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Ursachen und Wirkungen bei der Entfaltung des Asylproblems

Asyl: Die Karriere eines politischen Konflikts

3. Ursachen und Wirkungen bei der Entfaltung des Asylproblems

Die oben präsentierten Daten deuten zwar stellenweise auf die Möglichkeit einer bestimm­

ten kausalen Interpretation hin, können uns aber nicht mehr als impressionistische Einblicke in die Kausalbeziehungen zwischen den einzelnen Elementen der Karriere des Asylproblems bieten. Auch ein optischer Vergleich der in den Abbildungen wiedergegebenen Entwick­

lungsverläufe von Asylbewerberzahlen, Asyldebatte, Gewalt gegen Asylbewerber und asyl­

politischen Entscheidungen hilft uns nicht viel weiter. Daß diese Elemente dennoch eng m it­

einander verbunden sind, wird allein schon aus den großen Ähnlichkeiten der Kurvenverläufe klar; über die Richtung der Beziehungen, die relative Bedeutung der einzelnen Variablen und damit über unsere Ausgangsfrage nach der Erklärungskraft der beiden theoretischen Modelle lassen sich jedoch keine verläßlichen Aussagen machen.

Um diese Fragen zu beantworten, wurden die Daten mit Hilfe einer Serie von multivariaten OLS-Regressionen analysiert. Dabei wurde jeweils eine der vier Variablen zum Zeitpunkt t = 0 als abhängige und die anderen drei Variablen mit einer zeitlichen Rückverschiebung als erklärende Variablen genommen. Aufgrund einer Inspektion der Kreuzkorrelationsfunktionen

für die verschiedenen Variablenpaare wurden für die Debatte und die Gewalt jeweils die Vormonatswerte (lag = -1) und für die Asylbewerberzahlen die zwei Monate zurückliegenden Werte (lag = -2) in die Analysen einbezogen.17 Die Asylbewerberzahlen wurden darüber hin­

aus zeitlich differenziert, um Trendeffekte, die die Kausalbeziehungen mit anderen Variablen verzerren können, auszuschließen. Außerdem ergaben sich für die Differenzen stärkere Kreuzkorrelationen als für die absoluten Zahlen. Im Klartext heißt dies, daß die Koeffizienten für Asylbewerberzahlen den Effekt der Zunahme (oder Abnahme) der für den vorletzten Mo­

nat ermittelten Asylbewerberzahlen wiedergeben. Bei den anderen Variablen müssen die Koeffizienten als Effekt des absoluten Niveaus der betreffenden Variable im Vormonat gele­

sen werden.18

Bei Zeitreihenanalysen muß außerdem immer berücksichtigt werden, daß die zeitliche Entwicklung vieler gesellschaftlicher Phänomene von einer mehr oder weniger starken Eigen­

dynamik gekennzeichnet ist. So führen Stellungnahmen zu einem politischen Issue oft zu Spi­

ralen von gegenseitigen Reaktionen, Entscheidungen zu Gegenentscheidungen anderer Akteu­

re und Gewaltakte zu Nachahmungstaten. Um diese Eigendynamik zu kontrollieren, wurde in jeder Gleichung auch der Vormonatswert der abhängigen Variable aufgenommen. Die Werte dieser Koeffizienten geben also das Ausmaß an, in dem die zeitliche Entwicklung einer Va­

riable auf ihre Eigendynamik zurückzuftihren ist.19

Schließlich wurden aus theoretischen Gründen nur diejenigen Äußerungen und Entschei­

dungen in die Analyse einbezogen, die auf eine restriktivere Asylpolitik zielten (oder in dieser Hinsicht ambivalent waren). Falls es z. B. einen Effekt der Gewalt auf die Debatte geben wür­

de, wäre es plausibel, daß dieser Effekt vor allem zu einer Zunahme von Äußerungen führen würde, die auf eine restriktivere Asylpolitik zielen. Umgekehrt ist ein Effekt von negativen Äußerungen über Asylbewerber auf die Gewalt plausibler als ein Effekt von positiven Äuße­

rungen.20

Tabelle 5: Multivariate Regressionsanalyse der monatlichen Entwicklung der verschiede­

nen Aspekte der Karriere des Asylproblems (BETA-Koeffizienten; Januar 1990 bis August 1994; N = 56)

Tabelle 5 zeigt die Ergebnisse der Analysen. Von den vier Variablen ist nur die Gewalt ge­

gen Asylbewerber von einer starken Eigendynamik, die nicht auf den Einfluß anderer Varia­

blen zurückzuführen ist, gekennzeichnet. Dies stimmt überein mit den Befunden anderer Stu­

dien, die auf die Bedeutung von Nachahmungstaten - vor allem nach Schlüsselereignissen wie den Krawallen in Hoyerswerda und Rostock - hingewiesen haben (Brosius/Esser 1995). Als zweitstärkster Faktor trägt die Entwicklung der Asylbewerberzahlen zur Erklärung der Gewal­

tentwicklung bei. Interessant ist darüber hinaus der negative Effekt, den restriktive asylpoliti­

sche Entscheidungen auf diese Gewaltentwicklung ausüben. Obwohl in der öffentlichen Dis­

kussion oft anders behauptet, hat es also den Anschein, daß solche Entscheidungen der Gewalt keinen weiteren Auftrieb gegeben, sondern vielmehr den Gewalttätern den Wind aus den Se­

geln genommen haben. Schließlich gibt es noch einen - allerdings nicht sehr starken - Effekt der politischen Debatte auf die Gewalt. Die Kombination der Effekte für die Debatte und für Entscheidungen deutet darauf hin, daß gerade die politische Handlungsblockade, die lange Zeit mit der Diskussion um eine Grundgesetzänderung verbunden war, gravierende Auswir­

kungen auf die Entwicklung der Gewalt gehabt haben mag. Die Befunde lassen darauf schlie­

ßen, daß - hätte die Debatte schnell zu entsprechenden Entscheidungen geführt - die beiden

blemlage wurde die Intensität der politischen Forderungen nach einer restriktiveren Asylpoli­

tik aber von der Entwicklung der Gewalt diktiert. Obwohl selbst verbal kaum an der Debatte beteiligt, ist es einer kleinen Minderheit von Gewalttätern also weitgehend gelungen, die poli­

tische Agenda zu beeinflussen.21

Diese für das Funktionieren der Demokratie nicht gerade positive Schlußfolgerung wird noch durch die Tatsache unterstrichen, daß restriktive Entscheidungen in der Asylpolitik in einem noch viel stärkeren Maß von der Entwicklung der Gewalt beeinflußt wurden. Von der aktuellen Problemlage geht kein signifikanter Einfluß auf den Entscheidungsprozeß aus. Noch bemerkenswerter ist, daß es ebenfalls keinen Effekt der Debatte auf den zeitlichen V erlauf des Entscheidungsprozesses gibt. Den rechtsradikalen Gewalttätern ist es also nicht nur gelungen, die politische Debatte zu beeinflussen; sie waren sogar erfolgreicher als etablierte politische Akteure, wenn es auf eine Einflußnahme auf den Entscheidungsprozeß ankam. Schließlich zeigt der negative Effekt von restriktiven Entscheidungen auf die Zahl der Asylanträge, daß - wie oben schon vermutet wurde - die ergriffenen Maßnahmen zur Begrenzung der Asylbe­

werberzahlen auch tatsächlich Wirkung gezeigt haben.

Im Licht der beiden in der Einleitung skizzierten idealtypischen Modelle von Problemkar­

rieren lassen sich diese Befunde am ehesten als eine Bestätigung des "Bottom-up"-Modells deuten. Proteste in Gestalt von Gewalttaten gegen Asylbewerber haben nicht nur einen starken Einfluß au f die politische Agenda ausgeübt, sondern darüber hinaus auch direkt den Entschei­

dungsprozeß beeinflußt. Neben diesem dominanten Trend gibt es aber auch Befunde, die eher zum "Top-down"-Modell gehören. Die Auswirkung der Debatte auf die Gewaltentwicklung ist zwar schwächer als der umgekehrte Effekt, deutet aber trotzdem darauf hin, daß die rechts­

radikale Gewalt gegen Asylbewerber sich nicht ganz von alleine entwickelt hat, sondern von einer günstigen Gelegenheitsstruktur in Form einer Problematisierung des Asylthemas durch die etablierte Politik stimuliert wurde. Ein zweites Element, das eher dem "Top-down"- Modell entspricht, ist die negative Rückwirkung asylpolitischer Entscheidungen auf die Ent­

wicklung der Gewalt. Anders als es in den beiden idealtypischen Modellen hypothetisiert wurde, haben restriktive Entscheidungen nicht nur indirekt, über eine Besserung der Problem­

lage, sondern auch direkt zu einer Abnahme der Protestintensität geführt. Die Perzeption, daß

"etwas getan wird", um ein Problem in den Griff zu bekommen, hat also einen mindestens ebenso großen demobilisierenden Effekt wie die tatsächliche Abnahme der Problemintensität.

Gerade die Doppeldeutigkeit der Ergebnisse im Hinblick auf die Kausalbeziehungen zwi­

schen der politischen Debatte und den gewalttätigen Protesten macht eine klare Aussage zu­

gunsten des einen oder anderen theoretischen Modells schwierig. Bei der bisherigen Analyse wurde aber davon ausgegangen, daß sich die Kausalstruktur im V erlauf der Entfaltung des Asylthemas nicht geändert hat. Ob diese Annahme gerechtfertigt ist, läßt sich jedoch bezwei­

feln. Studien über die Entfaltung sozialer Bewegungen haben z. B. gezeigt, daß durch politi­

sche Eliten geschaffene Gelegenheitsstrukturen vor allem in der Entstehungsphase von Pro­

testwellen von entscheidender Relevanz sind. Haben Protestakteure sich aber erst einmal den Durchbruch verschafft, dann entfaltet sich eine Dynamik von Reaktionen und Gegenreaktio­

nen, in der auch starke Effekte in die umgekehrte Richtung, von Protesten auf das politische System, gehen (Koopmans 1993; Tarrow 1994). Für Problemkarrieren wäre ein ähnlicher V erlauf denkbar, bei dem politische Eliten zunächst die entscheidende Rolle beim Übergang eines Problems von einem latenten zu einem manifesten Issue auf der politischen Agenda

spielen, in späteren Phasen der Entwicklung des Themas dann aber die Initiative mit mobili­

sierten Protestakteuren teilen oder sogar an diese abgeben müssen. A uf ein solches Phasen­

modell wird für den hier untersuchten Fall auch durch die Ergebnisse einer früheren Analyse der Zusammenhänge zwischen der Asyldebatte und rechtsradikaler Gewalt hingedeutet (Koopmans 1995, S. 28). Das gleiche gilt für die bereits oben erwähnte Tatsache, daß das Asylthema erst relativ spät vom rechtsradikalen Lager aufgegriffen wurde.

Um die Hypothese eines solchen Phasenmodells zu überprüfen, wurden die Regressionsa­

nalysen für zwei Zeiträume getrennt durchgeführt. Als Schnittpunkt zwischen der Entste- hungs- und der manifesten Phase des Asylthemas wurden die Ereignisse vom 17. bis 22. Sep­

tember 1991 in Hoyerswerda genommen, in deren Folge die Asyldebatte und die Gewalt ge­

gen Asylbewerber zu den dominanten Themen in der deutschen Politik und in den Medien wurden (vgl. Abbildungen 4 und 5). Dies wird auch durch die Ergebnisse von Bevölkerungs­

umfragen bestätigt. Politbarometer-Daten zeigen, daß in Westdeutschland die Zahl der Be­

fragten, die das Asylthema als "das gegenwärtig wichtigste Problem in Deutschland" betrach­

teten, innerhalb kurzer Zeit von winzigen 1,6 Prozent im Juni 1991 auf 42 Prozent im Oktober anstieg; damit war das Asylthema zum wichtigsten Problem für die Westdeutschen geworden und blieb es auch mehr als ein Jahr lang.22

Abbildung 7: Kausale Beziehungen in der Karriere des Asylproblems bis Hoyerswerda

Anmerkungen:

BETA-Koeffizienten Januar 1990 bis September 1991 ( * p < .10, *• p < .05, ” • p <.01);

alle Variablen als abhängige Variable t = 0; als unabhängige Variable t = -1, außer Asylbcwerberzahlen t = -2.

Abbildung 8: Kausale Beziehungen in der Karriere des Asylproblems nach Hoyerswerda

Anmerkungen:

BETA-Kosffizienten Oktober 1991 bis August 1994 (* p < .10, ** p < .05, *** p < 0 1 );

alle Variablen als abhängige Variable t = 0; als unabhängige Variable t = -1, außer Asylbewerberzahlen t = -2.

Die Abbildungen 7 und 8 stellen die Ergebnisse der Analysen für die beiden Zeiträume graphisch dar.23 Den Erwartungen entsprechend zeigt sich, daß die politische Elite eine zen­

trale Rolle in der Enstehungsphase des Asylproblems gespielt hat. Die politische Debatte übte in dieser Phase einen sehr starken Effekt auf die Gewaltentwicklung aus. Da es, wie Abbil­

dung 5 zeigt, vor August 1991 nur vereinzelt Gewalttaten gegen Asylbewerber gegeben hat, ist dieser Effekt vor allem auf die Entwicklungen im Sommer 1991, die mit den Krawallen in Hoyerswerda ihren Höhepunkt erreichten, zurückzuführen. Daß die politische Elite die öf­

fentliche Debatte bis zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend im Griff hatte, zeigt sich auch daran, daß die Asyldebatte als einziger Faktor einen starken Einfluß auf den Entscheidungs­

prozeß ausübte. Sehr bemerkenswert ist weiter, daß in dieser Phase nur ein sehr schwacher (und nicht signifikanter) Einfluß von den Asylbewerberzahlen auf die Debatte und die Gewalt ausging. Dieser Befund bestärkt die in der Literatur über soziale Probleme vertretene kon­

struktivistische Perspektive, die betont, daß soziale Probleme weitgehend im diskursiven Pro­

zeß generiert werden und manchmal nur marginal auf die Entwicklung "objektiver" Problem­

lagen zurückzuführen sind.24 Schließlich finden wir auch in der Entstehungsphase bereits die negative Rückwirkung restriktiver asylpolitischer Entscheidungen au f das Gewaltniveau. Da

es in diesem Zeitraum noch keinen Effekt der Entscheidungen auf die Asylbewerberzahlen gab, verweist dies noch einmal auf die große Bedeutung von Entscheidungen als symbolische Lösung eines Problems.

Der Effekt von Entscheidungen auf die Gewalt ändert sich - sowohl was ihre Richtung als auch ihre Stärke anbelangt - im Zeitraum nach Hoyerswerda nicht. Hinsichtlich der anderen Kausalbeziehungen ändern sich die Befunde aber von einem konstruktivistischen "Top- down"-Muster im ersten Zeitraum zu einem dem "Bottom-up"-Modell weitgehend entspre­

chenden Muster im zweiten Zeitraum. Jetzt finden wir deutliche Effekte der Asylbewerberzah­

len auf die Debatte und die Gewalt. Diese stärker gewordene kausale Bedeutung der Asylbe­

werberzahlen ist wahrscheinlich nicht nur auf einen wirklichen Anstieg der mit der Zustrom von Asylbewerbern verbundenen Probleme zurückzuführen. Mindestens ebenso wichtig mag gewesen sein, daß mit dem explosionsartigen Anstieg der Gewalt und der Eskalation der Asyldebatte das Problem einfach deutlicher sichtbar gemacht wurde (oder von den meisten Bürgern sogar erst als "Problem" erkannt wurde). Zu dieser größeren Sichtbarkeit trug weiter bei, daß die monatliche Veröffentlichung des neuesten Standes der Zahl von Asylanträgen zu einem festen und oft prominent plazierten Element der Medienberichterstattung wurde.

Mit einer Ausnahme spiegeln die Befunde für den zweiten Zeitraum auch weiter die Er­

gebnisse für die Gesamtperiode. Diese Ausnahme betrifft die Wirkung der Debatte auf die Gewalt, die im zweiten Zeitraum keinen signifikanten Wert mehr erreicht. Nach Hoyerswerda wurde der weitere Verlauf des Asylproblems also kaum mehr von der politischen Debatte, sondern weitgehend von der Gewaltentwicklung determiniert. Nur über klare Entscheidungen, für die Gewaltwellen übrigens wieder den entscheidenden Anstoß geben mußten, konnten die politischen Eliten der durch die Gewalt angetriebenen Eskalationsdynamik entgegenwirken.25

4. Schluß

Mit den Ergebnissen der verschiedenen Analysen läßt sich jetzt die am Anfang erhobene Frage nach der Erklärungskraft der beiden Modelle des Karriereverlaufs von politischen The­

men für den untersuchten Fall zusammenfassend beantworten.26 Die Auswertung der einzel­

nen Variablen ergab mehrere Hinweise, die mit dem "Top-down"-Modell, das die Rolle poli­

tischer Eliten in der Generierung und Definition von sozialen Problemen betont, überein­

stimmten. So waren soziale Bewegungen und Interessengruppen, vor allem auf seiten der Be­

fürworter von Asylrechtseinschränkungen, kaum in die öffentliche Debatte involviert. Statt dessen wurde die Debatte durch politische Eliten, allen voran die Bundes- und Länderregie­

rungen sowie die Bundesparteien, dominiert. Die Behauptung, daß mit den Forderungen zur Einschränkung des Asylrechts auf einen starken Druck aus der Bevölkerung und den Kom­

munen reagiert wurde, läßt sich empirisch nicht bestätigen. Auch die rechtsradikale Gewalt richtete sich erst zu einem relativ späten Zeitpunkt, als das Thema schon längst von Politikern aufgegriffen worden war, auf die Asylbewerber.

Ein weiterer Hinweis, der die Definitionsmacht politischer Eliten zeigt, ergab sich aus dem Vergleich der Karrieren des Aussiedler- und des Asylthemas. Obwohl beide Einwanderungs­

wellen quantitativ und qualitativ genauso "problematisch" waren, wurden die Aussiedler nie zu einem bedeutsamen Streitpunkt. Ganz anders als beim Asylthema wurde das Aussiedler- (non-)Issue unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit mit einer unspektakulären (aber wirksamen) Verfahrensänderung unter Kontrolle gebracht. Dementsprechend waren die Aus­

siedler auch nur in einem sehr geringen Maße von rechtsradikaler Gewalt betroffen.

Entgegen diesen Hinweisen brachte eine erste multivariate Analyse nur geringe Unterstüt­

zung für das "Top-down"-Modell. Der starke Effekt der Gewalt auf die politische Debatte deutete eher auf eine Problemgenerierung von unten hin. Eine getrennte Analyse für den Zeit­

raum bis September 1991, in dem das Asylproblem zu einem zentralen politischen Issue her­

anwuchs, zeigte aber, daß in dieser Periode die von der politischen Elite geführte Debatte in der Tat eine initiierende Rolle spielte und eine starke Wirkung auf die Gewaltentwicklung ausübte. Außerdem zeigte sich hier, daß die Karriere des Asylproblems in der Anfangsphase nicht signifikant mit der realen Entwicklung der Asylbewerberzahlen zusammenhing, was mit der in der jüngsten Literatur vertretenen These eines hohen Maßes an Konstruiertheit moder­

ner sozialer Probleme übereinstimmt.27

Nach den Ereignissen in Hoyerswerda wurde die weitere Entwicklung der Karriere des Asylthemas aber in einem bedauerlich hohen Ausmaß vom Rhythmus der Gewalttaten einer kleinen rechtsradikalen Minderheit diktiert. Nicht nur folgte die politische Debatte jetzt den Gewalttaten; in überraschend starkem Maße wurde auch der Entscheidungsprozeß von der Entwicklung der Gewalt beeinflußt. Wie die Ergebnisse zeigten, konnten die politischen Eli­

ten nur durch Entscheidungen, die die Rechte von Asylbewerbern einschränkten, die Eskalati­

onsspirale von Debatte und Gewalt durchbrechen.28 Da solche Entscheidungen aber lange auf sich warten ließen und zugleich der problematische Charakter der Asylfrage in der Debatte immer wieder betont wurde, waren für einen längeren Zeitraum optimale Bedingungen für eine Mobilisierung der radikalen Rechten um das Asylthema gegeben.

Abschließend muß betont werden, daß daraus nicht gefolgert werden kann, die politische Debatte sei eine hinreichende Ursache für die Gewalt gegen Asylbewerber gewesen. Auch vor dem Sommer von 1991 war die radikale Rechte schon im Aufmarsch, nur hatte sie das Asylthema noch nicht für sich "entdeckt". Ihre Gewalt blieb statt dessen weitgehend auf ri­

tuelle Auseinandersetzungen mit der autonomen Szene beschränkt oder entbehrte sogar jeder politischen Stoßrichtung und äußerte sich als Jugend- oder Fußballrandale. Für die Welle der Gewalt gegen Asylbewerber und Ausländer war wahrscheinlich beides notwendig: eine be­

reits mobilisierungsfähige rechte Jugendsubkultur, die noch auf der Suche nach einem me­

dienwirksamen Thema war, das mit einer gewissen Sympathie in der Politik und der Bevölke­

rung rechnen konnte, und eine polarisierte politische Debatte zwischen kompromißunfahigen Kontrahenten, die der radikalen Rechten ein solches Thema verschaffte.

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Anmerkungen

1 Beispielsweise Gusfield (1981), Schneider (1985) und Hilgartner/Bosk (1988).

2 Beispielsweise Tilly (1978), McAdam/McCarthy/Zald (1988) und Tarrow (1994).

3 Beispielsweise Crenson (1971), Cobb/Elder (1983), Kingdon (1984) und Riker (1993).

Als verwandte theoretische Perspektiven wären zudem die "Agenda-Setting"-Forschung in den Kommunikationswissenschaften zu erwähnen, die sich vor allem auf die Rolle der Medi­

en bei der Definition von gesellschaftlichen Themen konzentriert (vgl. Rogers/Dearing 1988;

Pfetsch 1986), sowie die politikwissenschaftliche "Responsivitätsforschung", die sich auf die

"folgende" oder "führende" Rolle des Handelns politischer Eliten in bezug au f die Bevölke­

rungsmeinung richtet (vgl. Brettschneider 1995).

4 Diese Zweiteilung entspricht den theoretischen Gegensätzen zwischen

4 Diese Zweiteilung entspricht den theoretischen Gegensätzen zwischen