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Unterschiedliche Privatisierungsbegriffe in

Im Dokument ERFÜLLUNG STAATLICHER AUFGABEN (Seite 71-76)

II. Privatisierung

5. Unterschiedliche Privatisierungsbegriffe in

Erschei-nungsformen der Privatisierung zu erfassen. Die soeben skizzierte Zweitei-lung in Aufgabenprivatisierung und ErfülZweitei-lungsprivatisierung soll die Privati-sierungsdiskussion nicht zusätzlich verkomplizieren, sondern die rechtliche Bewertung der verschiedenen Vorgänge vereinfachen. Die bestehenden Be-griffe müssen sich also in diese Zweiteilung einordnen lassen.

a. Echte und unechte, materielle und formelle Privatisierung

Die Zweiteilung in Aufgabenprivatisierung und Erfüllungsprivatisierung taucht in der rechtswissenschaftlichen Lehre unter anderen Chiffren auf:

Regelmässig wird von echter und unechter bzw. von materieller und formel-ler Privatisierung gesprochen. Echt und materiell werden dabei gleichbedeu-tend verwendet, ebenso unecht und formell auf der anderen Seite.

Eine echte oder materielle Privatisierung liege etwa vor, wenn der Staat sich seiner Verantwortung für eine bestimmte Aufgabe entledige.98 Dagegen handle es sich um eine rein formelle oder unechte Privatisierung, wenn ledig-lich die Erfüllung einer staatledig-lichen Aufgabe übertragen wird, der Staat aber die Verantwortung dafür behält.99

98 büren, Akkreditierte Zertifizierung, S. 145; TschAnnen, Privatisierung, S. 213. Ähnlich auch häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 1869; TschAn-nen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rz. 4. Etwas ungenau hin-gegen dUbey/zUFFerey, Droit administratif général, Rz. 43, die eine materielle Privati-sierung (oder «privatisation proprement dite») daran festmachen, ob der ausgelagerte Aufgabenträger einen «rapport organique» zum Staat habe.

99 Vgl. dUbey/zUFFerey, Droit administratif général, Rz. 43 («improprement dite»); JAAg, Dezentralisierung und Privatisierung, S. 30; TschAnnen/ziMMerli/Müller, nes Verwaltungsrecht, § 11 Rz. 4. Ähnlich auch häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemei-nes Verwaltungsrecht, Rz. 1868. Etwas ungenau TAnqUerel, Droit administratif, Rz. 108, der die unechte Privatisierung mit der Dezentralisierung vermischt.

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Diese Begriffspaare dienen aber selten dazu, die vielgestaltigen Privatisie-rungsarten zu ordnen, sondern sind meist zusätzliche Beschreibungen für bestimmte Privatisierungsarten: unecht/formell etwa für die Organisations-privatisierung100 und echt/materiell für die Aufgabenprivatisierung101.

Während die echte bzw. materielle Privatisierung dem hier verwendeten Begriff der Aufgabenprivatisierung entspricht, kann die unechte bzw. for-melle Privatisierung nicht ohne Weiteres mit der Erfüllungsprivatisierung gleichgesetzt werden. In der Lehre wird damit ausschliesslich die Organisa-tionsprivatisierung bezeichnet, während die Erfüllungsprivatisierung — wie hier verwendet — weitere Phänomene abdeckt.

b. Aufgabenverzicht

Beim Aufgabenverzicht gibt der Staat seine Verantwortung für eine bestimm-te Aufgabe ab.102 Der Staat ist also weder für das Ob noch das Wie der Aufga-benerfüllung verantwortlich. Beispiele für diesen Vorgang finden sich etwa auf kantonaler Ebene: Die Kantone Solothurn und Appenzell Ausserrhoden haben darauf verzichtet, eigene Banken zu betreiben, und der Kanton Zürich hat seine Staatskellerei veräussert.103

Nach dem Begriffsverständnis dieser Arbeit ist der Aufgabenverzicht gleichbedeutend mit der Aufgabenprivatisierung. Die Literatur nimmt zwei Unterscheidungen vor, die diese Arbeit ausklammert. Erstens beschlage der Aufgabenverzicht die dahinterliegenden Motive, was bei der Aufgabenpriva-tisierung nicht der Fall ist. Ein Aufgabenverzicht liege vor, wenn das öffentli-che Interesse an einer Aufgabe entfalle104 oder eine staatliche Aufsicht nicht mehr nötig sei105. Diese Zusätze sind für die Begriffsdefinition irrelevant;

jeder Privatisierungsvorgang ist irgendwie motiviert. Entscheidend bleiben

100 So bei häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 1868; hAnd-schin/siegenThAler, Privatisierung, S. 405; JAAg, Dezentralisierung und Privatisie-rung, S. 30; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rz. 4.

101 So bei büren, Akkreditierte Zertifizierung, S. 145, häFelin/Müller/UhlMAnn, Allge-meines Verwaltungsrecht, Rz. 1869; TschAnnen, Privatisierung, S. 213; TschAnnen/

ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rz. 4.

102 hAndschin/siegenThAler, Privatisierung, S. 406; JAAg, Dezentralisierung und Priva-tisierung, S. 33; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rz. 6; TschAnnen, Privatisierung, S. 215; UebersAx, Privatisierung, S. 398.

103 Beispiele nach JAAg, Dezentralisierung und Privatisierung, S. 33, wobei im Fall der Staatskellerei überprüft werden müsste, ob der Kellereibetrieb überhaupt im Bereich staatlicher Aufgaben lag oder vielleicht lediglich der Mittelbeschaffung diente.

104 So AcherMAnn, Privatisierung, S. 28, der fälschlicherweise gar das Vorliegen einer staatlichen Aufgabe am öffentlichen Interesse festmacht; sowie JAAg, Dezentralisierung und Privatisierung, S. 33; und TschAnnen, Privatisierung, S. 215.

105 hAndschin/siegenThAler, Privatisierung, S. 406.

§ 2 Begriffserklärung

sein Ansatzpunkt und seine Wirkung: Betrifft er die Aufgabenverantwortung an sich oder lediglich die Modalitäten der Aufgabenerfüllung? Wird staatli-che Verantwortung abgetreten oder nicht?

Eine zweite Unterscheidung nimmt insbesondere TschAnnen vor, der den Aufgabenverzicht im Zusammenhang mit verschiedenen Privatisie-rungsgraden oder -intensitäten behandelt.106 Er bezeichnet den Aufgaben-verzicht als Vollprivatisierung im Bereich der Aufgabenprivatisierung. Dage-gen gebe es bloss teilweise AufgabenprivatisierunDage-gen, wenn der Staat eine Kontroll- oder Gewährleistungsverantwortung für die privatisierte Aufgabe behalte.107 Im Begriffsverständnis dieser Arbeit ist diese Unterscheidung unpräzis. Aufgabenprivatisierung heisst, dass eine bestimmte Leistung aus dem Bestand staatlicher Aufgaben entlassen wird. So gefasst gibt es keine vollständige oder teilweise Aufgabenprivatisierung. Möglich ist einzig, dass die Aufgabenprivatisierung nur eine bestimmte Leistung aus einem grösse-ren Aufgabenbereich umfasst (wenn etwa der Staat gewisse Postdienstleis-tungen nicht mehr erbringen muss, aber für andere weiterhin verantwort-lich bleibt; siehe sogleich c). Wenn hingegen der Staat für gewisse Aufgaben weiterhin eine wie auch immer geartete Verantwortung behält, sollte nicht von einer Aufgabenprivatisierung gesprochen werden.

Der Aufgabenverzicht ist rechtlich einfach zu beurteilen: Eine bestimmte Tätigkeit, zu deren Erbringung der Staat vorher verpflichtet war, wird Priva-ten überlassen. In diesem Zusammenhang stellen sich vorab politische Fra-gen: Wofür soll der Staat verantwortlich sein? Soll er gewisse Fälle definieren, in denen er die Verantwortung für die privatisierte Aufgabe wieder an sich nimmt? Die Antworten darauf sind nicht im Verfassungsrecht zu finden.

Verfassungsrechtlich irrelevant ist auch die Frage, ob es einen bestimm-baren Bereich unverzichtbarer Aufgaben gibt — sogenannte Kernaufgaben.108 Die Verfassung definiert den Aufgabenbestand109 des Staats, und ihre Revi-sion unterliegt keinen diesbezüglichen materiellen Grenzen.110 Ob der Staat

106 Vgl. TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rz. 5 f.;

TschAnnen, Privatisierung, S. 215.

107 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rz. 7.

108 Siehe für verschiedene Ansätze in dieser Diskussion: eichenberger, Staatsaufgaben, S. 113 f. (Unterscheidung zwischen unerlässlichen, gebotenen, wünschenswerten und ent-behrlichen Aufgaben); richli, Rechtsetzung, Rz. 18 (unverzichtbare Aufgaben); Ueber-sAx, Privatisierung, S. 395 f. (zwingende bzw. unausweichliche und fakultative Aufga-ben); WiegAnd, Beleihung Privater, S. 1135 f. (notwendige und nicht primär hoheitliche Aufgaben).

109 Für die Schweizerische Eidgenossenschaft insbesondere im Kapitel über die Zuständig-keiten der Bundesversammlung (Art. 54–135 BV).

110 Einzige materielle Schranke der Verfassungsrevision ist das zwingende Völkerrecht (Art. 193 Abs. 4 BV für die Totalrevision und Art. 194 Abs. 2 BV für die Teilrevision).

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gewisse Aufgaben zwingend erbringen muss, ist wiederum eine politische und rechtsphilosophische Frage, deren Beantwortung zugegebenermassen durch die Verfassung selbst vorgezeichnet ist: Ein Staat, der «die Unabhän-gigkeit und die Sicherheit des Landes»111 schützt, muss Landesverteidigung betreiben. Ein Staat, der «die Stärke des Volkes […] am Wohl der Schwachen»112 misst, wird Sozialversicherungen bestellen müssen.

c. Teilprivatisierung

Teilprivatisierungen lösen Teile aus einem grösseren Aufgabenbereich her-aus. Wenn etwa die Pflicht der Post, Briefsendungen zuzustellen, auf Briefe bis zu einem Kilogramm Gewicht eingeschränkt wird.113 Insoweit entfällt die Erfüllungspflicht, und die Tätigkeit «Zustellung von Briefen über 1 Kilo-gramm» verliert ihre Qualität als staatliche Aufgabe.

Der Aufgabenbegriff dieser Arbeit knüpft bei einzelnen Tätigkeiten an, die dem Staat verpflichtend zur Erfüllung übertragen sind (siehe vorne I.2).

Daher wird im Folgenden darauf verzichtet, Teilaufgaben oder Teilprivati-sierungen auszuscheiden.

Die Lehre bezeichnet mitunter auch andere Privatisierungserscheinun-gen als Teilprivatisierung, um zu kennzeichnen, dass nur ein Teil der staatli-chen Verantwortung abgegeben wird.114 Für diese Fälle ist der Begriff aber unnötig; es bestehen präzisere Begriffe für die verschiedenen Phänomene.

Oft handelt es sich um eine Erfüllungsprivatisierung in organisatorischer oder finanzieller Hinsicht. Die Teilprivatisierung füllt also keine dogmatische Lücke; der Begriff überlagert vielmehr andere Kategorien und verwirrt mehr, als er klärt.

d. Organisationsprivatisierung

Die Organisationsprivatisierung betrifft die Trägerschaft von Staatsaufga-ben, ohne die Staatlichkeit der Aufgabe an sich anzutasten. Entscheidend ist dabei die Rechtsform des Aufgabenträgers: Von einer Organisationsprivati-sierung ist auszugehen, wenn eine staatliche Aufgabe auf ein

Privatrechts-111 Art. 2 Abs. 1 BV. 112 Präambel BV.

113 So geschehen mit dem Postgesetz von 2010: Art. 14 PG i.V.m. Art. 29 Abs. 1 VPG. Vgl. die gewichtsmässig nicht beschränkte Zustellpflicht in Art. 3 Abs. 1 des früheren Postgeset-zes vom 30. April 1997 (AS 1997 2452).

114 hAndschin/siegenThAler, Privatisierung, S. 405, verstehen unter Teilprivatisierung die Möglichkeit Privater, sich als Minderheitsaktionäre an öffentlichen Unternehmen zu beteiligen; und auch UebersAx, Privatisierung, S. 398 («mit Mehr- oder Minderheits-beteiligung des Staates»).

§ 2 Begriffserklärung

subjekt übertragen wird.115 TschAnnen spezifiziert überdies, dass es sich dabei um ein staatlich beherrschtes Privatrechtssubjekt handeln muss.116

Diese Art der Privatisierung wird in dieser Arbeit als Erfüllungsprivati-sierung in organisatorischer Hinsicht behandelt, also als PrivatiErfüllungsprivati-sierung der Organisationsformen, wobei dieser Begriff weiter ist und jegliche Situation umfasst, in der eine Staatsaufgabe ausserhalb klassisch staatlicher Organisa-tionsformen erfüllt wird (siehe hinten § 4/II).

Der Begriff der Organisationsprivatisierung kann dazu verleiten, die staatliche Aufgabe als entscheidendes Kriterium für die Abgrenzung zwi-schen staatlicher und privater Sphäre aus dem Blick zu verlieren. biAggini etwa unterscheidet zwischen staatlicher und privatisierter Aufgabenerfül-lung je nach Rechtsnatur des Aufgabenträgers.117

Die Organisationsprivatisierung überschneidet sich teilweise mit der Dezentralisierung.118 Zur Abgrenzung der Dezentralisierung von der Priva-tisierung im Allgemeinen siehe hinten 6.a.

e. Finanzierungsprivatisierung

Die Finanzierungsprivatisierung meint ganz allgemein die Abkehr vom Ge-meinlastprinzip bei der Erbringung staatlicher Aufgaben. Gewöhnlich kommt der mit Steuereinnahmen geäufnete Staatshaushalt für die Kosten der Staatsaufgaben auf. Konkreter ausgedrückt handelt es sich um eine Fi-nanzierungsprivatisierung, wenn die Kosten einer staatlichen Leistung von den Leistungsbezügern getragen werden.119 Da die Finanzierungsprivatisie-rung Leistungserbringung und Leistungsbezahlung in einen direkten Zu-sammenhang setzt, wird sie auch als Äquivalenzfinanzierung bezeichnet.120 Die Finanzierungsprivatisierung betrifft das Ob der staatlichen Aufgaben-erfüllung in keiner Weise, sondern setzt bei einem bestimmten Aspekt des Wie an: Wie sollen die Kosten gedeckt werden, die durch die Erfüllung

staat-115 häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 1868; häner, Privati-sierung, S. 424; häsler, Geltung der Grundrechte, S. 46; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rz. 4. Auch als rechtlich-organisatorische Privati-sierung bezeichnet, Müller/Jenni, PrivatiPrivati-sierung, S. 1072.

116 TschAnnen, Privatisierung, S. 212; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Ver-waltungsrecht, § 11 Rz. 4.

117 biAggini, Rechtsstaatliche Anforderungen, S. 144–148, insb. Schaubild auf S. 146.

118 TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rz. 4.

119 dUbey/zUFFerey, Droit administratif général, Rz. 43; Frey, Drei Stossrichtungen, S. 343 f., häFelin/Müller/UhlMAnn, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rz. 1871; häner, Privatisie-rung, S. 425; häsler, Geltung der Grundrechte, S. 47; TschAnnen/ziMMerli/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 11 Rz. 4.

120 TschAnnen, Privatisierung, S. 213, m.w.H.

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licher Aufgaben entstehen?121 In der hier verwendeten Terminologie handelt es sich um Erfüllungsprivatisierung in finanzieller Hinsicht, also eine Priva-tisierung der Finanzierungsformen (siehe hinten § 4/IV).

f. Vermögensprivatisierung

Vermögensprivatisierung bedeutet den Verkauf staatlichen Eigentums an Private.122 Diese Form der Privatisierung wird auch als Eigentumsprivatisie-rung123 bezeichnet; in der französischsprachigen Schweiz ist sie als «privati-sation patrimoniale»124 bekannt.

Übliche Beispiele sind der Verkauf von Liegenschaften oder Unterneh-mensbeteiligungen. Die Vermögensprivatisierung erfolgt aus rein finanziellen Motiven und berührt weder den staatlichen Aufgabenbestand noch die Aufga-benerfüllung. Sachenrechtlich gesprochen handelt es sich bei vermögenspri-vatisierten Objekten zwingend um Finanzvermögen, da mit der Vermögens-privatisierung keine Sachen veräussert werden können, die der Erfüllung einer Staatsaufgabe dienen und somit Verwaltungsvermögen darstellen.125

Folglich lässt sich die Vermögensprivatisierung weder als Aufgaben- noch als Erfüllungsprivatisierung einordnen. Streng genommen ist es unan-gebracht, sie überhaupt als Privatisierung zu bezeichnen, da sie nichts mit Staatstätigkeit zu tun hat. Konsequenterweise sollte die Vermögensprivati-sierung einfach als Vermögensveräusserung bezeichnet werden.

Im Dokument ERFÜLLUNG STAATLICHER AUFGABEN (Seite 71-76)