• Keine Ergebnisse gefunden

Schuhhändler

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 62-69)

Das eigenständige Schuhgeschäft ist eine Begleiterscheinung der Schuh-fabrik. Schuhmacher versuchten Umsatzeinbussen in der Neuproduktion durch Beratung und Verkauf von Fabrikschuhen zu kompensieren. Der Über-tritt vom Schuhmacher zum Schuhhändler liess sich gemäss Eduard Bally-Prior ( 1847 — 1926 ), der Carl Franz Bally an der Spitze der gleichnamigen Schuhfabri-ken ablöste, um die Jahrhundertwende so einfach vollziehen wie nie zuvor oder danach : « Mit weniger als Fr. 1000. — Kapital konnte damals ein Schuhhan-del angefangen werden, namentlich dank der Organisation der Grossisten, die Kredit gewährten und wie in keinem andern Lande mit Reassortimentslagern aushalfen. »121 Tatsächlich fungierten Grosshändler bis in die 1930er-Jahre hin-ein als Financiers und Lagerhalter der gelernten Schuhmacher und unterbrei-teten diesen ihre bis zu 100 Schuhtypen umfassenden Kollektionen.122 Um zusätzliche Einnahmen aus dem Verkauf von Fabrikschuhen erwirtschaften zu können, mussten die Schuhmacher ihre Werkstätten um einen ( Vor- )Raum erweitern und mit Ladentheke, Schautisch, Sitzgelegenheit und Spiegel be-stücken. Wie das Beispiel der Werthmüllers eindrücklich zeigt, waren die

« weitherzigen Warenkredit[e] » allerdings nicht frei von Risiko. Das Kredit-wesen mitsamt seinen Vorgriffen auf zukünftige Einnahmen war Gegenstand langjähriger Reform- und Reglementierungsbestrebungen.123

Im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert nahmen Vielfalt und Vielzahl der kleingewerblichen Handelsbetriebe zu. Die Geschichte des schweizerischen Detailhandels ist noch kaum erforscht, erahnen lässt sich der gewerbliche Strukturwandel anhand von Uwe Spiekermanns Studie zur deutschen « Basis der Konsumgesellschaft ».124 Auch hierzulande dürften Zahl und Dichte der Detailläden zugenommen und sich die Art und Weise, wie um die Gunst und das Geld von « Herrn und Frau Schweizer » gebuhlt wurde, vervielfältigt haben.

Zu den altbewährten Verkaufsformen wie Wanderhandel, Jahr- und Wochen-märkte, Depots und Gemischtwarenläden125 kamen Spezialgeschäfte, Konsum-vereine sowie Waren- und Kaufhäuser hinzu. Mit Gewissheit lässt sich für das schweizerische Schuhgewerbe nur sagen, dass Mischformen praktiziert wur-den . Wie viele Schuhmacher ihren Tätigkeitsschwerpunkt auf wur-den Handel verlegten, lässt sich aber zahlenmässig nicht bestimmen. In der 1905 durchge-führten Eidgenössischen Betriebszählung wurden Gewerbeeinheiten als Werk-statt oder Laden, also als Reparatur- oder Handelsbetrieb gewertet, Hybride dagegen unterschlagen. Im Untersuchungszeitraum versuchten zudem fahren-de Läfahren-den, Einheitspreisgeschäfte, Ketten- und Massenfilialgeschäfte in die Schuhdistribution einzudringen. Aus Gründen, die im Abschnitt « Eindringen in den Handel » ( S. 139 ) diskutiert werden, betätigten sich auch die Schuh-fabriken ab Mitte der 1920er-Jahre im Schuhhandel und überzogen die schwei-zerischen Mittel- und Grossstädte mit Filialsystemen.126 In diesem Kontext geriet der kleingewerbliche Schuhhandel so stark in Bedrängnis, dass viele Schuhhändler wie die Werthmüllers zerdrückt wurden und aus dem Markt aus-schieden. Gleichwohl vermochte sich manch kleiner Betrieb zu behaupten ; die Betriebszählungen von 1929 und 1939 förderten einen stabilen Prozentsatz kleingewerblicher Handelsbetriebe zutage. Im Stichjahr 1939 wirtschafteten 1105 Schuhwaren-Läden mit 3463 Angestellten ; davon waren 297 Einzelbetrie-be und 575 KleinEinzelbetrie-betrieEinzelbetrie-be mit zwei bis drei MitarEinzelbetrie-beiterInnen, insgesamt Einzelbetrie- be-schäftigten sie also etwa 1300 Personen.127

Bei einer kleingewerblichen Schuhhandlung handelte es sich idealtypisch um ein Mehrgenerationenprojekt, in das Frauen und Kinder involviert waren.

« Wo derart mit vereinten Kräften gearbeitet wird, blüht in der Regel auch das Geschäft, und konsolidiert sich der Haushalt », gab sich beispielsweise die Schweizerische Schuhmacher-Zeitung überzeugt.128 Es begann damit, dass ein

gelernter Schuhmacher seinem Reparaturbetrieb einen Schuhverkauf anglie-derte. In der zweiten Generation konzentrierten sich die Söhne und Töchter dann stärker auf die Handelsfunktion ; das familienintern tradierte Wissen — einerlei, ob es sich um die Qualitätsmerkmale des Schuhs, die Kontakte zu den Fabriklieferanten, die Einrichtung des Geschäftslokals oder die Pflege des Kunden stamms handelte — wurde nicht selten um eine kaufmännische Berufs-bildung erweitert. Die dritte Generation tauschte die Handwerksschürze end-gültig gegen das gestärkte Hemd beziehungsweise die weisse Bluse und betä-tigte sich im Büro, Warenlager oder Verkaufsraum. Diese Verwandlung des Schuhmachers zum Gewerbetreibenden quittierte das Handbuch der schweize-rischen Volkswirtschaft mit einem resignativen Unterton : « Mit der Entwicklung des Handwerkers zum Händler erfährt seine schöpferische Tätigkeit eine Rück-bildung, was zu bedauern ist. Doch es gilt auch für das Handwerk, sich den Verhältnissen anzupassen. »129

Die Feststellung, dass zahlreiche Schuhmacher in den Schuhhandel über-traten, sagt noch nichts darüber aus, wie sie dabei vorgingen und dem Wettbe-werbsdruck entkamen. Evident ist, dass Leistungsdifferenzen nicht in der Ware selbst, sondern in der Art und Weise, wie diese aufbereitet oder angebo-ten wurde, begründet liegen mussangebo-ten. Spiekermanns Studie legt nahe, dass grundsätzlich die Gewährung von Krediten, individualisierte Bedienungs- und Beratungsleistung, opulente Auslage, gute Erreichbarkeit und anderes mehr in Stellung gebracht werden konnte.130 Zwei Schuhhandlungen sollen exempla-risch aufzeigen, wie mithilfe einer reflexiven Auslotung der eigenen Marktlage und konsequenten Anpeilung einer Marktnische der Verbleib im schweizeri-schen Schuhmarkt gelingen konnte.

Zum einen ist die Schuhhandlung Dosenbach aufschlussreich, deren Gründerin Franziska Dosenbach-Buchmann ( 1832 — 1917 ) aus Bremgarten im Kanton Aargau stammte.131 Während ihr Mann, ein gelernter Sattler, das Fami-lieneinkommen mit Störarbeiten erwirtschaftete und auf Vorrat produzierte Waren auf lokalen Märkten absetzte, machte Franziska 1865 bei einer solchen Gelegenheit eine zukunftsweisende Entdeckung : Probehalber übernahm sie einen kleinen Posten Fabrikschuhe, die « weder schön noch formlich einwand-frei », dafür aber preiswert waren und bot sie den MarktbesucherInnen an.132 Mit ihrer « Schuhbude » frequentierte sie regionale Märkte, später dann auch

überregionale Markt- und Messeveranstaltungen in Zürich, Luzern, Zug, Bern und Basel.133 Ihre Geschäftstüchtigkeit trug ihr im Heimatort den Spitznamen

« Finke Fränzi » ein. Zwecks Vergrösserung und Verstetigung des Schuhhandels stiess sie die Sattlerei ihres inzwischen verstorbenen Ehemannes ab und eröff-nete 1876/77 ein erstes Detailgeschäft in Zürich ; im Jahr 1878 folgte ein weite-res in Baden. An der Führung der Schuhmagazine C. Dosenbach & Cie beteiligte sie mehrere ihrer dreizehn Kinder.

Auch im ladengebundenen Handel spielten Marktnähe und Warenambi-ente eine zentrale Rolle. Sehr früh erkannten die Dosenbachs, dass die Leis-tungsdifferenz in der Schuhvermittlung auf symbolischer Ebene erbracht wer-den musste : Weg von der textlastigen Reklame, wie sie in Kleinanzeigen allgegenwärtig war und marktschreierisch um die Aufmerksamkeit der Leser-schaft buhlte, und hin zur Werbung, die zwischen Produkt und KonsumentIn ein Spiel der Bedeutungen und Gleichnisse eröffnete.134 Wer Schuhe verkaufen wollte, der hatte immer auch die Schaulust des Publikums zu befriedigen.135 Gegen Ende des Ersten Weltkriegs engagierten die Schuhmagazine C. Dosen-bach & Cie136 den dazumal noch unbekannten Otto Baumberger ( 1889 —1961 ), der sich als Maler, Bildjournalist und Gebrauchsgrafiker bald einen erstklassi-gen Ruf erwerben sollte ; dank seiner mehr als 200 Werken wurde er posthum als Erneuerer des nationalen wie internationalen Plakatwesens gefeiert.137 Ver-siert in allen Techniken der Grafik, sind seine frühen Arbeiten dem Jugendstil und Art déco verpflichtet. Für die Anpreisung der Fussbekleidung schuf Baum-berger für Dosenbach zwei Lithografien, deren Stärke in der visuellen Verknap-pung liegt und die das von Dosenbach behauptete Alleinstellungsmerkmal ein-dringlich auf den Punkt bringen. So zeigt das aus dem Jahr 1922 stammende Plakat « Grosser Schuhmarkt » einen « Lederberg » aus Finken, Pantoffeln, Schnürbottinen, Damenpumps und weiteren Schuhen, dessen Umriss an die Silhouette des Matterhorns erinnert.

Die markante Zermatter Felsenpyramide avancierte im 20. Jahrhundert zu einem nationalen Symbol, das Logos, Verpackungen und Annoncen vieler Konsumgüter zierte. Die vom Plakat ausgehende Botschaft lässt sich folgender-massen formulieren : Auf der Suche nach gleichsam erstklassigen und preis-werten Schuhen durchquere Dosenbach die gesamte Schweiz und statte den Schuhfabriken Besuche ab. Das riesenhafte Angebot an Fabrikschuhen werde

in Augenschein genommen. Die Spitze des heimischen Schuhschaffens finde die Kundin oder der Kunde schliesslich in den Auslagen der Dosenbach- Geschäfte vor. Dass Baumbergers Plakatgestaltung allenthalben Eindruck machte, zeigen die zahlreichen Aufträge, die er in den 1920er- und 1930er-Jah-ren von der schweizerischen Schuhwirtschaft erhielt.138

Zum anderen ist das Schuhhaus Wilhelm Gräb eine Betrachtung wert.

Eine Leistungsdifferenz führte der 1882 aus einem Massgeschäft beziehungs-weise einer Reparaturwerkstätte hervorgegangene Betrieb durch die räumliche Entgrenzung seines Schuhvertriebs ein : Er fügte seinem in unmittelbarer Nähe des Zürcher Grossmünsters gelegenem Verkaufslokal ein Versandhaus an.139

Abbildung 13 Das Angebot des Schuhmagazins Dosenbach soll — schenkt man einem Plakat von 1922 Glauben — so gross und imposant wie das Matterhorn gewesen sein.

Den « Lederberg » aus Finken, Pantoffeln, Schnürbottinen und Damenpumps schuf der Zürcher Maler und Gebrauchs-grafiker Otto Baumberger.

Von dieser Dienstleistung machten KundInnen aus ländlichen oder ( vor- )alpinen Gegenden Gebrauch. Wo der Besuch eines Schuhgeschäfts einen zwei- bis drei-stündigen Fussmarsch voraussetzte, bedeutete der Einkauf per Katalog eine bequeme Alternative.140 Im Sinn einer vertrauensbildenden Massnahme pfleg-te Gräb seinem Versandkatalog « Urpfleg-teile unserer Kunden » voranzuspfleg-tellen. Au-genfällig ist, dass diese Zuschriften allesamt aus weit entfernten Gebieten stammten : Biasca am Eingang des Valle di Blenio ( Tessin ), eine Siedlung im Val d’Hérémence ( Wallis ), Ringgenberg am Brienzersee ( Bern ), ja sogar Omori bei Tokio ( Japan ) tauchen in den Briefköpfen auf.141 Freilich gab es noch weitere Gründe, warum die Interaktion von Angesicht zu Angesicht vermieden wurde : KundInnen, « welche von sich wissen, dass sie sich im Laden nicht leicht der

Abbildung 14 Der Schuhversand hat eine lange Geschichte.

Seit der Jahrhundertwende vertrieb das Zürcher Schuhhaus Wilhelm Gräb schweizweit Fussbekleidungen. Die Doppel-seite zeigt « Knaben-Artikel » in einem Versandkatalog aus dem Jahr 1927.

Beeinflussung durch das Verkaufspersonal entziehen können », schätzten die Entpersonalisierung des Schuhverkaufs.142 Eine anonymere Transaktion war am schweizerischen Schuhmarkt schlicht nicht zu bekommen.

Damit ein Versandhandelsgeschäft Umsatz generieren konnte, hatte es zwei kritische Voraussetzungen zu erfüllen. Auf der einen Seite war ein infor-mativer Versandkatalog vonnöten, der neben den obligaten Angaben zu Name, Funktionalität, Material und Preis auch aussagekräftige Schuhabbildungen aufwies. Gräb gestaltete seine Kataloge mit beträchtlichem Aufwand, setzte Details wie die Schuhsohle, Sohlennähte, Nagelbeschläge oder Absatzplatten ins Bild und versuchte generell durch perspektivische Wiedergaben einen plas-tischen Eindruck der angebotenen Ware zu erzeugen.

Auf der anderen Seite war ein kulanter Umgang mit Fehlbestellungen und Retoursendungen unumgänglich. Gräb riet seinen KundInnen zu umfassenden Angaben ; genannt werden sollte « entweder die Schuhnummer, oder, wer diese nicht kennt, die Länge des Fusses in Centimetern, oder man sende einen alten Schuh ein, der mit den neuen zurückgesandt wird ». 143 Zum Leidwesen der meisten Schuhmarktakteure hatte sich im Untersuchungszeitraum kein ein-heitliches Grössensystem durchsetzen können, gebräuchlich waren wahlweise das französische Stichmass, die englisch-amerikanische Nummerierung oder das metrische System. Die Schweizer Militärschuhe wurden ebenfalls metrisch, das heisst in Zentimetern, gemessen.144 Für zusätzliche Unsicherheit sorgte der Umstand, dass formal identische Grössen- und Breitenmasse je nach Land, Fabrik, Modetrend und Leistenform voneinander abweichen konnten.145 Den Versandhandel stellte Gräb erst ein, als Schuhe der kriegswirtschaftlichen Überwachung unterstellt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg begnügte sich das Schuhhaus damit, ein gewöhnliches Bedienungsgeschäft zu sein.

Kommt man auf die eingangs dieses Kapitels erwähnte historiografische Kontroverse zurück, zählen die Schuhhandlung Dosenbach wie auch das Schuhhaus Gräb zu den Marktgewinnern. Im Wettbewerb mit den modernen Schuhverteilern vermochten sie zu bestehen, indem sie das Verlangen der Kon-sumentInnen nach Wahlmöglichkeiten und Bequemlichkeit antizipierten, das entsprechende Wissen und die zugehörigen Praktiken familienintern weiterga-ben und es verstanden, den über Generationen hinweg gewachsenen Reputa-tionsgewinn auszuspielen.

Gewerbliche Einheitsfront

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 62-69)