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Gesetzmässigkeit

Im Dokument ERFÜLLUNG STAATLICHER AUFGABEN (Seite 90-95)

II. Gehalt der verfassungsrechtlichen Anforderungen

2. Gesetzmässigkeit

Die erste und bedeutsamste verfassungsrechtliche Anforderung ist das Er-fordernis einer genügenden gesetzlichen Grundlage. Die Verfassung veran-kert sie in Art. 5 Abs. 1 BV in grundlegender Weise für sämtliches staatliches Handeln und doppelt in Art. 36 Abs. 1 bezogen auf Grundrechtseinschrän-kungen nach. Ausserdem führt die Verfassung das Erfordernis in bestimm-ten Sachbereichen noch aus: Art. 127 Abs. 1 bestimmt, welche Grundsätze für Besteuerungen zwingend gesetzlich zu verankern sind; Art. 178 Abs. 3 sieht für Aufgabenübertragungen ein Gesetzeserfordernis vor. Und in den Art. 163–165 werden Leitlinien für den Gesetzgeber aufgestellt, insbesondere erwähnt Art. 164 Abs. 1, welche Regelungsgegenstände zwingend in einem formellen Gesetz unterzubringen sind.176

Der Gesetzmässigkeitsgrundsatz ist gleichzeitig legitimierende Grund-lage wie begrenzende Schranke für staatliches Handeln — wie es der Wortlaut von Art. 5 Abs. 1 BV auf eine schöne Formel bringt. Der Staat muss sich auf eine gesetzliche Grundlage stützen können, um überhaupt tätig zu werden, und darf nur so weit gehen, wie es diese Grundlage erlaubt.177

Die Gesetzmässigkeit lässt sich — leicht verkürzend — in drei Teile glie-dern:178 (1) Es muss eine gesetzliche Grundlage bestehen, die generelle Regeln aufstellt. (2) Dieser Rechtssatz muss richtig erlassen worden sein; im richtigen Verfahren und konform mit übergeordnetem Recht. (3) Der Rechtssatz muss geeignet sein, um darauf gestütztes Handeln zu legitimieren.

Die ersten zwei Teile der Gesetzmässigkeit sind gedankliche Vorstufen, die in der Praxis kaum Probleme schaffen. Anders liegt es beim dritten und entscheidenden Punkt: Eine gesetzliche Grundlage muss nach ihrer Stufe und nach ihrem Inhalt geeignet sein, das staatliche Handeln zu begründen und zu begrenzen. Mit anderen Worten müssen Normdichte und Normstufe genügend sein, worauf im Folgenden näher einzugehen ist.

176 Vgl. zum Teil AUberT/MAhon, Petit commentaire, Art. 5 Rz. 6.

177 Auch bezeichnet als Vorbehalt des Gesetzes und Vorrang des Gesetzes, biAggini, Kom-mentar BV, Art. 5 Rz. 7; häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 325.

178 Vgl. TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rz. 2 f., wo dieselben Elemente in fünf einzelne Postulate gegliedert werden. Leicht verkürzt auch BGE 130 I 1 E. 3.1 S. 5. Zweiteilige Gliederung in Erfordernis des Rechtssatzes und Erfor-dernis der Gesetzesform bei häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungs-recht, Rz. 338 ff., 350 ff.

§ 3 Verfassungsrechtliche Anforderungen

a. Das Erfordernis einer genügend bestimmten Norm (Normdichte)

Das Gebot der genügenden Normdichte179 bedeutet gemäss dem Bundesge-richt, dass Rechtssätze «so präzise formuliert sein [müssen], dass die Rechts-unterworfenen ihr Verhalten danach einrichten und die Folgen eines bestimm-ten Verhalbestimm-tens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen können»180.

Dieser Teilgehalt des Gesetzmässigkeitsprinzips soll Rechtssicherheit gewährleisten, darf die Einzelfallgerechtigkeit aber nicht vereiteln.181 Rechts-sätze sollen so gehaltvoll sein, dass darauf gestützte Entscheidungen von Be-hörden erwartbar werden, dass also deren Auslegung nicht völlig offen ist.182 Zugleich müssen generell-abstrakte Normen ja gerade auf eine unbestimmte Anzahl Fälle angewendet werden können, weshalb sie genügend Spielraum für Lösungen belassen müssen, die im Einzelfall gerecht sind.183 Oder in den Worten des Bundesgerichts:

«Der Grad der erforderlichen Bestimmtheit lässt sich nicht abstrakt fest-legen. Er hängt unter anderem von der Vielfalt der zu ordnenden Sachverhalte, von der Komplexität und der Vorhersehbarkeit der im Einzelfall erforderlichen Entscheidungen, von den Normadressaten, von der Schwere des Eingriffs in die Verfassungsrechte sowie von der erst bei der Konkretisierung im Einzel-fall möglichen sachgerechten Entscheidung ab»184.

Das Erfordernis der genügenden Normdichte ist damit zwar selber wenig bestimmt, gibt aber immerhin einen handhabbaren Prüfmassstab vor: Kann sich eine Staatshandlung auf einen Rechtssatz stützen, der diese genügend vorgezeichnet hat, sodass sie nicht unbegründet erscheint? Und je stärker das staatliche Handeln die Rechtsstellung Privater betrifft, desto deutlicher vorgezeichnet muss es sein.185

179 Alternative Begriffe Bestimmtheitsgebot und Normbestimmtheit bei biAggini, Kom-mentar BV, Art. 5 Rz. 10, Art. 36 Rz. 12; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rz. 19.

180 BGE 143 I 310 E. 3.3.1 S. 314; 139 I 280 E. 5.1 S. 284; ähnlich schon BGE 109 Ia 273 E. 4d S. 283.

181 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rz. 19. Ähnlich auch biAggini, Kommentar BV, Art. 36 Rz. 11.

182 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 342.

183 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 344.

184 BGE 143 II 162 E. 3.2.1 S. 169; fast gleichlautend auch BGE 139 II 243 E. 10 S. 252; 136 I 87 E. 3.1 S. 90; grundlegend dazu BGE 128 I 327 E. 4.2 S. 339 f.

185 biAggini, Kommentar BV, Art. 36 Rz. 12.

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b. Das Erfordernis einer Norm von genügender Erlassstufe (Normstufe) Rechtssätze müssen nicht nur inhaltlich bestimmt genug sein, sie müssen auch in einem Erlass von genügender Stufe enthalten sein. Dieses Erfordernis bestimmt, ob eine Verordnungsnorm als Grundlage für eine Staatshandlung reicht oder ob ein Gesetz im formellen Sinn verlangt wird.186 In diesem Zusam-menhang stellen sich zwei Fragen: Welches sind die «wichtigen» Regelungs-gegenstände, die kraft Art. 164 Abs. 1 BV zwingend in das Gesetz selbst gehören?

Und unter welchen Voraussetzungen ist eine Delegation der Rechtsetzungs-befugnis an den Verordnungsgeber zulässig?

Beide dieser Themen sind in der Lehre eingehend bearbeitet worden und müssen an dieser Stelle nicht wiederholt werden. Gesagt sei immerhin so viel:

Was wichtig oder wesentlich ist, entspringt einer rechtspolitischen Wertung und lässt sich nicht verbindlich umreissen.187 Es lassen sich nur Anhaltspunk-te und Indizien beiziehen wie etwa die Anzahl der Betroffenen, die InAnhaltspunk-tensität des Eingriffs, finanzielle Auswirkungen oder die öffentliche Akzeptanz.188

Die Voraussetzungen der Gesetzesdelegation bilden gefestigte herr-schende Lehre; sie wurden vor allem anhand von Grundrechtseingriffen erarbeitet. Hier zu resümieren ist nur Folgendes: Auch Staatshandlungen, die die Rechtsstellung des Einzelnen schwer betreffen, können sich auf Ver-ordnungsnormen stützen, sofern das Gesetz selbst die «Grundzüge der dele-gierten Materie» regelt.189

Das Erfordernis einer genügenden Erlassstufe gründet in der legitimie-renden Wirkung der Gesetzesform:190 Erlasse des Parlaments verfügen über die höchste demokratische Legitimation und können damit Staatshandlun-gen eher rechtfertiStaatshandlun-gen, die einschneidend, umstritten und folStaatshandlun-genschwer sind.

c. Sonderstellung gegenüber anderen Anforderungen

Die Gesetzmässigkeit nimmt eine besondere Rolle unter den verfassungsrecht-lichen Anforderungen ein; sie ist das Öhr, durch welches die Einhaltung anderer Anforderungen beurteilt wird. So verzichtete etwa das Bundesgericht schon auf die gesonderte Prüfung des öffentlichen Interesses, weil die gesetzliche

Grund-186 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 350–352; TschAnnen/

ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rz. 16 f.

187 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rz. 17.

188 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 354; TschAnnen/

ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rz. 5.

189 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 368; fast gleichlautend auch TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rz. 38.

190 Vgl. «erhöhter Legitimationsbedarf» bei TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rz. 6.

§ 3 Verfassungsrechtliche Anforderungen

lage ja als Abschluss eines demokratischen Erörterungsprozesses anzusehen sei, der das Vorliegen eines öffentlichen Interesses bezeuge.191 Anders gewen-det: Wenn der Gesetzgeber eine gewisse Tätigkeit gesetzlich erlaubt, drückt er damit aus, dass aus seiner Sicht ein öffentliches Interesse dafür besteht.

d. Geltungsweise

Grundsätzlich gilt das Gesetzmässigkeitsprinzip für jedes Staatshandeln192 — aber eben nur grundsätzlich. Es gibt zwei Arten von Ausnahmen: In gewissen Fällen ist das Staatshandeln befreit vom Gesetzmässigkeitsprinzip, in anderen wird dieses gelockert.

In zwei Fällen kann die gesetzliche Grundlage substituiert werden:

durch die polizeiliche Generalklausel und die Sachherrschaft über öffentli-che Saöffentli-chen.193

¾ Die polizeiliche Generalklausel kann eine gesetzliche Grundlage ersetzen, wenn eine ernste und unmittelbar drohende Gefahr für hochstehende Rechtsgüter nicht anders abgewendet werden kann.194 Die polizeiliche Generalklausel darf aber nur subsidiär zum Einsatz kommen; sie kann also nur ein fehlendes Gesetz ersetzen, nicht von einem unpassenden abweichen.195

¾ Der Staat darf überdies aufgrund seiner Sachherrschaft den gesteigerten Gemeingebrauch einer öffentlichen Sache auch ohne ausdrückliche Grundlage für bewilligungspflichtig erklären.196 Die Verfügungsgewalt des Gemeinwesens über eine öffentliche Sache schliesst somit das Recht ein, eine Bewilligungspflicht für deren Benutzung einzuführen. Noch besteht diese Gerichtspraxis; nach deutlicher Kritik hat das Bundesgericht zuletzt 2009 offengelassen, ob es künftig an dieser Praxis festhalten wolle.197

191 BGE 138 I 378 E. 8.3 S. 394.

192 BGE 130 I 1 E. 3.1 S. 5; ePiney, Basler Kommentar, Art. 5 Rz. 33 unter Bezug auf Art. 5 BV insgesamt.

193 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rz. 22a, spricht von Vorbehalten und Durchbrechungen.

194 Art. 36 Abs. 1 Satz 3 BV (für Grundrechtseingriffe); häFelin/Müller/UhlMAnn, Allge-meines Verwaltungsrecht, Rz. 2580; TschAnnen/ziMMerli/Müller, AllgeAllge-meines Ver-waltungsrecht, § 19 Rz. 22a, § 56 Rz. 4–10.

195 BGE 137 II 431 E. 3.3.1 S. 444; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungs-recht, § 56 Rz. 6.

196 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 19 Rz. 22a, § 51 Rz. 13.

A.M. häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 384, wonach die BV 1999 diese Praxis nicht mehr zulasse.

197 BGE 135 I 302 E. 3.2 S. 307 f. In einem späteren Entscheid hat das Bundesgericht die Frage einer allfälligen Praxisänderung allerdings nicht mehr angesprochen, BGE 138 I 274 E. 3.3.

S. 286; vgl. TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 51 Rz. 15.

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In drei Bereichen des Verwaltungshandelns gelten geringere Anforderungen an die Normdichte:

¾ Leistungsverwaltung. In der Leistungsverwaltung muss zwar eine gesetz-liche Grundlage vorliegen,198 allerdings sind die Anforderungen an de-ren Bestimmtheit geringer.199 Besonders für die Bemessung von Kausa-labgaben als Entgelt für staatliche Leistungen reicht eine weniger detail-lierte gesetzliche Grundlage aus.200 Allerdings gilt auch bei der Leis-tungsverwaltung wieder die übliche Anforderungsintensität, wenn mit der Leistung Pflichten verbunden sind, die staatliche Leistung Vorbedin-gung für die Ausübung von Grundrechten ist oder wenn die Leistung Rechtssicherheits- und Rechtsgleichheitsfragen aufwirft.201

¾ Wirtschaftendes Staatshandeln. Als zweiten Fall herabgesetzter Anforde-rungen an die Bestimmtheit der gesetzlichen Grundlage identifiziert das Bundesgericht die staatlichen Tätigkeiten, «die nach marktwirtschaftli-chen Prinzipien geregelt werden»202. Das Bundesgericht hat diese Locke-rung aus dem Glarnersach-Entscheid noch nicht als allgemeine Praxis verstetigt.203 Doch hat es damit eine Richtung aufgezeigt: Das Gericht drängt die demokratische und die rechtsstaatliche Funktion des Gesetz-mässigkeitsprinzips zurück, «um die unternehmerische Tätigkeit nicht zu behindern»204 (siehe auch hinten § 6/II.1.c).

¾ Besondere Rechtsverhältnisse. Gefestigte Praxis sind hingegen die deut-lich herabgesetzten Anforderungen an Normstufe und -dichte im beson-deren Rechtsverhältnis.205 Ein solches liegt vor, wenn «Bürgerinnen und Bürger in einer besonders nahen und engen Beziehung zum Staat ste-hen»206, etwa als Insassen einer staatlichen Anstalt oder als Nutzer einer öffentlichen Einrichtung. Nach aktueller Praxis darf sich der Staat für

198 BGE 130 I 1 E. 3.1 S. 5; häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 39, 379.

199 BGE 138 I 378 E. 7.2 S. 392; häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 381.

200 BGE 125 I 182 E. 4a S. 193; 121 I 230 E. 3g/aa S. 238. Ferner WiederKehr, Legalitätsprinzip im Kausalabgaberecht, S. 45.

201 TschAnnen, Systeme, Rz. 26.

202 BGE 138 I 378 E. 7.2 S. 392.

203 Eine allgemeine Praxis scheinbar annehmend bAUMAnn, Wettbewerbsverzerrungen, Rz. 303.

204 BGE 138 I 378 E. 7.2 S. 392.

205 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 43 Rz. 31.

206 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 450, dort als «Sonder-statusverhältnis» bezeichnet; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwal-tungsrecht, § 43 Rz. 22.

§ 3 Verfassungsrechtliche Anforderungen

leichte Eingriffe auf weniger detaillierte Normen tieferer Stufe stützen (herabgesetzte Normdichte und Normstufe).207

e. Gerichtliche Durchsetzbarkeit

Die Gesetzmässigkeit kann in zwei Gebieten als verfassungsmässiges Recht eigenständig gerügt werden: im Strafrecht und im Abgaberecht.208 Eigen-ständig anrufbar ist das Prinzip überdies in der Beschwerde in öffentlichrecht-lichen Angelegenheiten im Rahmen von Verletzungen von Bundesrecht.209 Soweit kantonale Erlasse oder auf kantonales Recht gestützte Entscheide angefochten werden, muss eine Verletzung des Gesetzmässigkeitsprinzips in Verbindung mit einem anderen Recht gerügt werden: der Verletzung eines Freiheitsrechts, des Willkürverbots oder im Rahmen der Gewaltenteilungs-beschwerde.210

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