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Verhältnismässigkeit

Im Dokument ERFÜLLUNG STAATLICHER AUFGABEN (Seite 98-101)

II. Gehalt der verfassungsrechtlichen Anforderungen

4. Verhältnismässigkeit

Direkt anknüpfend an das öffentliche Interesse fordert Art. 5 Abs. 2 BV weiter, dass staatliches Handeln «verhältnismässig sein» muss. Eine staatliche Hand-lung muss nicht nur durch ein legitimes Anliegen motiviert sein, es muss dieses Motiv auch fördern, und dies möglichst schonend. Ausserdem ist das Motiv einer Handlung an dessen Wirkungen zu messen.234 Aus diesem

Gedan-229 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 494; TschAnnen/

ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 20 Rz. 12.

230 Art. 89 ff., insb. 95 Bst. a BGG; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwal-tungsrecht, § 20 Rz. 15.

231 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 494; TschAnnen/

ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 20 Rz. 14–16.

232 BGE 142 I 162 E. 3.2.2 S. 165.

233 BGE 132 II 408 E. 4.3 S. 416; 129 I 337 E. 4.1 S. 344 (das Bundesgericht sei keine «autorità superiore di pianificazione»); 126 I 219 E. 2c S. 222, betreffend Denkmalschutz.

234 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rz. 1.

§ 3 Verfassungsrechtliche Anforderungen

ken haben Lehre und Rechtsprechung die drei bekannten Teilforderungen der Eignung, Erforderlichkeit und Zumutbarkeit abgeleitet.235

a. Einzelne Postulate

An dieser Stelle muss die Dogmatik nicht in allem Detail wiedergegeben wer-den, einige Hinweise auf einzelne Postulate sollen im Folgenden genügen.

Zwecktauglichkeit. Der erste Teilgehalt des Verhältnismässigkeitsprinzips, die Eignung, stellt sicher, dass staatliche Handlungen ein sinnvolles Ziel an-visieren und dieses auch erreichen.236 Darin liegt ein Kern rechtsstaatlicher Rechtfertigung von Staatstätigkeit: Interessen der Öffentlichkeit müssen nicht nur als Leitidee vorliegen, sie müssen auch tatkräftig befördert werden.

Diesen Grundgedanken drückt auch Art. 178 Abs. 1 BV aus, der im Zusam-menhang mit Organisationsvorgaben für die Bundesverwaltung eine «ziel-gerichtete Erfüllung der Aufgaben» fordert.

Zielgenauigkeit. Zur Zielgerichtetheit muss eine gewisse Präzision hinzukom-men, denn die Zwecktauglichkeit legitimiert das Staatshandeln zwar, sie be-grenzt es aber nicht. Der Staat könnte mit übermässigem Aufwand und über-mässig einschränkendem Vorgehen seine Ziele erfüllen.237 Dieses Anliegen wird durch die Erforderlichkeit eingelöst. Staatshandeln darf die Rechtsstellung Privater nur soweit einschränken, als dies für die Zielerreichung notwendig ist

— und zwar in sachlicher, räumlicher, zeitlicher und persönlicher Hinsicht.238 Interessenabwägung. Das Verhältnismässigkeitsprinzip dient nicht nur dazu, das staatliche Handeln möglichst genau an die verfolgten öffentlichen Interes-sen zu binden, es dient auch der Einzelfallgerechtigkeit, indem es die Sichtweise und Interessen der betroffenen Privatpersonen berücksichtigt. Eine staatliche Handlung mag noch so zielgenau legitime Motive verfolgen, sie bleibt illegi-tim, wenn die privaten Interessen die öffentlichen im Einzelfall überwiegen.239 Diese Interessenabwägung darf nicht als freihändiges, ergebnisorientiertes Herumhantieren missverstanden werden. Sie erfolgt gemäss TschAnnen in

235 Dazu ausführlich häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 521–564; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rz. 2–17.

236 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 522;

TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rz. 4.

237 Genau unzutreffend häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 522, wonach die «Geeignetheit» der Präzision staatlichen Handelns dienen soll.

238 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 530–554;

TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rz. 8–15.

239 Vgl. zur Zumutbarkeit ausführlich häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwal-tungsrecht, Rz. 555–558; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungs-recht, § 21 Rz. 16.

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drei gedanklichen Schritten:240 Die rechtlich bedeutsamen Interessen sind zunächst zu ermitteln und dann «mithilfe rechtlich ausgewiesener Massstäbe und mit Blick auf die möglichen Auswirkungen» zu beurteilen. Im dritten und entscheidenden Schritt sind die Interessen zu optimieren; es soll also diejenige Lösung gefunden werden, bei der die ermittelten und beurteilten Interessen gemäss ihrem Gewicht «möglichst umfassend zur Geltung kommen».

b. Geltungsweise

Das Verhältnismässigkeitsprinzip gilt in der gesamten Rechtsordnung241 und für sämtliches Staatshandeln, auch wenn dieses in privatrechtlichen Hand-lungsformen erbracht wird.242 In einzelnen Rechtsgebieten ist das Prinzip aber besonders bedeutsam oder erfährt besondere Ausprägungen.

Besonderes Gewicht hat der Grundsatz der Verhältnismässigkeit etwa im Polizeirecht, auch weil dieses die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols regelt.243 Die polizeirechtlichen Erlasse beschränken sich typischerweise darauf, eine Auswahl zulässiger Instrumente bereitzustellen, über deren Einsatz im Einzelfall anhand des Verhältnismässigkeitsprinzips zu entschei-den ist.244 Das Polizeirecht kennt ausserdem eine besondere Ausprägung der Erforderlichkeit in persönlicher Hinsicht:245 das Störerprinzip, wonach sich

«polizeiliches Handeln gegen diejenigen Personen zu richten [hat], die den polizeiwidrigen Zustand unmittelbar zu verantworten haben»246.

Im Recht der öffentlichen Abgaben nimmt das Verhältnismässigkeitsprin-zip die besondere Gestalt des ÄquivalenzprinVerhältnismässigkeitsprin-zips an. Dieses «bestimmt, dass eine Gebühr nicht in einem offensichtlichen Missverhältnis zum objektiven Wert der Leistung stehen darf und sich in vernünftigen Grenzen halten muss»247 (siehe dazu hinten § 4/IV.2). Diese besondere Ausgestaltung gibt

ins-240 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 26 Rz. 37; einschliess-lich der folgenden wörteinschliess-lichen Zitate. Positivrechteinschliess-liche Verankerung dieses Dreischritts in Art. 3 RPV.

241 Insbesondere «in allen Gebieten des öffentlichen Rechts», BGE 94 I 392 E. 3 S. 397.

242 ePiney, Basler Kommentar, Art. 5 Rz. 33; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rz. 18 f., § 56 Rz. 16.

243 BGE 140 I 353 E. 8.7 S. 373.

244 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 56 Rz. 17.

245 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 554; TschAnnen/

ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 56 Rz. 29.

246 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 56 Rz. 28, ohne die Hervorhebung im Original. Vgl. dazu auch häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 2608.

247 BGE 141 V 509 E. 7.1.2 S. 517; grundlegend BGE 126 I 180 E. 3a/bb S. 188. Näher dazu: häFelin/

Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 2786; TschAnnen/ziMMerli/

Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 58 Rz. 19.

§ 3 Verfassungsrechtliche Anforderungen

besondere Vorgaben an die Interessenabwägung, indem die relevanten Beur-teilungspunkte für die Bemessung des Leistungswerts vorgegeben werden.248 Ausserdem kennen Spezialgesetze mitunter besondere Verankerungen des Verhältnismässigkeitsprinzips. So etwa gilt im Datenschutzrecht die Besonderheit, dass auch Private verhältnismässig mit erhobenen Daten um-gehen müssen.249

c. Gerichtliche Durchsetzbarkeit

Der Verhältnismässigkeitsgrundsatz ist — wie schon das Erfordernis des öffent-lichen Interesses — nie selbständig anrufbares verfassungsmässiges Recht.

Er kann eigenständig gerügt werden als Verletzung von Bundesrecht (Art. 95 Bst. a BGG) im Verfahren der öffentlichrechtlichen Beschwerde.250 In anderen Fällen muss mangelhafte Verhältnismässigkeit in Verbindung mit der Verlet-zung von Freiheitsrechten oder des Willkürverbots gerügt werden.251

Das Bundesgericht prüft die Einhaltung der Verhältnismässigkeit grund-sätzlich frei. Es legt sich aber dieselbe Zurückhaltung auf wie beim öffentli-chen Interesse, wenn die Beurteilung von einer Kenntnis der örtliöffentli-chen Ver-hältnisse abhängt.252

Im Dokument ERFÜLLUNG STAATLICHER AUFGABEN (Seite 98-101)