• Keine Ergebnisse gefunden

Massen­ zum Randphänomen herab

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 35-40)

Vor dem Berner Amtsgericht wurde 1915 eine von Elise Werthmüller gegen Johannes Werthmüller angestrengte Klage verhandelt. Elises Fürsprecher stellte das Begehren, die Ehe, die sechs Jahre zuvor geschlossen worden war und vier Kinder hervorgebracht hatte, zu scheiden. Der Klageschrift ist zu ent-nehmen, dass gegenseitige Entfremdung und aussereheliche Beziehungen bei- der Ehepartner die Fortführung der Lebensgemeinschaft verunmöglichten. In einer ersten Stellungnahme räumte Johannes Werthmüller ein : « Die Angaben meiner Frau sind in allen Teilen richtig, nur hat sie nichts von ihren Fehlern gesagt » und kündigte an, eine « eingehende Beschreibung unseres Ehelebens » vornehmen und die Abschrift dem Gericht zukommen lassen zu wollen.1 Über die Triftigkeit der ehelichen Zerrüttung und die Fürsorge der Kinder hatten ein Gerichtspräsident und vier Laienrichter zu befinden, die Hauptverhandlung wurde auf den 10. November 1915 angesetzt.

Wertvoll ist der minuziös dokumentierte Gerichtsfall, weil das Ehepaar nicht nur eine Lebens-, sondern auch eine Wirtschaftsgemeinschaft bildete.2 Eine Beziehung, notabene, in der neben den Kindern vor allem Schuhe im Mittelpunkt standen. Handlanger, Tagelöhner, Schuster, Holzschuhmacher, Reparaturschuhmacher, Sohler, Schuhhändler und andere Berufsangaben mehr tauchen in den Akten auf. In seinen eigenhändigen, ohne Hilfe eines Anwalts verfassten Aufzeichnungen betrieb Johannes einen grossen Auf-wand, die Ehe als eine primär aus rationalem Kalkül geschlossene Wirt-schaftsbeziehung hinzustellen.3 Hierbei setzte er mit der Erklärung ein, dass er der Familie eines bei Frittenbach bei Zollbrück, Kanton Bern, ansässigen Landwirts und Schusters entstamme. In Nachfolge seines Vaters, der « als ein sehr arbeitsamer, rechtschaffener, Werthmüller überall bekannt u. geliebt

war »,4 habe er sich 1908 seinerseits dem « Schuhgewerbe » zugewandt. Hin-sichtlich einer zeitgemässen Ausstattung und der steten Verfeinerung seiner handwerklichen Fertigkeiten wollte er es an nichts fehlen lassen, sogar Kredi-te habe er aufgenommen, denn « Leder beläuft sich so schwer ins Geld ».5 Als Ein-Mann-Betrieb war er erpicht, seine Arbeitskapazität durch die Beschäf-tigung von Gesellen zu erhöhen. Auf « vielfache anstrengung [sic !] meiner Eltern » und weiterer Bekannter habe er im Dezember 1909 sodann geheiratet.

An der um ein Jahr älteren Magd Elise Hasler habe er Gefallen gefunden, weil sie an einem sozialen Aufstieg interessiert und « ein fleissiges, arbeitsames Mädchen war, aber die rechte Liebe hatte ich nie zu meiner Frau, das spürte ich immer ».6

Da das Schuhmachergewerbe im Emmental wenig einbrachte, siedelte das frischvermählte Ehepaar nach Grafenried über und investierte in die klein-gewerblichen Grundlagen. Zum einen erweiterte Johannes das Kerngeschäft um die Herstellung von Holzschuhen. Unter Mithilfe von sechs bis sieben Arbeitern produzierte er im Jahresdurchschnitt 6000 Schuhpaare, daneben be-sorgte er weiterhin Schuhbesohl- und Reparaturarbeiten. Um gegenüber den Schuhfabriken, die « ja alle kleineren Geschäfte übernehmen wollten »,7 beste-hen zu können, stellte er auf eine mechanische Ausrüstung um. Zum anderen gedachte das Ehepaar Werthmüller, seine Einkommensquellen zu diversifizie-ren, und nahm den Verkauf von Fussbekleidung aller Macharten an die Hand.

Diese Ausdehnung sollte sich allerdings nicht bezahlt machen, im Gegenteil :

« [A]lles was wir verdienten, ging uns an dem kritischen Schuhhandel kaput [sic !], das sah ich schon das erste Halbjahr ein, aber konnte hallt [sic !], wie ich meinte, nicht mehr gut aufhören, um den Vorrat, den ein Schuhhändler bei jetziger Zeit haben muss zur Auswahl, beläuft sich schwer im Kapital. »8 Die Auslagen überstiegen die Einkünfte, die Tilgung der Schulden fiel von Woche zu Woche schwerer. Im Gestus eines in der persönlichen Ehre geschmä-lerten Familienoberhaupts schob Johannes die Schuld an der wirtschaftlichen Misere seiner Frau in die Schuhe. Arbeitsam, gewiss, das sei sie, aber eben auch nachlässig, « sie schreibt sehr ungern, ich musste immer schimpfen, wenn ich nach Hauss [sic !] kam, wegen der Schreiberei, denn viel wurde nicht einge-schrieben, oder wurde dann zum zweiten mal noch abgefordert u. so verlor man auch Kundschaft ».9

Wie er im Schreiben zuhanden des Berner Amtsgerichts weiter ausführte, sei die Ehe parallel zum ökonomischen Niedergang an ihren Tiefpunkt ange-langt. Eine Mischung aus rückläufigen Schuhverkäufen, Verzugszinsen und Betreibungen setzte dem Werthmüllerschen Schuhgewerbe schliesslich ein Ende. Im Februar 1914 meldete Johannes Konkurs an und zog, allein und bar jeder finanziellen Mittel, nach Deutschland. Der von seiner Frau beantragten Scheidung stimmte er zu, da es nur folgerichtig sei, nach der gewerblichen Auf-lösung auch die private Trennung zu vollziehen. Die Richter kamen zu einem ähnlichen Schluss, erklärten die Ehe für geschieden, gewährten die gemeinsa-me elterliche Fürsorge und trugen dem seit Kurzem wieder als Schuhmacher tätigen Johannes Werthmüller Unterhaltszahlungen auf.10

In den « Geständnissen und Vorkehren meines Ehelebens » stilisierte sich Johannes Werthmüller zum ultimativen Marktverlierer : Er sei der Inbegriff des charakterlich gefestigten, fachkundigen, alle familiären und ökonomischen Ressourcen aufbietenden Gewerbetreibenden. Letztlich seien ihm die un-erbittlichen Marktkräfte zum Verhängnis geworden, für das Scheitern am schweizerischen Schuhmarkt habe er einen hohen Preis zu zahlen. Seine in strategischer Absicht konzipierten und vom Berner Amtsgericht für plausibel befundenen Schilderungen sollen hier weder verifiziert noch falsifiziert wer-den. Stattdessen geben sie Anlass zur Frage, wie schuhwirtschaftliche Hand-werker in der Zwischenkriegszeit gegen die leistungsstarken Schuhfabriken an- und mit den anspruchsvollen Kunden umgingen. Mit welchen marktnahen oder marktfernen Dienstleistungen bestritten Schuhmacher und Schuhhändler ihren Lebensunterhalt ? Avancierte die industriell-gewerbliche Konkurrenz zu einem Politikum ? Und welche Rolle nahmen die staatlichen Amtsstellen in der Zwischenkriegszeit ein ?

Dieser Fragenkatalog schliesst an die historiografische und soziologische Forschung an. In der Geschichtswissenschaft gehen die Einschätzungen, wel-che Folgen die im 19. Jahrhundert entfesselten Marktkräfte zeitigten, ausein-ander. Im Zusammenhang mit dem Ende des Nahrungsprinzips, der Schaffung nationaler Binnenmärkte und Konkurrenzierung durch Fabriken werden die Gewerbetreibenden von Vertretern des pessimistischen Lagers als « Verlierer » etikettiert. Autoren aus dem optimistischen Lager verweisen dagegen auf die « small businessmen », die ihre Kleinbetriebe modernisiert und auf die

flexi-ble Ergreifung von Marktnischen getrimmt hätten. « Gewinner » seien sie inso-fern, als sie im Vergleich zu den zünftigen und alles andere als goldenen Zeiten eine materielle Besserstellung erfahren hätten. Im Aufsatz « Handwerker im Kaiserreich : Gewinner oder Verlierer ? » nimmt David Blackbourn eine vermit-telnde Position ein und plädiert dafür, « der fortdauernden Rolle des Handwerks und der Kleinbetriebe im entwickelten Kapitalismus eine grössere Rolle zuzu-schreiben ».11 Nach seinem Dafürhalten seien der zähe Fortbestand, die anpas-sungsreiche Vielfalt und das politische Aufbegehren der Handwerker in den Mit-telpunkt des Interesses zu rücken. Wie Blackbourn an anderer Stelle betont, lägen vor allem die Entwicklungen während des 20. Jahrhunderts im Dunkeln.12

Die Einteilung in Gewinner und Verlierer lässt sich nicht an schillernden Einzelfällen festmachen. In klassisch wirtschaftssoziologischer Manier werde ich der zeitgenössischen Quantifizierung von sozioökonomischen Tatbestän-den und Verschiebungen nachspüren. Als Doyen dieser Forschungsrichtung darf Alain Desrosières, Soziologe und Statistiker am Institut national de la sta-tistique et des études économiques gelten. Im zweibändigen Werk L’argument statistique nimmt er eine Synthese seiner Publikationen mit den neuesten in-ternationalen Forschungsbeiträgen vor und erklärt die konfliktgetriebenen Entstehungsbedingungen und Zirkulationsbewegungen von statistischen Kennzahlen, Messreihen und Monografien für untersuchungswürdig.13 Hierbei gelte es, zusätzlich zu den technokratischen Expertendiskursen die in Gesell-schaft und WirtGesell-schaft schwelenden Konflikte in den Blick zu nehmen. Denn :

« Quantifizierbare Objekte entstehen in Momenten der Krise, in Interaktionen und sozialen Auseinandersetzungen, hernach leben sie ihr Leben, zirkulieren, starten durch, verändern ihren Sinn und erlangen Unabhängigkeit. »14 Einge-denk der Tatsache, dass die moderne Wirtschaftsstatistik in den 1920er-Jahren ihren Anfang nahm und innerhalb von dreissig Jahren ein Fundament ausbil-dete,15 scheint es geradezu zwingend, nach Marktstatistiken im Allgemeinen und den Schuhmarktverlierern im Besonderen zu fragen.

Um die Geschichte des ( Schuh- )Gewerbes war es in den letzten Jahrzehn-ten sehr still.16 Nach Einschätzung von Roman Rossfeld stellen Handwerk und Gewerbe « eines der am schlechtesten untersuchten Gebiete der Schweizer Wirtschaftsgeschichte » dar.17 Das ( Über- )Leben der Handwerker schien zu klein und unbedeutend für HistorikerInnen, die sich bevorzugt mit

Moderni-sierungsprozessen und Makroperspektiven auseinandersetzen. Hinsichtlich der Quellenlage ist festzuhalten, dass Handwerker vergleichsweise wenige schriftliche Zeugnisse hinterliessen und Archive und Bibliotheken diese auch nicht von sich aus sammelten und verzeichneten. Dies gilt auch für das 20. Jahr-hundert : Nur wenige Schriftstücke — von Lehrbüchern,18 Berufs- und Bran-chenzeitschriften19 sowie Statistiken20 einmal abgesehen — haben den Weg in die Gedächtnisinstitutionen gefunden. Der schwierigen Überlieferungslage wegen werden meine Ausführungen an manchen Stellen exemplarisch-anek-dotischen Charakter aufweisen. Mit Blick auf den Forschungsstand können nur wenige Titel genannt werden, die den wissenschaftlichen Ansprüchen genü-gen.21 An erster Stelle trifft dies auf die von Walter Roediger 1925 an der Univer-sität Zürich eingereichte Dissertation Das Schuhgewerbe in der Schweiz : ein Beitrag zur Untersuchung der Lage des Kleinbetriebes zu.22 Darin werden die ver-fügbaren Quellen zusammengetragen und urteilssicher aufbereitet ; für fast jede gewerbehistorische Sekundäranalyse wirft Roedigers Materialsammlung Nutzen ab und wird von zeitgenössischen Kommentatoren wie nachgeborenen HistorikerInnen mal mehr, mal weniger explizit ausgeschlachtet. Unter dem Eindruck, dass sich die Schweiz zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesell-schaft wandelte, legte die Volkskunde mehrere Beiträge zur Geschichte des Handwerks vor. So begründete der Zürcher Volkskundler Paul Hugger eine Publikationsreihe mit dem sprechenden Titel Sterbendes Handwerk.23 Fast schon reichhaltig fällt die Literatur zur berufsspezifischen Organisation und wirtschaftspolitischen Interessensartikulation aus. Beiträge, die sich um Zünf-te im 18. und 19. Jahrhundert drehen, Zünf-tendieren in vielen Fällen dazu, diese Vereinigungen als gesellig und wohltätig zu überzeichnen.24 Begrüssenswert sind deshalb die jüngst unternommenen Versuche, die wirtschaftspolitische Regulierungsfunktion der Zünfte zu diskutieren, ohne dabei in Stellvertreter-debatten um das ideologische Für oder Wider den Markt abzugleiten.25 Wichtig für die Analyse der Schuhmacher und Schuhhändler sind sodann Studien zu gewerbepolitischen Spitzenverbänden, von denen Kenneth Angsts Unter-suchung zur liberalkorporativen Neuorientierung des Schweizerischen Gewer-beverbands im Zeitraum 1930 bis 1942 genannt sein soll.26

Wichtige Anregungen und Erkenntnisse verdankt das Kapitel « Marktver-lierer » der deutschsprachigen Forschung, namentlich der Sozial- und

Wirt-schaftsgeschichtsschreibung Bielefelder Prägung. Im Zug der Erforschung von Klassenbildungsprozessen und Klassenlagen im 19. Jahrhundert rückten nach den Bürgern und Arbeitern auch die Handwerker in den Fokus. Als produktivs-ter Vertreproduktivs-ter ist Friedrich Lenger anzuführen, der zuletzt einen wissenschafts-geschichtlich angelegten Tagungsband zu den Autoritäten der Historischen Schule der Nationalökonomie und zu ihrem Einfluss auf die zeitgenössische Gewerbepolitik respektive Gewerbegeschichte herausgegeben hat.27 Es zeich-net sich ab, dass deren ordnende Begriffe und dichotomische Konzepte den Blick auf die in den Quellen überlieferten ökonomischen Praktiken verstellen.28 Da sich die neuzeitliche Handwerksgeschichte fast ausschliesslich auf das 18.

und 19. Jahrhundert beschränkt, bietet der von Reinhold Reith initiierte Sam-melband Rationalisierung im Handwerk : ein Widerspruch ? eine willkommene zeitliche Ausweitung bis Mitte des 20. Jahrhunderts.29

Die Ausführungen zu den « Marktverlierern » verteilen sich auf drei Unter-kapitel. Im Mittelpunkt des ersten steht die Persistenz des Schuhgewerbes.

Zentral ist der Nachweis der Existenz von Marktnischen, in denen sich Schuh-macher und Schuhhändler einzurichten vermochten. Im zweiten Unterkapitel werde ich auf die politische Radikalisierung von Vertretern des schweizeri-schen Schuhgewerbes zu sprechen kommen ; auf Betreiben einer aufstreben-den Generation von Gewerbepolitikern wurde Ende der 1920er-Jahre der lokal- konkrete wie auch der überindividuell-abstrakte Markt thematisiert. Das dritte Unterkapitel nimmt sich der Bemühungen um eine Quantifizierung des schweizerischen Schuhmarkts an. Hierbei werde ich aufzeigen, dass die schuh-gewerbliche Wissensproduktion diverse statistische « Bureaus » und Kommissi-onen miteinschloss.

Vielgestaltiges Schuhgewerbe

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 35-40)