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Branchenprimus Bally

Im Dokument Auf Schritt und Tritt (Seite 107-115)

« Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten »

Um 1850 entschloss sich Carl Franz Bally, das von seinem Grossvater ge-gründete und gemeinsam mit seinem Bruder Fritz geführte Elastikband- und Hosenträgergeschäft Bally & Co zu erweitern.31 Die langjährige Belieferung fran-zösischer Schuhhersteller nährte seinen Glauben an das Wachstumspotenzial des inländischen ebenso wie das Ertragspotenzial des ausländischen Schuh-markts. Was Carl Franz Bally zu bieten hatte, waren in erster Linie hausindus-triell organisierte Arbeitskräfte — Schönenwerd liegt, unmittelbar an den Kan-ton Aargau angrenzend, im KanKan-ton Solothurn, einer damals ländlichen Region mit bescheidenen Ressourcen.32 Leicht liessen sich ArbeiterInnen finden, die ihr dürftiges, in der Landwirtschaft erzieltes Auskommen mit Heimarbeit auf-bessern wollten. Aber der fertigungstechnische Schritt von der Bekleidung zur Beschuhung erwies sich als grösser denn erwartet. Für das Vermessen der Leis-ten und das Verfertigen der Fussbekleidung wurden Wissen und FertigkeiLeis-ten benötigt, die in Schönenwerd nicht vorhanden waren. Da die ersten industriell erzeugten Schuhe bei regionalen Händlern und KonsumentInnen auf Ableh-nung stiessen, musste die bewährte Elastikband- und Hosenträgerfabrik die junge Schuhproduktion querfinanzieren.33 Ersten Absatz fanden die « klobigen und wenig ansehnlichen Schuhe » ab 1857 in Argentinien und Uruguay.34 Diese Einnahmen verwendete Carl Franz Bally, um beschlagene deutsche Schuster und versierte französische Näherinnen zu rekrutieren und Investitionen in das regional ausgreifende Verlagswesen zu tätigen. Diese vergleichsweise frühe und konsequente Ausrichtung auf die ausserhalb der Schweiz gelegenen Arbeits- und Absatzmärkte stellte die Initialzündung für das rasante Wachstum dar, das Bally zuerst zum protoindustriellen Vorzeige- und später zum schuhindustriel-len Grossbetrieb von gesamtschweizerischer Ausstrahlung machen sollte.35

Angesichts dieser neuartigen Konkurrenz erachteten einige im unmittel-baren Einzugsgebiet von Bally operierende Schuhmacher ihre Zukunftsaussich-ten als so düster, dass sie im Winter 1864 eine Drohung gegen Leib und Leben ausstiessen : « Seit Sie die Schuhfabrik gegründet haben, hat mancher Schuh-macher in Aarau und der Umgebung den Verdienst verloren. Es haben sich unser sechs verschworen, Euch zu töten, wenn Sie das Geschäft nicht aufgeben, oder

Euch alles zu verbrennen. »36 Weder Carl Franz Bally, der das anonyme Schrei-ben kommentarlos in sein Tagebuch einklebte, noch seiner Familie wurde Ge-walt angetan, auch wurden die « Verschworenen » niemals strafrechtlich belangt.

Dem Vorhaben, das Niederamt mithilfe der Fabrikindustrie umzugestalten, tat die Todesdrohung erst recht keinen Abbruch. In der Folge gab Bally den Taktge-ber der sozioökonomischen Modernisierung. Für die Festschrift zum 50-jähri-gen Bestehen im Jahr 1901 bediente sich die Firma bei Friedrich Schillers Drama Wilhelm Tell und kürte einen Ausspruch Werner von Attinghausens zum Fir-menmotto : « Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten ».37

Um seine beiden Söhne Arthur und Eduard Bally in das Familienunter-nehmen einbinden zu können, liess der Patron Ersterem eine technische und Letzterem eine kaufmännische Ausbildung zukommen. Auf einer Bildungsrei-se in England lernte Eduard 1869 den Amerikaner Alfred S. Wells kennen, der ihn ermutigte, sich näher mit den Werkzeugmaschinen und Organisations-methoden made in USA auseinanderzusetzen. Ausgestattet mit diversen Emp-fehlungsschreiben und Kontaktadressen, unternahm Eduard Bally nicht weniger

Abbildung 18 Carl Franz Bally ist der Stammvater des 1851 gegründeten Schuhimperiums. Gefeiert und gefürchtet war Bally als Taktgeber der fabrikindustriellen Moderne.

Das Familienunternehmen krempelte den Produktions-prozess um, beseitigte altgediente Tätigkeitsfelder und schuf neue Arbeitsplätze.

als fünf Reisen nach Nordamerika, um den dortigen Schuhmarkt zu studieren und erste Geschäftsbeziehungen anzubahnen.38 Die wichtigste — weil gegen innen und aussen am stärksten rezipierte — Tour war diejenige an die Welt-ausstellung von Philadelphia im Jahr 1876. In einer in drei Sprachen aufge-legten Broschüre berichtete Eduard über die industrielle Leistungsschau. Be-eindruckt hatten ihn die arbeitssparenden Walk-, Näh-, Holznagel- und Stanzmaschinen.39 Den in Europa verbliebenen Schuhindustriellen prophezei-te er : « Wir sind gezwungen, diese Concurrenzfähigkeit nicht nur anzuerken-nen, sondern deren Einfluss genau zu erwägen und diejenigen Mittel ausfindig zu machen, die uns für die Zukunft einigermassen beruhigen und unsere Industrie erhalten dürften. Schutzzölle helfen uns nicht, weil wir dadurch un-sern eigenen Export beeinträchtigen ; wir können nur eines thun, wenn wir nicht unsere ganze Industrie preisgeben wollen, und das ist, den Amerikaner zum Vorbild nehmen.»40 Das amerikanische Vorbild sollte in Schönenwerd einen jahrzehntelangen Rezeptions-, Transfer- und Implementierungsprozess am Laufen halten. Wer in der Schuhfabrik Karriere machen wollte, musste min-destens einmal die amerikanische Best Practice persönlich in Augenschein genommen haben.41 Bei Bally liegt ein Fall von « Amerikanisierung » im Sinn

Abbildung 19 Ab den 1860er-Jahren kamen in Lederstuben und Fabriksälen immer mehr Maschinen zum Einsatz, die von mechanischer Energie angetrieben wurden. In Ver-bindung mit der Arbeitsteilung und der Spezialisierung gelang es Bally, den Schuhausstoss drastisch zu erhöhen.

Harm G. Schröters vor.42 Vom idealtypischen Verlaufsmuster weicht das Schö-nenwerder Unternehmen insofern ab, als sich dessen Entscheidungsträger in den USA umzuschauen begannen, ehe ein halbes Jahrhundert später die erste europäische Imitationswelle einsetzte.43

Wichtig zu sehen ist, dass die Übernahme von Werten, Konzepten, Prakti-ken und Maschinen einen komplexen Prozess darstellte. Neben Risikobereit-schaft, Wissen und Kapital war hierfür auch ein institutionelles Setting von-nöten. Bekanntlich sah die Schweiz lange Zeit von einer Regelung der Patent- und Musterschutzfrage ab. Die US-amerikanischen Schuhmaschinen-produzenten schreckten vor der Belieferung der Schweiz zurück ; falls sich doch einmal ein Hersteller zu einer Lieferung in die Schweiz bereit erklärte, pflegte er sich mit umfangreichen Lizenzverträgen und risikogewichteten Miet aufschlägen abzusichern. Um die Einführung eines international kompa-tiblen Patentgesetzes voranzutreiben, kandidierte Carl Franz Bally deshalb für den Nationalrat und setzte sich nach erfolgter Wahl in der Legislaturperiode 1875 bis 1878 für die Lösung der Patentfrage ein. Es sollte dann allerdings bis ins Jahr 1888 dauern, dass die Bundesverfassung um einen die Erfindungen unter Patentschutz stellenden Passus ( Artikel 64 ) erweitert wurde.44 Der in der Folge forcierte Maschinenimport war für die Bally-Schuhfabriken und die schweizerische Schuhwirtschaft gleichermassen folgenreich. Die Lederstuben und Werkräume wurden vollumfänglich von Transmissionswellen und rie-mengetriebenen Maschinen vereinnahmt.

Eine an der Landesausstellung in Zürich eingesetzte Fachkommission für Schuhe vermeldete eine systematische Übernahme amerikanischen Know-hows : « Die andern schweizerischen Fabrikanten befolgten dieses Beispiel, so dass jetzt eine jede Schuhfabrik mehr oder minder vollkommene mechanische Einrichtungen besitzt. »45 Nach der Jahrhundertwende war die Ausstattung mit Werkzeugmaschinen abgeschlossen.46 Ermutigt vom Wachstum des heimi-schen Schuhmarkts wagten sich immer mehr Akteure in die Schuhfabrikation vor, darunter nicht wenige, die vormals bei Bally in leitender Stellung tätig ge-wesen waren. Markterfolge stellten sich in unterschiedlichem Ausmass ein ; je nach konsultierter Liste vermochten sich auf der Achse Aarau — Olten bis zur Jahrhundertwende ein gutes Dutzend kleiner Schuhfabriken festzusetzen.47 Der Solothurner Anteil der in der schweizerischen Schuhindustrie Beschäftigten

betrug 1888 21,9 Prozent und 1911 16,2 Prozent.48 Während sich auch im Boden-seegebiet einige wenige Schuhfabriken etablierten, liessen sich in der romani-schen Schweiz fast keine schuhwirtschaftlichen Betriebe nieder.

Zu den « mechanischen Einrichtungen » drängt sich eine Präzisierung auf : Dass sich diese auf breiter Basis durchsetzen konnten, geht auf eine inter- n ationale Strukturverschiebung zurück. 1899 fusionierten die fünf führenden amerikanischen Schuhmaschinen-Fabrikanten zur United Shoe Machinery Company ( USMC ) mit Sitz in Boston, Massachusetts, und bildeten ein nationa-les Monopol, das zeitweise einen Marktanteil von bis zu 90 Prozent aufwies.49 Bis 1947 vermochte sich die USMC allen juristischen Bestrebungen wider ihre marktbeherrschende Stellung ( Sherman Antitrust Act ) zu entziehen.50 Ihre Ma-schinen vertrieb sie über Tochterfirmen in England, Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich, in der Schweiz errichtete sie kurz vor Ausbruch des Ers-ten Weltkriegs ein Maschinendepot und einen Service-Stützpunkt.51 Im Wissen um die unangefochtene Marktposition bot die USMC ihre patentgeschützten Maschinen mitsamt Beratungs-, Service- und Ersatzbeschaffungsdienstleis-tungen nicht zum Kauf, sondern zur Miete an. Wie für Deutschland nachgewie-sen ist, galten die Verträge infolge von Verkettungs- und Verlängerungsklau-seln zeitlich unbefristet.52 Weiter verpflichtete die USMC ihre Kunden, in den Fabrikateliers keine Spezialmaschinen konkurrierender Schuhmaschinen-hersteller zu betreiben. « Soweit hat das amerikanische Royalty-System die Welt industrie unter Yankee-Tribut, -Kontrolle und -Abhängigkeit gebracht », ärgerte sich Eduard Bally über die globale Marktmacht.53 Er tat dies wohl auch deshalb, weil Amerikafahrten und Kapitalkraft künftig keinen Wettbewerbsvor-teil mehr bedeuteten. Mochte es sich nun um ein solventes Grossunternehmen oder einen unterfinanzierten Kleinbetrieb handeln, der Maschinenpark war derselbe. Die von der USMC orchestrierte Diffusion von Werkzeugmaschinen eliminierte auf dem schweizerischen Schuhmarkt die Technik als Wettbewerbs-faktor. Innovationen waren ab den 1920er-Jahren nur mehr auf dem Gebiet synthetischer Klebstoffe zu verzeichnen, die die Verbindung von Sohle und Schaft veränderten ; statt der Näh-, Nagel- und Zwick- kamen Klebverfahren und später auch Vulkanisierungsmethoden in Gebrauch.54

Durch den Maschineneinsatz stieg die Qualität der Fabrikschuhe stetig an.

Um die Jahrhundertwende anerkannten selbst die Schuhmacher, dass die fabrik-

gefertigten den handgefertigten Schuhen in nichts nachstanden.55 Bally begann sein Schuhsortiment zu verfeinern und Halb- und Abendschuhe einkommens-starken Käuferschichten im Ausland zu unterbreiten. Neue Exportmärkte anzu-bahnen nahm meist Jahre in Anspruch und war mit kleineren, manchmal auch grösseren Rückschlägen verbunden. Im Zeitraum von 1884 bis 1906 und nach einer kurzen Unterbrechung wieder ab 1912 stand das Britische Königreich mit grossem Abstand an der Spitze der Schönenwerder Exporte. Zeitweilig soll sogar die Rede davon gewesen sein, dass die Damen der Londoner Gesellschaft sich genieren würden, ein anderes Produkt als das der Firma Bally zu tragen.56 Auf dem zweiten Platz folgte Ägypten, das 1903 von Frankreich abgelöst wurde ; 1910 stiessen auch die Exporte nach Deutschland in diese Dimensionen vor.57

Die nun reichlich fliessenden Verkaufserlöse investierte Bally in den Aus-bau der Fabrikorganisation. Als Standort blieben Schönenwerd und Umgebung ungemindert attraktiv — die 1856 errichte Eisenbahnstrecke Olten — Aarau, der Wasserlauf der Aare, der das firmeneigene Kraftwerk spies sowie die bis 1896 ausbleibende kantonale Besteuerung waren Investitionen jedweder Art zuträg-lich. Um die Nachfrage nach Schuhen anzukurbeln, strebte Bally — betriebs-wirtschaftlich gesprochen — Skalen- und Verbunds-Effekte an ; die Kosten der Durchschnittsproduktion sanken. Wenngleich die HeimarbeiterInnen, einem saisonalen Konjunkturpuffer nicht unähnlich, bis in die Zwischenkriegszeit mit Aufträgen bedacht wurden, konzentrierten die Verantwortlichen die betriebli-che Wertschöpfungskette zusehends in der Fabrik.58 Dort wurden zeit- und arbeitsintensive Verrichtungen auseinanderdividiert, arbeitsteilig ausgerichtet und dem direkten Zugriff der Vorgesetzten unterstellt. Wer früher als ganzheit-licher Schuster arbeitete, betätigte sich nun als spezialisierter Schnittmuster-macher, Zuschneider, Stanzer, Näher, Fräser, Zwicker, Nagler, Polierer, Fertig-macher oder Ausrüster. In keiner von Bally herausgegebenen Festschrift blieb der Knopflochstiefel unerwähnt, der im ausgehenden 19. Jahrhundert durch sieben Hände lief, um die Jahrhundertwende bereits 256 Personen in Anspruch nahm und an dessen Herstellung in den 1940er-Jahren sage und schreibe 650 ArbeiterInnen und Angestellte beteiligt waren.59 Aller arbeitsteiligen Raffinesse zum Trotz hatte der Bally-Schuh weiterhin die drei Hauptabteilungen Schaftherstellung ( Zuschneiden des Leders und Nähen des Schafts ), Stanzerei ( Herstellung der Absätze und Sohlenbestandteile ) und Schusterei (

Zusammen-setzung von Schaft und Sohle ) zu durchlaufen. Dass sich die Arbeitsteilung positiv auf die Gestaltung und Qualität des Alltagsprodukts auswirkte, braucht kaum erwähnt zu werden. Die manuelle Arbeit komplettierten bis zu 500 Werkzeugmaschinen. Von der Mechanisierung unbehelligt blieb nur der Zu-schneider, dessen Fertigkeiten, die zur Beherrschung des kostspieligen und ungleichmässig beschaffenen Leders notwendig waren, nicht an Maschinen übertragen werden konnte.60 Die schuhindustrielle Wertschöpfungskette manifestierte sich auch in der Betriebsbodenfläche und Bausubstanz, die

« alle paar Jahre erweitert » wurden.61 Im Stichjahr 1920 gab es in Schönenwerd ein oberes Werkareal, das die Werkschule, Mustermacherei, Zuschneiderei, Stanzerei, Näherei, Absatzüberzieherei, ein Lagerhaus, Verwaltungs- und Öko-nomiegebäude beherbergte, und ein unteres Werkareal, in dem die Verwaltung und Finanzabteilung, Spedition, mechanische Schusterei, das chemische Laboratorium, technische Betriebe und das Kosthaus untergebracht waren.62

Als Arbeitsmarkt zapften Eduard Bally und seine Söhne das solothurni-sche Niederamt und Gebiete des benachbarten Kantons Aargau an. Eine Strate-gie der dezentralen Produktion befolgend, gründeten sie bis 1912 Fabrikfilialen in Aarau, Niedergösgen, Gränichen, Schöftland, Oberkulm, Reitnau, Klingnau, Kirchleerau, Dottikon und Frick.63

Abbildung 20 Bally ragte weit über das organisch gewach-sene Fabrikareal in Schönenwerd hinaus. Einer Politik der dezentralen Produktion verpflichtet, wurden Fabrikfilialen in Schöftland, Gränichen, Gösgen, Dottikon und weiteren Gemeinden unterhalten.

Handlungsleitend war die Furcht vor der « Vermassung » und « Kasernie-rung » der Arbeiterschaft in Schönenwerd sowie die Sorge um finanzielle Belas-tungen in Zeiten des konjunkturellen Abschwungs. Mehr als 5000 Einwohner wies keines dieser auf den sprichwörtlich grünen Wiesen hochgezogenen Fabrik-dörfer auf. 1925 standen ArbeiterInnen und Angestellte aus über 100 Gemeinden in Lohn und Brot der Schuhfabriken.64 Besonderen Wert legte Bally auf den Umstand, dass das Personal in firmeneigenen, mit Pflanzland ausgestatteten Siedlungen wohnhaft sei.65 Nicht selten bekleideten Angestellte mit freisinnig- demokratischem Parteibuch politische Ämter und stellten dadurch sicher, dass die Interessen der Schuhfabrik mit denjenigen der Kommune deckungsgleich waren.66 In unternehmenseigenen Lehrlingswerkstätten und Werkschulen konnten sich die Jugendlichen zu ArbeiterInnen ausbilden lassen. Der Frauen-anteil schwankte bei Bally im Zeitraum von 1879 bis 1914 zwischen 48,1 und 57,8 Prozent.67 In den 1930er-Jahren lag diese Quote dann konstant zwischen 44 und 46 Prozent, ehe sie im Zweiten Weltkrieg auf 34 Prozent absank. Der Tiefpunkt wurde im Geschäftsjahr 1944/45 erreicht.68 Im Niederamt war Bally zu einem Machtfaktor geworden, an dem weder in wirtschaftlichen noch in politischen Belangen vorbeizukommen war.

Die im Lauf der Zeit erzielten Produktivitätsgewinne wurden den Bally-anern nicht in Form aufgebesserter Löhne und Saläre, sondern als betriebliche Wohlfahrt zuteil. Die grosszügig dotierte Ersparniskasse, die betriebliche Kran-ken-, Alters-, Angehörigen- und Wohnungsfürsorge — die bauliche Massnah-men ( Kost- und Klubhäuser )69 und sogar eine Parkanlage umfasste — stellte Bally in den Dienst der Stammpersonalpflege.70 Eine patriarchalische Grundie-rung lässt sich hierbei nicht in Abrede stellen. Die Kehrseite dieser als « Byzan-tinismus »71 oder « Fürsorge- und Zulagenduselei »72 verrufenen Einrichtungen war, dass das Personal bei Fragen der Beschäftigungs-, Wohlfahrts- oder Kom-munalpolitik nur unzureichend angehört wurde. Im Gegenteil : « Jahrelang führten die sogenannten Dorfpäpste im Einzugsgebiet von Schönenwerd die Arbeiter zum Wahllokal, nachdem sie ihnen zuvor den freisinnigen Stimm-zettel in die Hand gedrückt hatten. »73 Gegen jede Form der gewerkschaft- lichen Formierung ging Bally rigoros vor : Als sich die schlecht bezahlten Hand-schuster im Jahr 1894 mit drei entlassenen Kollegen solidarisierten oder 1907 zugunsten eines freigestellten Zwickers und Arbeitervertreters einen breit

abgestützten Abwehrstreik organisierten,74 reagierte Bally mit Aussperrungen und sogenannten schwarzen Listen. 1907 wurde den Belegschaften von Aarau, Schönenwerd und Gösgen in toto gekündigt.75

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