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Gewerbliche Einheitsfront Politische Radikalisierung

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 69-72)

Das weit aufgefächerte Tätigkeitsfeld der Schuhmacher und Schuhhänd-ler wird im Folgenden nun wieder verengt. Im Sinn einer Komplexitätsreduk-tion ist nachfolgend von dem Schuhmacher respektive dem Schuhhändler die Rede. Mit dieser Verengung geht gleichzeitig eine Verlagerung in das Feld der Politik einher. Bei der Durchsicht der Literatur zu sozialem Widerstand und politischem Protest machten Eric J. Hobsbawm und Joan W. Scott die beiläufige Beobachtung, dass unter den radikalen Anhängern der Freiheits- und Demo-kratiebewegungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts augenfällig viele Schuhmacher vertreten waren. Daraufhin führten sie eine systematische Recherche durch und legten ihre Resultate 1980 unter dem Titel « Political Shoemakers » vor. Der Aufsatz bietet eine reiche Blütenlese von archivalischen Quellen über zeitgenössische Fachliteratur bis hin zu Zitaten aus Sprichwörter-sammlungen und Literaturklassikern.146 Hans Sachs, seines Zeichens Schuh-macher und berühmtester der Nürnberger Meistersinger, ist darin ebenso ver-treten wie ein Flickschuster, der im ersten Akt von Shakespeares Julius Caesar einen Protest anführt. Mit Blick auf die Schweiz wäre das Fehlen von Hans Jakob Willi ( 1772 —1804 ) zu monieren. In Horgen geboren und zum Schuster ausgebildet, begab sich Willi in fremde Dienste. Kurz nach der Jahrhundert-wende kehrte er an den Zürichsee zurück, wo er im März 1804 die gegen die städtische Herrschaft aufbegehrende Landbevölkerung anführte. Nach einer ersten, erfolgreich geschlagenen Schlacht auf Bocken — einem Gebiet oberhalb von Horgen, das dem Aufstand seinen Namen geben sollte — unterlagen Willi und seine Gefolgsleute den herbeieilenden eidgenössischen Hilfstruppen.

Der Rädelsführer wurde zur Rechenschaft gezogen und am 25. April 1804 hin-gerichtet.147

Aber zurück zur Politisierung : « The shoemaker », resümieren Hobsbawm und Scott, « was thus a key figure in rural intellectual and political life : literate, articulate, relatively informed, intellectually and sometimes economically in-dependent, at least within his village community. He was constantly present in the places where popular mobilization was likely to take place : on the village street, at markets, fairs and feasts. »148 Am lautesten hätten die Schuhmacher

während des ( proto- )industriellen Transformationsprozesses Kritik an den herrschenden sozioökonomischen Verhältnissen geübt und das Wort gegen die politischen Eliten ergriffen. Eine doppelte Verunsicherung habe zur politischen Aktivierung geführt : Zum einen hätten wirtschaftliche Veränderungen die

Schuhmacher verstärkt mit den Folgen eines Überangebots an Schuhen und schlechten Verdienstmöglichkeiten konfrontiert, zum anderen hätten die vom ökonomischen Wandel bedrängten « kleinen Leute » nach politischer Aufklä-rung und Deutung verlangt. An der These ist der romantisch-heroisierende Unterton zu kritisieren. Nur bedingt zu überzeugen weiss auch die von Hobs-bawm und Scott nachgereichte Vermutung, warum gerade der Schuhmacher dazu prädestiniert sei, « as the common people’s spokesman, as a trade mili-tant » aufzutreten.149 Und dennoch ist es verblüffend, wie regelmässig die Schuhmacher politische Interessengruppen formierten, um marktimmanen-ten Veränderungen zu begegnen. Für das amerikanische Beispiel führt John Commons folgende Vereinigungen an : Company of Shoemakers ( Boston 1648 ), Society of the Master Cordwainers ( Philadelphia 1789 ), Federal Society of Journeymen Cordwainers ( Philadelphia 1784 ), United Beneficial Society of Journeymen Cordwainers ( Philadelphia 1835 ), Knights of St. Crispin ( 1868 ), Boot and Shoe Workers’ Union ( 1895 ).150

Auch für den schweizerischen Schuhmarkt der Zwischenkriegszeit lässt sich eine Politisierung, ja Radikalisierung vieler Schuhmacher und Schuhhänd-ler nachzeichnen, freilich unter entgegengesetzten politischen Vorzeichen. Am besten lässt sich dieser Prozess im Thurgau beschreiben, einem Kanton, der im Untersuchungszeitraum landwirtschaftlich-gewerbliche Beschäftigungs-strukturen aufwies. Als mittelstandspolitischer Akteur tat sich zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg vor allem ein Mann hervor : Paul Beuttner ( 1899 —1977 ).151 Nach einem mit Promotion abgeschlossenen Nationalökono-miestudium in Genf und Zürich betätigte sich Beuttner zuerst als wirtschafts-politischer Publizist, ehe er 1927 zum Sekretär des Thurgauischen Gewerbever-bands ( TGV ) gewählt wurde.152 Trotz schwerer Krankheit leitete er bis 1956 das Sekretariat und brachte die Energie für die Ausübung mehrerer gewerbepoliti-scher Ämter und Funk tionen auf kantonaler wie nationaler Ebene auf. Beutt-ners Ansatzpunkt war, eine Koalition von Marktverlierern zu bilden. Aus die-sem Grund schrieb und redete er der gewerbepolitischen Einheitsfront153 das

Wort : « Wir brauchen unbedingt diese logische Dreieinigkeit zwischen Hand-werk, Gewerbe und Kleinhandel, wollen wir wieder als die unerlässlichen Stüt-zen und Pfeiler des wirtschaftlichen, geschäftlichen und sozialen Lebens ge-wertet werden. »154 Politik verstand Beuttner als eine verteilungsorientierte Sekundärmassnahme, die die Primärverteilungen aus dem freien Spiel der Marktkräfte korrigieren sollte.155 Wie die internationale Forschung zur ver-bandswirtschaftlichen Berufsregulierung und Interessensartikulation aufzeigt, hat eine solche Politisierung mit einem Reflex, der in Zeiten der wirtschaftli-chen Not ausgelöst wird, nur wenig gemein.156 Vielmehr waren unermüdliche Wirtschaftspolitiker, aktivierende Forderungen und politisch mehrheitsfähige Lösungen gefragt. Vom Sekretariat des TGV aus koordinierte Beuttner die mit-telstandspolitischen Agenden, Programme und Publikationen mehrerer Be-rufsgenossenschaften, Rabattvereine und Gewerbeverbände.157 1928 repräsen-tierte Beuttner 3295 Mitglieder.

Mit Blick auf die traditionell schwach organisierten Vertreter des Schuh-gewerbes schien die Einheitsfront insofern naheliegend, als die Schuhmacher und Schuhhändler in den expandierenden Grossunternehmen Bally, Löw und Hug — die Schuhe nicht nur industriell produzierten, sondern auch über eigene Kettenläden seriell absetzten ( vgl. hierzu « Eindringen in den Handel », S. 139) — einen gemeinsamen Widersacher hatten. Wie an ausgewählten Broschüren und Zeitschriftenbeiträgen aufgezeigt wird, war Beuttner ein Vielredner und Vielschreiber, der den Unmut und die Verzweiflung der wirtschaftlich bedräng-ten Schuhmacher und Schuhhändler geschickt in mittelstandspolitische Ord-nungsvorstellungen zu überführen wusste. Das Los des Schuhgewerbes erhob er richtiggehend zum Präzedenzfall : « Wohl in keiner anderen Branche des Warenhandels zeigen sich so deutlich, so katastrophal die machtpolitischen Auswirkungen des industriellen Grosskapitalismus und die damit zusammen-hängenden, mittelstandsaufsaugenden und zermürbenden Umstände. »158 Un-mittelbar nach Stellenantritt, aber noch vor Ausbruch der Weltwirtschaftskrise verfasste Beuttner die Kampfschriften Der thurgauische Schuhmachermeister und sein Lebens- und Existenzkampf sowie Die zukünftigen Existenzmöglichkei-ten des selbständigen Schuhhändlerstandes unter besonderer Berücksichtigung der Selbstdetaillierungsfrage.159 Letztere sollte der Sekretär des Schweizeri-schen Schuhhändlerverbands Jahre später als « eine fast epochenmachende

Studie » würdigen.160 In der 1941 veröffentlichten Broschüre Die Reorganisation des Schuhhandels im Rahmen der neuen Wirtschaftsordnung hielt Beuttner Rück- und Ausblick zugleich. Das Zusammengehen von wirtschaftswissen-schaftlich abgesicherter Programm- und zielgerichteter verbandswirtschaft-licher Basisarbeit war es, was den Schuhmachern und Schuhhändlern viele Jahre lang gefehlt hatte.

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 69-72)