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Ausblick und offene Forschungsfragen/Anwendungsbereiche

Im Dokument Ende des neuseeländischen Kinos? (Seite 196-200)

Auf die Thematiken, die in dieser Arbeit behandelt worden sind, können keine abschlie-ßenden Antworten geliefert werden; es soll jedoch im Folgenden auf weitere Anwendungsbereiche der konzipierten Modelle und ein Ausblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen gegeben wer-den. Die im Titel dieser Arbeit gestellte Frage nach einem Ende des nationalen Kinos kann im Falle Neuseelands, wie das erste Kapitel gezeigt hat, trotz durchaus zu beobachtender Destablisierungs-tendenzen grundsätzlich verneint werden. Es ist davon auszugehen, dass trotz der sich weiter inten-sivierenden Globalisierungsprozesse zumindest mittelfristig nationale Gefüge nicht einfach ausei-nanderbrechen und sich auflösen werden, da gerade in Krisenzeiten immer wieder protektionis-tische Maßnahmen ergriffen werden, um den eigenen Nationalstaat (vermeintlich) zu schützen.

Aufgrund dieser Resilienz der Nationalstaaten werden höchstwahrscheinlich auch in Zukunft Fil-me – selbst diejenigen mit ausgesprochen transnationalem Produktionshintergrund – von Natio-nen im Rahmen politischer und kultureller Agenden immer wieder in die eigeNatio-nen KonstruktioNatio-nen nationaler Kinos eingebunden werden.

Während „große“ Kinos wie Hollywood und Bollywood für eine empirische Analyse, wie sie im zweiten Kapitel durchgeführt wurde, aufgrund ihrer Vielschichtigkeit und immensen An-zahl von Filmen kaum zu bewältigen wäre, könnte diese Analyseform gut auf kleinere nationale Kinos wie diejenigen Australiens, Islands oder Schwedens angewendet werden. Aufgrund des em-pirischen Ansatzes könnten die hierbei erhobenen Daten gut mit denen Neuseelands verglichen werden. Hierbei wäre hierbei interessant zu sehen, ob die Konsens-Dissens-Analyse einen wesent-lich stärkeren oder schwächeren Konsens offenbart als im Falle des neuseeländischen Kinos, woraus sich Rückschlüsse über die „subjektive“ De- oder auch Renationalisierung der entsprechenden Ki-nos ziehen ließen. Eine im Anschluss folgende Konstellationsmatrix könnte in einem zweiten Schritt dann aufzeigen, ob auch in anderen Ländern die location einen derart wichtigen Faktor bei der Konstruktion eines nationalen Kinos darstellt und dadurch ebenfalls eine explizit filmgeografi-sche Analyse der Filme angebracht erfilmgeografi-scheinen lässt. In einem letzten Schritt könnte dann die „ob-jektive“ De- und Renationalisierung ermittelt und mit derjenigen im neuseeländischen Kino vergli-chen werden. Ist beispielsweise das isländische Kino resilienter gegenüber transnationalen Pro-duktionspraktiken als das neuseeländische Kino oder ist es aufgrund seiner geografischen und ökonomischen Eingebundenheit in den europäischen Raum umso stärker auf ausländischen „In-put“ angewiesen?

Der von Higson geforderten Berücksichtigung der Zuschauerschaft bei der Konstruktion eines nationalen Kinos ist in dieser Arbeit nur rudimentär in Form der Analyse des Anteils neusee-ländischer Filme an den Top 100-Filmen am neuseeländischen Kinomarkt (siehe Abbildung 2.5.2) nachgekommen worden und könnte weiter ausgebaut werden. Durch zusätzliche Umfragen könn-te der Frage nachgegangen werden, was in den Augen neuseeländischer Zuschauer einen „neusee-ländischen Film“ ausmacht und was nicht. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass, wie in der Einleitung erwähnt, nationales Kino in erster Linie top down konstruiert ist und nicht etwa demo-kratisch durch eine „Volksbefragung“ erfolgt. Dennoch könnte eine bottom up-Version des natio-nalen neuseeländischen Kinos auf interessante Weise mit den top down konstruierten Versionen kontrastiert werden.

Das im zweiten Kapitel entwickelte Simulationsstufenmodell ließe sich gut auf „land-schaftsdominierte“ runaways, die die locations anderer Länder einsetzen, anwenden. Hierbei ließe sich der Frage nachgehen, ob beispielsweise australische locations einen höheren Aufwand bei der Delokalisierung erfordern als neuseeländische locations. Mit anderen Worten: Lässt sich ein Hand-lungsort wie Schottland einfacher mit einer neuseeländischen oder mit einer australischen location simulieren? Obwohl Hollywood-Filmemacher locations oftmals als beliebig austauschbar erachten, dürften doch bestimmte locations sich aufgrund ihrer geografischen Eigenschaften (Geomorpholo-gie, Vegetation etc.) besser zur Simulation bestimmter Handlungsorte eignen als andere.98

Eine weitere Fragestellung wäre die, ob die im Zuge der Digitalen Revolution eingesetzte Virtualisierung und folglich Entlokalisierung von locations in gleichem Maße auch andere Länder betrifft, die sich als locations für runaway-Produktionen zur Verfügung stellen. Aufgrund der im-mensen praktischen und – wie diese Arbeit dargelegt hat – durchaus auch ästhetischen Vorzüge digital generierter Landschaften und Welten erscheint es mir sehr wahrscheinlich, dass auch andere Länder von dieser location-Virtualisierung betroffen sind oder bald sein werden und es sich folglich um ein globales Phänomen handelt. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass es durch die immer freier fließenden transnationalen Produktionsströme längst kein Problem mehr darstellt, beispielsweise einen in Schottland produzierten Film anschließend in weit entfernte „state of the

98 So wäre es wohl prinzipiell möglich – insbesondere unter massiver Zuhilfenahme digitaler Effekte – mittels einer kongolesi-schen location den Handlungsort „Antarktis“ zu simulieren. Aufgrund der extremen geografikongolesi-schen Diskrepanz zwikongolesi-schen Kongo und Antarktis dürfte diese location/Handlungsort-Konstellation in der Praxis jedoch nicht vorkommen. Aus praktischen Gründen würde solch ein Film deshalb eher gleich vollständig in einem Filmstudio oder „kompatibleren“ Drehorten wie der Arktis gedreht werden.

art“-Postproduction-Einrichtungen wie WETA digital oder Industrial Light and Magic auf digita-lem Wege zu transferieren.

Des Weiteren bleibt abzuwarten, ob nicht in Zukunft sogenannte prozedurale Texturen, die tatsächlich ex nihilo im Computer generiert werden und somit überhaupt keine Spur von In-dexikalität oder Ikonizität mehr aufweisen, die Fototexturen mit ihrem letzten Rest an Refe-renzialität ablösen werden und dann im Falle von Filmen der 7. Simulationsstufe tatsächlich von einer „desert of the geographic real“ gesprochen werden kann bzw. muss. In Anbetracht der Tatsa-che, dass im Zuge der Digitalen Revolution bereits die Trägermedien von Musik (mp3), Filmen (streaming) und mittlerweile auch Büchern (e-Books) komplett digitalisierbar geworden sind, er-scheint es plausibel, auch von einer sukzessive zunehmenden Digitalisierung der einzelnen Produk-tionsschritte, die zur Produktion dieser Medien vonnöten sind, auszugehen.

Selbst auf die Digitalisierung und damit Virtualisierung des zentralsten „Elements“ einer Filmproduktion, nämlich der Schauspieler, scheint das Digitale überzugreifen: In einer ganzen Reihe von Arbeiten wird bereits über die Möglichkeit „synthetischer Darsteller“, die nicht mehr von menschlichen Schauspielern unterscheidbar sind, diskutiert (siehe z. B. Hoberg 1999: 33–34, North 2008: 2, Illiasch 2009: 85–88). Auch in den von mir behandelten Filmen, so z. B. bei Lord of the Rings und The Hobbit, haben bereits rein digitale Stuntdoubles agiert, ohne dass es den Zu-schauern aufgefallen wäre. Wird also der Spielfilm durch das Digitale schließlich auch noch „ent-menschlicht“ werden? Meines Ermessens wird es viel eher zu einem flächendeckenden Einsatz rein digitaler Landschaften und Welten und damit Entlokalisierung kommen als zu einer derartigen

„Entmenschlichung“ filmischer Produktionen – bevor der reale Mensch aus dem Film verschwin-det, verschwindet erst der reale Raum. Denn aufgrund der sogenannten uncanny valley-Proble-matik99 dürfte die überzeugende digitale Nachbildung menschlicher Körpersprache und vor allem Mimik, ganz zu schweigen von der digitalen Nachbildung der menschlichen Stimme, noch bis auf weiteres Zukunftsmusik bleiben. Bis jetzt ist immer noch der Einsatz von motion capturing not-wendig, um diese Aspekte des Menschseins glaubwürdig nachbilden zu können. Für motion cap-turing sind aber immer noch echte Schauspieler vonnöten, die mittels ihrer Bewegungen der digita-len Figur „authentische Lebendigkeit“ verleihen.

99 Der von dem Roboteringenieur Masahiro Mori geprägte Begriff des uncanny valley beschreibt, wie ein immer menschenähnli-cher gestalteter Roboter parallel dazu auch immer familiärer wirkt, sich diese Familiarität aber in Abneigung und Entfremdung umkehrt, wenn der Roboter zwar einem Menschen schließlich zum Verwechseln ähnlich sieht, aber doch weiterhin anhand subti-ler, „unheimlicher“ Details von einem Menschen unterschieden werden kann. Wenn ein Roboter hingegen derart menschenähn-lich ist, dass er überhaupt nicht mehr von einem Menschen unterschieden werden kann, also gewissermaßen die perfekte Simulati-on eines Menschen darstellt, ist die uncanny valley überwunden, da das Fremde dann als das Eigene akzeptiert wird (Mori, 1970).

Im Vergleich zu der Frage nach dem Ende des neuseeländischen Kinos muss die Frage nach dem Ende der neuseeländischen location – und damit einem wichtigen Teil des nationalen Kinos – zumindest im Hinblick auf effektlastige Fantasyfilme folglich deutlich „pessimistischer“ ausfal-len. Filme wie King Kong und Avatar beweisen, dass keine locations mehr für die Produktion sol-cher Filme benötigt werden und der Einsatz neuseeländissol-cher locations im Hobbit vor allem ein Zu-geständnis an die neuseeländische Tourismusindustrie darstellte, nicht aber eine unabdingbare Notwendigkeit gewesen ist. Insofern erscheint jetzt, im Jahre 2015, das 2011 von Leotta – auch im Hinblick auf die damals noch ausstehende Ausstrahlung der Hobbit-Filme – gezeichnete Bild vom zukünftig zu erwartenden Filmtourismus in Neuseeland zu optimistisch, wenn er schreibt: „[...]

while local films will continue to shape New Zealand’s virtual geography, global audiences will still undertake both imaginary and physical filmic tours of the country“ (2011: 204). Denn mittlerweile werden zunehmend sogar in Genres wie Kriminalfilmen (z. B. David Finchers Zodiac [2007] und Clint Eastwoods Changeling [2008]) digitale Landschaften eingesetzt, was darauf hindeutet, dass die CGI in Zukunft auch geografisch „realistischere“ Filmgenres erobern wird und somit nicht nur die 5. durch die 7. Simulationsstufe, sondern zunehmend auch Filme der 3. und 4. Simulationsstufe durch die 6. Simulationsstufe ersetzt werden könnten. Es ist abzusehen, dass zumindest mittelfris-tig statt auf Filme mit neuseeländischer location aber ausländischem, realitätsbasiertem Handlungs-ort auch hier vermehrt gleich auf digitale Landschaften zurückgegriffen werden wird, sodass auch hier die neuseeländische location obsolet werden könnte.

Ist somit zu erwarten, dass der Filmtourismus nach Neuseeland stark einbrechen wird?

Wenn man die Digitalisierung verschiedener Bereiche betrachtet, fällt auf, dass zwar beispielsweise mp3 sich zu einem Standard in puncto Musik entwickelt hat, dass aber weiterhin immer noch Mu-sik-CDs verkauft werden. Sogar ein Retro-Trend ist hierbei zu beobachten, wo neuerdings nicht nur das Sammeln, sondern auch das Abspielen (mit den dafür notwendigen Geräten) alter Vinyl-Schallplatten wieder „in“ geworden ist. Bemerkenswert ist hier, dass Vinyl-Schallplatten somit nicht ein-fach als „Relikte der Vergangenheit“ in Schaukästen gestellt werden, sondern auch in ihrer ur-sprünglichen Funktionalität „reaktiviert“ werden – sie sind somit nicht einfach (disfunktionales)

„Heritage“ im Sinne Kirshenblatt-Gimbletts (1995: 370), sondern wieder zu Gebrauchsgegenstän-den geworGebrauchsgegenstän-den. Vielleicht liegt in dieser in vielen Lebensbereichen zu beobachtenGebrauchsgegenstän-den nostalgischen Rückbesinnung auf „Altes“ auch eine Hoffnung für die neuseeländische location. So wie neuer-dings Heimatfilme (z. B. die Sehnsuchtsland-Reihe im ZDF) und Heritagefilme wieder an

Beliebt-heit gewonnen haben, könnte vielleicht auch Neuseeland aufgrund seines clean & green-Images sich als location für Filme vermarkten, die „alte Werte“ vermitteln und der Sehnsucht vieler Men-schen nach pastoraler Idylle in einer „heilen Welt“ Ausdruck verleihen. Wenn langfristig land-schaftliche Digitalität der Standard geworden ist, könnte sich Neuseeland womöglich eine Markt-nische als location für Filme, die nicht nur inhaltlich nostalgische Themen behandeln, sondern auch im Rahmen ihrer Vermarktung mit dem Einsatz „traditioneller“ Produktionsmethoden unter Ein-satz „echter“ locations werben und damit an die Sehnsucht des Menschen nach dem Realem, dem Echten, dem Authentischen, in Zeiten der allgegenwärtigen Simulation und Digitalität appellieren.

Im Dokument Ende des neuseeländischen Kinos? (Seite 196-200)