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Staatsfreie Wirtschaft

Im Dokument ERFÜLLUNG STAATLICHER AUFGABEN (Seite 130-133)

III. Was sind keine Anforderungen?

4. Staatsfreie Wirtschaft

Die Wirtschaftsfreiheit umfasst neben individualrechtlichen Ansprüchen wie der Berufswahl- und Berufsausübungsfreiheit auch einen objektiv-recht-lichen Gehalt: Die Wirtschaftsfreiheit schützt als institutionelle Garantie die staatsfreie, von Marktmechanismen gesteuerte Wirtschaftsordnung (siehe vorne II.6.a.dd).433 Die privatwirtschaftliche Sphäre soll von staatlicher Inter-vention abgeschirmt werden, woraus sich ein leitendes Prinzip der «staats-freien Wirtschaft» ableitet.434Art. 94 Abs. 1 BV bietet einen konkreten Anknüp-fungspunkt für diese Forderung.

Die Beschreibungen dieses Prinzips legen nahe, dass es das staatliche Handeln in ähnlicher Weise bindet wie etwa die Erfordernisse einer gesetz-lichen Grundlage und der Verhältnismässigkeit: Jede staatliche Intervention, die sich auf die wirtschaftliche Tätigkeit oder Situation Privater auswirke, muss grundsatzkonform sein. Für grundsatzwidrige Eingriffe braucht es ge-mäss Art. 94 Abs. 4 BV eine eigene Verfassungsgrundlage oder ein kantonales Regalrecht. Nicht jede Beeinflussung des Wettbewerbs ist aber grundsatz-widrig; untersagt sind nur wettbewerbsverzerrende Eingriffe.435 Positiv for-muliert muss das staatliche Handeln wettbewerbsneutral sein. Dabei kommt es nicht auf die Auswirkungen, sondern die Intention an. Eingriffe in den Wettbewerb dürfen keine wirtschaftspolitischen Motive verfolgen. Solange andere Interessen vorliegen, sind auch wettbewerbsverzerrende Auswirkun-gen verfassungsmässig.

Diese Ermahnung zur grundsätzlichen Staatsfreiheit des Wirtschaftssys-tems darf allerdings nicht überschätzt werden:436 Nach dem Verständnis dieser Arbeit ist staatliche Wirtschaftstätigkeit keine zu vermeidende Anomalie,

son-433 Grundlegend dazu vAllender, Ordnungspolitischer Grundentscheid, passim; näher häFelin/hAller/Keller/ThUrnherr, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Rz. 627;

Kiener/Kälin/WyTTenbAch, Grundrechte, § 31 Rz. 9–14; KrähenMAnn, Privatwirt-schaftliche Tätigkeit, S. 160; rhinoW/biAggini/schMid/UhlMAnn, Öffentliches Wirt-schaftsrecht, § 4 Rz. 67–72; vogel, Staat als Marktteilnehmer, S. 106. Und BGE 138 I 378 E. 6.3.2 S. 388 f. mit einem umfassenden Literaturüberblick. Dieser Abschnitt ist teilweise angelehnt an eine frühere Publikation: elser, Funktioneller Staatsbegriff, S. 71–77.

434 Dazu ausführlich vogel, Staat als Marktteilnehmer, S. 107–120; noch auf Basis der aBV zudem KrähenMAnn, Privatwirtschaftliche Tätigkeit, S. 159–164; UhlMAnn, Gewinn-orientiertes Staatshandeln, S. 175–182.

435 Anstelle vieler, auch zum Folgenden: biAggini, Kommentar BV, Art. 94 Rz. 4 f.; Kiener/

Kälin/WyTTenbAch, Grundrechte, § 31 Rz. 55–64; rhinoW/biAggini/schMid/Uhl-MAnn, Öffentliches Wirtschaftsrecht, § 5 Rz. 92–99. Grundlegend zur Dogmatik dieses Grundsatzes reich, Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit, passim und insb. S. 429–490.

436 bAUMAnn, Wettbewerbsverzerrungen, Rz. 360. Indirekt dazu ermahnend auch Uhl-MAnn, Gewinnorientiertes Staatshandeln, S. 182.

§ 3 Verfassungsrechtliche Anforderungen

dern eine zu begründende Regelmässigkeit.437 In seiner ausführlichsten Be-wertung dieser Thematik — dem Glarnersach-Urteil von 2012 — arbeitet das Bundesgericht die umfangreiche Literatur zu dieser Frage auf und resümiert den überwiegenden Konsens, dass es dem Staat nicht grundsätzlich verboten ist, sich unternehmerisch zu betätigen.438 Dies entspreche «der gelebten Ver-fassungspraxis»439, und weiter sei mit dem Grundsatz der staatsfreien Wirt-schaftsordnung nach Art. 94 Abs. 1 BV «in erster Linie gemeint, dass die private Wirtschaft nicht ohne Rechtfertigung durch den Staat beschränkt wird»440.

Die reisserische Phrase des Bundesgerichts, es könne «von einem gewissen

‹Wettbewerb der Systeme› (zwischen Staats- und Privatunternehmen) gespro-chen werden»441, bedeutet aber nicht, dass die staatliche Aufgabenerfüllung die private Wirtschaftstätigkeit konkurrenzieren soll. Die Phrase ist gemünzt auf den Fall, dass ein staatlicher Akteur wettbewerbliche Tätigkeiten wie ein Privater ausübt und somit funktionell nicht mehr Staat ist. Diese wettbewerb-liche Tätigkeit erfolgt dann in Konkurrenz zu allen anderen Wettbewerbern.

Das Bundesgericht drückt damit also keine Privilegierung der unternehme-rischen Tätigkeit des Staats aus, sondern geht im Gegenteil davon aus, dass sich die nichtstaatlichen, privatwirtschaftlichen Tätigkeiten des Staats im Wett-bewerb behaupten müssen, um Bestand haben zu können.442 Der «Wettbe-werb der Systeme» geht also — in der Konzeption des Bundesgerichts — nicht zulasten der Privaten, sondern fordert vom Staat, sich mit wirtschaftlich lohnendem Handeln unter Konkurrenzbedingungen zu bewähren.443

Dass staatliche Akteure ausserhalb ihres Aufgabenbereichs auftreten und private Anbieter konkurrenzieren, ist also keineswegs die Ausnahme.

Die Rechtsordnung sieht dies geradezu vor und stellt es lediglich unter eine Rechtfertigungspflicht. In der Literatur wird kritisiert, dies «verkehr[e] den Grundsatz einer staatsfreien Wirtschaft ins Gegenteil»444 und das Bundesge-richt schütze damit «primär die unternehmerische Freiheit staatlicher

Unter-437 Zur grundsätzlichen Zulässigkeit unter Rechtfertigungsvorbehalt auch bAUMAnn, Wett-bewerbsverzerrungen, Rz. 32, mit zahlreichen Hinweisen.

438 Siehe die zahlreichen Hinweise in BGE 138 I 378 E. 6.3.2 S. 388 f.

439 BGE 138 I 378 E. 6.3.3 S. 389. Als Argumente angeführt werden «gewerbliche Betriebe»

wie öffentliche Spitäler, Gastbetriebe, Weingüter etc. (S. 389 f.) und neuere Bundesge-setze, die vorsehen, «dass staatliche Unternehmen neben einem allfälligen Monopol- oder Service-public-Bereich in Konkurrenz zur Privatwirtschaft weitere Tätigkeiten ausüben können» (S. 390).

440 BGE 138 I 378 E. 6.3.1 S. 387.

441 BGE 138 I 378 E. 8.5 S. 396.

442 Ähnlich schon UhlMAnn, Gewinnorientiertes Staatshandeln, S. 268.

443 Vgl. empirische Hinweise zur Effizienz privater und staatlicher Akteure unter Wettbe-werbsbedingungen bei bAUMAnn, Wettbewerbsverzerrungen, Rz. 165.

444 heTTich, Bemerkungen zu BGE 138 I 378, S. 1470.

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nehmen […] (statt jene der privaten Unternehmen)»445. Diese Kritik bedau-ert, was verfassungsrechtliche Tatsache ist: Der Grundsatz der staatsfreien Wirtschaft bindet den Staat nicht zurück, er ist eben keine verfassungsrecht-liche Anforderung an staatverfassungsrecht-liches Handeln.446 Der Staat ist hingegen durch seine übrigen Anforderungen begrenzt. Das Augenmerk der Kritik sollte also nicht auf einer «Durchbrechung» dieses Grundsatzes liegen, sondern auf der Einhaltung der übrigen Kriterien.

Und dort zeigt sich, dass der Fokus auf wettbewerbsneutrales Verhalten die Anforderungen geradezu herabsetzt; wiederum vorexerziert im Glarn-ersach-Urteil: «Insbesondere im Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeit des Staates kann die gesetzliche Grundlage nicht zu detailliert sein, um die unter-nehmerische Tätigkeit nicht zu behindern»447; vielmehr reiche es aus, wenn das Gesetz in Befolgung des sogenannten Spezialitätsprinzips «den Sach-bereich umschreib[t], in welchem die Tätigkeit erfolgen soll»448 (siehe zum Spezialitätsprinzip hinten § 6/II.1.c). Das öffentliche Interesse wird sodann nicht einmal mehr gesondert geprüft. Schliesslich belege die gesetzliche Grundlage als Abschluss eines demokratischen Prozesses, dass eine be-stimmte Tätigkeit als im öffentlichen Interesse eingestuft worden sei.449 Auch eine eigentliche Verhältnismässigkeitsprüfung entfällt. Der Staat darf in den Wettbewerb eingreifen, er darf diesen auch verzerren; er darf ihn nur nicht gerade ausschalten.450 Das ist eine schwache Grenze, die nur eigentliche Plan-wirtschaft verbietet. Diese gelockerten Standards erklären sich teilweise aus prozessualen Gründen: Die Prüfung erfolgte nach Art. 5 BV, nicht nach Art. 36 BV, weshalb sich das Bundesgericht gegenüber kantonalem Recht auf eine Willkürprüfung beschränkte.451

Das Bundesgericht ist nicht dafür zu kritisieren, dass es staatliche Wirt-schaftstätigkeit grundsätzlich für zulässig hält, sondern dass es die daran gestellten Anforderungen derart zurückhaltend anwendet.452

Eines darf aber nicht vergessen werden: Sofern der Staat im Wettbewerbs-bereich Aufgaben wahrnimmt, zu denen das Gesetz ihn nicht verpflichtet,

445 biAggini, Bemerkungen zum Glarnersach-Urteil, S. 672.

446 Ähnlich auch bAUMAnn, Wettbewerbsverzerrungen, Rz. 48.

447 BGE 138 I 378 E. 7.2 S. 392.

448 BGE 138 I 378 E. 7.2 S. 392. Zu den herabgesetzten Anforderungen an die gesetzliche Grundlage in diesem Fall auch biAggini, Bemerkungen zum Glarnersach-Urteil, S. 671;

KrAeMer/sTöcKli, Grenzenlose Staatswirtschaft?, S. 30 f., 35.

449 BGE 138 I 378 E. 8.3 S. 394.

450 BGE 138 I 378 E. 8.7 S. 397 f.

451 KrAeMer/sTöcKli, Grenzenlose Staatswirtschaft?, S. 36.

452 biAggini, Kommentar BV, Art. 94 Rz. 6a. In diese Richtung auch KrAeMer/sTöcKli, Grenzenlose Staatswirtschaft?, S. 35.

§ 3 Verfassungsrechtliche Anforderungen

ist er funktionell nicht mehr Staat.453 Er ist lediglich noch ein staatlicher Akteur im organisatorischen Sinn. Den drei Anforderungen Gesetzmässigkeit, öffentliches Interesse und Verhältnismässigkeit ist der Markteintritt des Staats unterworfen. Bei der marktwirtschaftlichen Tätigkeit selbst untersteht der funktionelle Nicht-Staat denselben Regeln wie ein Privater.

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