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Vertical Limit (2000)

Im Dokument Ende des neuseeländischen Kinos? (Seite 126-132)

3. De-/Entlokalisierung der neuseeländischen location und dessen Bedeutung für die Frage nach filmgeografischer

3.4 Analyse: III. und IV. Simulationsstufe

3.4.1 Vertical Limit (2000)

Bei Vertical Limit handelt es sich um einen am K2 im Karakorum-Gebirge abspielenden, actionlastigen Abenteuerfilm der dritten Simulationsstufe. Der Film reiht sich durch sein Gebirgs-setting, die Abenteuernarrativik, die Mensch-gegen-Natur-Thematik und die Betonung sublimer

Landschaftsaspekte in die Tradition früherer Bergfilme wie denen von Luis Trenker und moder-nen Hollywood-Produktiomoder-nen wie Cliffhanger (1993) ein. Trotz des in Neuseeland geboremoder-nen Re-gisseurs Martin Campbell ist Vertical Limit eine insgesamt stark transnationale Produktion, da der Großteil der Filmmitarbeiter ausländisch ist und keine neuseeländische Produktionsfirma invol-viert gewesen ist. Der Film fällt vom Produktionszeitpunkt her mit dem Jahr 1999 in eine für aus-ländische Produzenten vergleichsweise „anreizarme Zeit“, da das „Steuerloch“ für Filmproduktio-nen in Neuseeland bereits 1984/5 – wie im ersten Kapitel erläutert – geschlossen wurde, der neuseeländische Large Budget Screen Production Grant für ausländische Produktionen aber erst seit 2004 wieder stärkere finanzielle Anreize geben würde. Dennoch gab es auch im Zeitraum 1985–

2004 noch genügend Anreize, die einen Filmdreh in Neuseeland lohnenswert erscheinen ließen. In der vom New Zealand Screen Council herausgegebenen Broschüre „Overview of the New Zealand Screen Production Sector, November 2005“ werden die internationale Anerkennung des Talents und zunehmende Bandbreite an Kompetenzen der neuseeländischen Filmindustrie als Gründe genannt, warum sich die Filmemacher von Vertical Limit, Last Samurai und anderer Filme für einen Dreh in Neuseeland entschieden haben und somit als runaway-Produktionen eingestuft werden können (2005: 12).

Obwohl somit primär pragmatische und ökonomische Erwägungen dazu geführt haben dürften, Vertical Limit in den neuseeländischen Südalpen statt im Karakorum zu drehen,49 beto-nen die Filmemacher im Making Of „Surviving the Limit“ immer wieder, wie viel Wert auf Au-thentizität gelegt worden sei, um ihr Filmprodukt nicht als bloße economic runaway, sondern auch als eine creative runaway production50 vermarkten zu können. Der Handlungsort in Vertical Limit wird explizit markiert (u. a. mittels des eingeblendeten Paratextes „Lower Himalaya, Pakistan“

[00:07:50]) und viel Aufwand investiert, den Handlungsort glaubwürdig zu inszenieren. Zu den eingesetzten Authentisierungsstrategien gehören die der Projektion, der Autorisierung und der Kompensation: Wenn die Filmemacher die visuelle und „charakterliche“ Ähnlichkeit zwischen dem neuseeländischen Mount Cook und dem K2 betonen („Mount Cook, a worthy stand-in for

49 Ein tatsächlicher Filmdreh im Karakorum-Gebirge und das Besteigen des K2 wäre extrem gefährlich gewesen und hätte die Filmemacher aufgrund der Unzugänglichkeit des Geländes vor kaum zu bewältigende logistische Probleme gestellt. Die neusee-ländischen Südalpen hingegen sind schon aufgrund ihrer Beliebtheit bei Touristen vergleichsweise gut erschlossen.

50 Sogenannte creative bzw. artistic runaways stellen eine Unterkategorie der runaways dar, bei denen nicht ökonomische oder pragmatische, sondern primär kreative Gründe für einen Dreh außerhalb der USA sprechen. Ein Beispiel wäre ein Film, der in Paris spielen soll und aus Authentizitätserwägungen tatsächlich in Paris gedreht wird, statt Paris im Filmstudio oder einer US-Stadt nachzubilden. Reine creative runaways nach Neuseeland sind allerdings selten und im vorliegenden, zu analysierenden Filmkor-pus nicht gegeben. Hauptgrund dürfte die geringe Nachfrage nach einem explizit neuseeländischen Handlungsort in Hollywood-filmen sein (im Gegensatz beispielsweise zum beliebten Paris).

the deadly K2 can be just as treacherous for those prepared to take their endeavor to the vertical limit“ („Surviving the Limit“ [00:18:16–00:18:29]) stellt dies keine objektive Feststellung, sondern vielmehr eine subjektive Wertung dar. Da der Regisseur nicht darauf verweist, dass die Ähnlichkeit der beiden Berge lediglich seinen persönlichen Eindruck widerspiegelt (beispielsweise durch Zusät-ze wie „in my opinion“), sondern in der Aussage ein Objektivitätsanspruch zu erkennen ist, stellt dies eine Projektion der eigenen Sichtweise auf die Allgemeinheit und damit auch auf die Zuschau-er dar, als eine Art Selbstlegitimation für die nicht zu leugnende filmgeografische Inkongruenz im Film. Mit anderen Worten hofft der Regisseur, dass der Zuschauer die Legitimität der Südalpen als

„Double“ für den tausende Kilometer von der location entfernten Karakorum anerkennt und die Delokalisierung überzeugend finden wird.

Der Extrembergsteiger Ed Viesturs, der sowohl als filmischer Berater mitgewirkt als auch in einer Nebenrolle im Film mitgespielt hat, betont ebenfalls die vermeintlich „objektive“ Ähnlichkeit der beiden geografisch eigentlich weit auseinanderliegenden Gebiete, um dadurch den Handlungs-ort zu authentisieren: „The glaciers are as big, the crevasses are as deep, the terrain is as steep, the weather is as bad and the scenery is as beautiful. So it's a very good location to shoot a film like this“

(„Surviving the Limit“ [00:18:29–00:18:43]). Die Einbeziehung eines Profibergsteigers, der, ähnlich wie Reinhold Messner, alle Achttausender und somit auch den K2 bestiegen hat, kann als Versuch der Filmproduzenten angesehen werden, sowohl den Handlungsort als auch das Agieren der Cha-raktere als „professionelle“ Bergsteiger durch einen anerkannten Fachmann als realistisch und glaubwürdig autorisieren zu lassen. Zwar spielt Viesturs nur eine kleine Rolle im Film, aber allein seine Präsenz und seine Interaktion mit den restlichen Charakteren soll insbesondere Zuschauern, die selbst am Bergsteigen interessiert sind und denen Viesturs ein Begriff ist, eine Aura des „Profes-sionellen“ vermittelt werden.

Da aber selbst Projektion und Autorisierung nicht ohne weiteres über die grundlegende filmgeografische Inkongruenz hinwegtäuschen können, wird als dritte Strategie die der Kompensa-tion eingesetzt: Statt im Making Of allein auf die dramatischsten Filmszenen zu fokussieren, die allesamt in einem Filmstudio gedreht worden sind, betonen die Filmemacher vor allem, wie viel Aufwand der Dreh der übrigen on location-Szenen erfordert hat:

We chose to film in a real environment. Up on the mountains with our actors going into si-tuations that actors don’t usually go. [...] the shots that we have put our actors, put our sto-ry firmly in an alpine location and no amounts of computer generated or visual effects can

ever really capture the same feeling and emotion („Surviving the Limit“ [00:06:45–

00:07:18]).

Das Making Of dient somit nicht in erster Linie dazu, dem Zuschauer zu zeigen, mit welchen

„Tricks“ gearbeitet worden ist, sondern vielmehr, um zu betonen, wie viel des filmischen Gesche-hens „echt“ ist, damit sich der Zuschauer mittels dieses paratextuellen Hintergrundwissens erst recht in das filmische Geschehen hineinversetzen kann. Eine Kompensation stellt dies insofern dar, als dass suggeriert werden soll, dass es zwar nicht das „echte“ Karakorum-Gebirge ist, in dem ge-dreht wurde, dass die „falschen“ neuseeländischen Berge aber immerhin real sind.

Eine zweite Kompensationsstrategie stellt das digitale Einfügen des echten K2 in die neusee-ländische Südalpenszenerie dar (Vertical Limit, Audiokommentar [00:13:57]), wie Abbildung 3.8 illustriert.

Abbildung 3.8: Südalpenszenerie mit digital eingefügtem K2 (rot eingerahmt) [00:13:57]

Abbildung 3.8 1

Trotz des Drehs auf realen Bergen und ihrer vorgeblichen Ähnlichkeit mit dem Karakorum-Gebirge haben es die Filmemacher dennoch als notwendig erachtet, als Zugeständnis an die film-geografische Authentizität den echten K2 zumindest scheinbar in den Filmdreh miteinzubeziehen.

Dieser Prozess stellt eine Befüllung der neuseeländischen location mit einem auslandsspezifischen Marker, in diesem Fall dem „karakorumspezifischen“ K2-Berg dar, dessen charakteristische Form von vielen Zuschauern erkannt werden kann (siehe rote Einrahmung in Abbildung 3.8). Die

Funk-tion des K2-Berges liegt darin, den Zuschauer dazu zu bewegen, vom Speziellen zum Allgemeinen zu schließen, d. h. bei dem Erblicken des K2 automatisch davon auszugehen, dass es sich auch bei der umgebenden Landschaft tatsächlich um den Karakorum handelt. Es wird auch ersichtlich, dass höchster Wert auf das nahtlose Verschmelzen der verschiedenen, digital zusammengefügten Bild-ebenen zu einem homogenen Raum gelegt wurde, da kaum zu erkennen ist, dass in dieser Szene zwei weit auseinanderliegende Geografien künstlich miteinander kombiniert worden sind.

Trotz aller eingesetzten Authentisierungsstrategien ist Vertical Limit letztendlich von sehr vielen Zuschauern als in vielerlei Hinsicht extrem inauthentisch eingestuft worden. Neben diversen Kritiken an dem als unrealistisch erachteten Verhalten der Bergsteiger, plot holes und als völlig übertrieben eingestufter Actionszenen wird auch die Gestaltung des Handlungsortes quasi als krö-nende Form der Inauthentizität gewertet. So schreibt „Rhea“ aus Kalifornien: „The facts were frighteningly inaccurate, and it wasn't even the correct mountain!“ (1. Dezember 2002). Hierbei illustriert das Wort „correct“, dass für viele Zuschauer nur ein Filmen an Originalschauplätzen, in diesem Falle also im Karakorum, als authentisch eingestuft worden wäre, wohingegen der Einsatz anderer locations als „Double“ kategorisch als „incorrect“, also inauthentisch, eingestuft wird. Ein verwandter Kritikpunkt ist der Einsatz von CGI und dem greenscreen-Verfahren.51 Hierbei wird nicht der Einsatz von Studioaufnahmen und CGI an sich kritisiert, sondern eine als derart offen-sichtlich und unrealistisch eingestufte Umsetzung dieser Verfahren, dass digitalisierte und real abgefilmte Raumelemente nicht zu einem homogenen Raum verschmelzen, sondern als getrennte Ebenen wahrgenommen werden und die daraus resultierende „Studioatmosphäre“ ein emotionales Eintauchen in die Bergwelt für viele Zuschauer verhindert.

Die vielen ausgesprochen heftigen und emotionalen Negativ-Kritiken zum Film lassen sich meines Ermessens unter anderen damit erklären, dass Zuschauer gerade bei Filmen über Gescheh-nisse in kaum zugänglichen Regionen besonderen Wert auf filmgeografische Authentizität Wert legen, weil die meisten diese Regionen nie als Touristen besuchen werden und daher Filme wie Vertical Limit die einzige Möglichkeit darstellen, diese Regionen zumindest im Rahmen eines vir-tuellen Tourismus bzw. armchair travel zu erleben.52 Maximale Authentizität soll quasi als

51 Mit dem green- bzw. bluescreen-Verfahren kann die Illusion erweckt werden, dass sich eine Person auf einer location befindet, beispielsweise auf einer Alpenwiese, während diese Person tatsächlich nur vor einer grün oder blau leuchtenden Wand in einem Filmstudio agiert, auf die in der Postproduction eine real abgefilmte oder digital generierte Landschaft hineinprojiziert wird und hierbei die Umrisse der Schauspieler ausgespart werden (Richter 2008: 79).

52 Zwar können unzugängliche Gebiete auch anhand von Dokumentarfilmen „bereist“ werden, allerdings handelt es sich dabei um einen Rezeptionsmodus, der sich deutlich von dem von Spielfilmen unterscheidet und unter anderem meist weniger emotional und „nüchterner“ erlebt wird.

gat für das Versäumnis dienen, diese Gebiete niemals wirklich bereist zu haben. Umso enttäu-schender ist es für die Zuschauer, wenn der medial vermittelte Karakorum stark verzerrt dargestellt wird und daher weder als geografische Informationsquelle oder noch als Mittel zur einer „realisti-schen“ geografischen Imagination dienen kann. Insofern können und wollen solche Zuschauer die neuseeländischen Südalpen nicht als „Ersatz-Karakorum“ akzeptieren.

Was zudem der oben genannten Autorisierungsstrategie der Filmemacher geradezu diamet-ral entgegensteht, ist die Reaktion des wohl bekanntesten Bergsteigers Reinhold Messner auf den Film. In der FAZ kritisiert er sowohl den Handlungsort des Films als auch das unrealistische Ver-halten der Charaktere:

So wenig die Berge um den Mount Cook aussehen wie der Himalaja, so wenig verhalten sich Menschen im Grenzbereich zwischen Leben und Tod wie in diesem Film. [...] Trotz des großen Aufwands aber ist es nicht gelungen, die Handlung realistisch erscheinen zu las-sen. Fast nichts in diesem Film sieht aus wie am wirklichen Berg. Ob mit einer Sprengla-dung eine Lawine ausgelöst wird oder nach einer Explosion der halbe Berg in die Luft fliegt – es ist zum Lachen. [...] Den Bildern fehlt die Atmosphäre extremer Höhen. [...] Wie Ed Viesturs, ein US-Star-Bergsteiger, der hinter der Kamera als Berater fungierte, so viel Unfug durchgehen lassen konnte, bleibt mir ein Rätsel (Messner, 26. Januar 2001).

Durch diesen Gegendiskurs, der zudem von einer anerkannten Autorität stammt, wird die Autori-sierungsstrategie der Filmemacher nahezu völlig entwertet und dürfte zudem viele Zuschauer in ihrem vernichtenden Urteil über den Film beeinflusst haben. Gleichzeitig tut Messner Bergfilme aber nicht einfach als irrelevante Fiktion ab, sondern misst ihnen durchaus das Potenzial zu, realen (Fehl-)Informationswert zu haben.

Ein wichtiger Grund, warum der Film nicht als authentisch wahrgenommen worden ist, ist der Versuch der Filmemacher, eine Balance zwischen Realismus und Entertainment zu finden. Von dem Bestreben, den Zuschauer einfach zu unterhalten, zeugen die vielen geradezu komödianti-schen Einlagen, aber auch Actionszenen, die ganz offensichtlich übertrieben sind und gerade des-halb einen cinema of attractions-Zuschauertyp besonders ansprechen können. Insofern zeigt diese Gruppe auch ein wesentlich entspannteres Verhältnis zu filmischer Authentizität. Trotz seines als unlogisch empfundenen Plots wirkt der Film auf viele Zuschauer allein aufgrund der visuellen Rei-ze als immersiv, während die Frage nach der Authentizität des Handlungsortes in den Hintergrund rückt. User „ichwan_mil“ bezieht sich ganz konkret auf die Authentizitätsdiskurse anderer

Rezen-senten: „I can't understand some people smack this movie for the sake of 'authenticity'. It is just a movie, it's there for the sake of entertainment. If you absolutely long for authenticity, look for documentary ones instead“ (30. Oktober 2010). Dies illustriert, dass es Zuschauer gibt, die den Film als durchaus inauthentisch wahrnehmen, aber schlicht kein Bedürfnis an filmgeografischer Au-thentizität haben und dies für sie keine Voraussetzung für das Eintauchen in die Filmwelt darstellt.

Der Hinweis auf Dokumentarfilme zeigt überdies, dass von Rezensenten wie „ichwan_mil“ Do-kumentarfilme als besonders authentisches Filmformat und quasi als Gegenentwurf zum als „inhä-rent inauthentisch“ eingestuften Spielfilmformat erachtet wird. Tatsächlich sind die Authentizi-tätserwartungen an Dokumentarfilme zumindest in filmgeografischer Hinsicht weitaus höher: So würde ein Dokumentarfilm über den K2, der aber wie Vertical Limit aus Sicherheitsgründen am Mount Cook gedreht würde, kaum von den Zuschauern angenommen werden.

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass ein erheblicher Teil der Zuschauer den Film als inauthentisch wahrgenommen hat und daher die Authentisierungsstrategien der Filmema-cher nur eine geringe Wirkung gezeigt haben, wobei sowohl die neuseeländische location als auch die Studioaufnahmen mit CGI als de-authentisierende Elemente maßgeblich zu dieser Wertung beigetragen haben. Trotz dieser „negativen“ Funktion der neuseeländischen location scheint der Film durchaus filmtouristisches Interesse bei einigen neuseeländischen Zuschauern geweckt zu ha-ben. Obwohl keine genauen Daten darüber vorliegen, ob Vertical Limit konkreten Filmtourismus ausgelöst hat, illustrieren Rezensionen wie die von „kid_dynamo“ aus Auckland, dass der Film trotz der lediglich indirekten Vermittlung der neuseeländischen Landschaft das Potenzial dazu be-sitzt: „I am a New Zealander so yes i am biast. I didn't even know some of this spectacular scenery was in my own back yard. Must go exploring“ (26. Dezember 2000). Die Darstellung der sublimen Südalpen wird vom Rezensenten als Aufforderung verstanden, die eigene Landschaft touristisch zu erforschen. Das neuseeländische Unternehmen Nomad Safaris in Queenstown bietet neben den obligatorischen Touren zu den locations von Lord of the Rings aus diesem Grunde auch eine halb-tägige Tour zu locations anderer in Neuseeland gedrehter Filme an, darunter auch zu denen von Vertical Limit („Set jetting“).

Im Dokument Ende des neuseeländischen Kinos? (Seite 126-132)