weltmarkt umsetzte, justierte ihre Organisation in den frühen 1920er-Jahren neu. Eine Konzernstruktur sollte die Marktfähigkeit und Markt-sicherung der betrieblichen Anstrengungen gewährleisten. Um den vernach-lässigten Binnenmarkt zu stärken, wurden die Rationalisierung des Produk-tionsapparats und die Psychologisierung des Vertriebskanals angeordnet.

Infolge der tatsächlich erreichten — oder von den Konkurrenten auch nur befürchteten — Marktmacht leistete manch anderer Schuhmarktteilnehmer Widerstand. Im Kapitel « Marktverantwortung » stehen die Hausfrauen im Zen-trum. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs klagten sie in Marktdemonstrationen die ungenügende Verteilung von Waren des täglichen Bedarfs an. Aus der Einsicht, dass die marktimmanente Einkaufspraxis volkswirtschaftlich be-deutsam sei, schlossen sich Mitte der 1930er-Jahre viele Hausfrauen zu einer sozialen Bewegung zusammen. Ihr zentrales Anliegen bestand in der sozial-politischen Durchleuchtung anonymer Marktwaren, wofür sie ein Zertifizie-rungsverfahren ersannen. Das Kapitel « Marktregulierung » hat anschliessend die klandestinen Sekretäre der drei wichtigsten schuhwirtschaftlichen Berufs-verbände zum Gegenstand. Unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise ver-suchten sie, die Teilnahme am schweizerischen Schuhmarkt von der Erfüllung spezifischer Wettbewerbspraktiken abhängig zu machen. Wer nach radikalen Innovationen strebte — wie die in der Tschechoslowakei beheimatete Gross-firma Bata Schuh AG —, wurde von den Verbandssekretären als Outsider gebrandmarkt und bekämpft. In seltener Eintracht dachten die Sekretäre infor-melle wie auch forinfor-melle Formen der Marktregulierung an, die 1934 in Gesetzesform gegossen wurden. Welche marktspezifischen Lernprozesse in der Zwischenkriegszeit durchlaufen wurden, darum geht es im sechsten Kapi-tel « Markterfahrung ». Mitten im Zweiten Weltkrieg wurden Vorkommnisse aus dem Schuh- und anderen Warenmärkten zur Diskussion gestellt. Damit dieses Wissen besser zirkulieren konnte und Marktpraktiker wie Markttheoretiker ein Forum zur Verständigung erhielten, wurde die Gesellschaft für Marktforschung gegründet. Diese schickte sich in den 1940er-Jahren an, die Institution des Markts semantisch und statistisch zu fassen. Im abschliessenden Kapitel

« Rundblick » setze ich die in den schweizerischen Schuhmarkt eingebundenen Akteure miteinander in Beziehung. Dabei werden die Alleinstellungsmerkmale des Fallbeispiels herausgearbeitet und die Desiderate für weiterführende Marktgeschichten benannt.

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Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 26-35)